Von Nicoleta Bitu
Wir Sinti und Roma sind zunächst einmal menschliche Wesen, wie alle anderen menschlichen Wesen auch. Leider wurden wir in der Vergangenheit aber nicht immer als solche behandelt – und werden das auch heute noch nicht.
Forschungen auf den Gebieten von Linguistik, Anthropologie und Bevölkerungsgenetik haben dazu geführt, dass allmählich anerkannt wird, was lange nur diskutiert wurde: nämlich dass die Wurzeln von Sinti und Roma in Indien liegen. Der genaue Grund aber, warum wir Zentral- und Nordostindien verlassen haben, ist nach wie vor ungeklärt und daher Gegenstand weiterer Nachforschungen. [1] Unsere Sprache, das Romanes, das zur Familie der indoarischen Sprachen gehört, war und ist Ausdruck sowohl unserer Herkunft als auch unserer Migrationsroute, denn sie trägt Anteile der Sprachen all jener Völker in sich, mit denen wir auf dem Weg in Kontakt kamen, in präeuropäischer Zeit etwa mit den Griech_innen, den Perser_innen oder den Armenier_innen.
Sollte also irgendjemand bezweifeln, ob wir Europäer_innen sind, so findet sich die Antwort darauf in der Geschichte: Es ist wahrscheinlich, dass wir uns bereits vor 1200 [2] auf dem Boden des Byzantinischen Reichs – auf dem Gebiet des heutigen Griechenlands – bewegten, spätestens ab 1400 aber ist unsere Anwesenheit in Europa schriftlich eindeutig belegt. Aus dieser Zeit stammen übrigens auch die ersten Aufzeichnungen über Verschleppungen und Vertreibungen. Um 1450 waren wir schließlich in ganz Europa anzutreffen.
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wurden wir in den Fürstentümern Walachei und Moldau (im heutigen Rumänien) [3] in eine fünf Jahrhunderte währende Sklaverei und Gefangenschaft gezwungen, die mit der der Afroamerikaner_innen in den USA vergleichbar ist.
»Zigeuner sollen nur als Sklaven zur Welt kommen. Jedes Kind einer Sklavenmutter soll selbst ein Sklave werden.«
(Der Kodex der Walachei zu Beginn des 19. Jahrhunderts)
Wir gehörten dem Prinzen (als »Staatssklav_innen«), den Klöstern und den boeri (wie die Aristokratie der damaligen Zeit hieß). Die Sklavenhalter übten vollständige Kontrolle über die Leben unserer Vorfahren aus, von der Geburt über die Heirat bis zum Tode – ja, manchmal hatten sie bei jungen Frauen sogar das Recht der ersten Nacht.
Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts entstand unter jungen Intellektuellen in den Donaumonarchien und beeinflusst von anderen europäischen Revolutionen der Zeit eine Bewegung zur Aufhebung der Sklaverei. Dies führte zu unserer Befreiung. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass der Großteil der privaten Sklavenhalter uns nur unter der Zusicherung staatlicher Kompensationen aus der Sklaverei entließ. Nachdem die ehemaligen Sklav_innen nun frei waren, begann die Arbeit an einem Anliegen, das noch heute noch von Bedeutung ist: unsere Integration ins gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben Rumäniens. Rückstände der Sklaverei überdauerten in den Erinnerungen der früheren Herren ebenso wie in den der ehemaligen Sklav_innen. Die Ära der Sklaverei bestimmt das Verhältnis zwischen den Nachkommen dieser zwei sozialen Gruppen bis zum heutigen Tag.
Unser Schicksal in Zentraleuropa war von unserer Ankunft auf dem Kontinent bis ins 18. Jahrhundert hinein stark von den jeweiligen politischen Entwicklungen abhängig sowie von den Konflikten zwischen dem Osmanischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich. So waren wir beispielsweise in den ungarischen Gebieten bis 1683, dem Jahr der Schlacht um Wien, mit zwei verschiedenen Einstellungen konfrontiert: Unter osmanischer Herrschaft wurden unsere kunsthandwerklichen und musikalischen Talente wertgeschätzt, während wir in den von den Habsburger_innen kontrollierten Territorien gerade einmal toleriert wurden und uns mit bigotter Assimilationspolitik auseinandersetzen mussten. In einigen Gebieten entlang der westungarischen Grenze fanden beide Formen der Politik zeitgleich Anwendung. Unser Leben wurde dadurch noch komplizierter.
Dass wir Steuern zahlten, als Schmied arbeiteten oder im Militär dienten, verhinderte nicht, dass wir zu bestimmten Zeiten an die Ränder der Städte gedrängt, vertrieben oder verbannt wurden. Diejenigen von uns, die von den Herrschenden Geleitbriefe ausgestellt bekommen hatten, durften in den zentral- und westeuropäischen Ländern bleiben. Aber selbst diese spärlichen Rechte wurden uns nach und nach entzogen. Seit Beginn des 16. Jahrhunderts wurden immer radikalere Gesetze erlassen. Die Verfolgung wurde dadurch legalisiert und immer organisierter – ein Prozess, der bis hin zur Ermordung führte. Zuletzt wurden auch Spanien und das Heilige Römische Reich von diesen Phänomenen erfasst. Dort begann diese Entwicklung erst im 18. Jahrhundert. Stets aber lässt sich feststellen, dass man es dabei mit frühen Formen des Antiziganismus zu tun hatte, wie man ihn überall in Europa antraf.
Im Russischen Reich wurden wir in der Zwischenzeit jedoch als gleichberechtigte Bürger_innen mit vollen Bürgerrechten anerkannt.[4] Wir versuchten, unseren Bürgerpflichten nachzukommen. Aus heutiger Sicht ließe sich sagen, dass damals zum ersten Mal »Mainstreaming-Maßnahmen« für uns Sinti und Roma umgesetzt wurden. Wann immer im Russischen Reich »spezielle« Gesetze für Sinti und Roma erlassen wurden, so sollten sie stets gegen den Ausschluss aus der Gesellschaft ankämpfen, ohne Assimilationsdruck auszuüben.
Spanien verfolgte dagegen eine Assimilationspolitik, Portugal und später das Vereinigte Königreich deportierten uns nach Nord- und Südamerika. Das ist einer der Gründe, warum wir auch dort anzutreffen sind. Ein anderer Grund für unsere Anwesenheit auf dem amerikanischen Kontinent und in Australien ist das, was Historiker_innen die »zweite Welle« der Migration nennen. Sie fand Mitte des 19. Jahrhunderts statt. Infolge der sozialen Veränderungen und insbesondere nach dem Ende der Sklaverei in den Fürstentümern Walachei und Moldau betraf diese Welle vor allem Migrant_innen aus Zentral- und Südosteuropa.
In Österreichisch-Ungarn wurden Sinti und Roma zwischen 1850 und 1938 über Gesetze und Erlässe immer stärker eingeschränkt. Wir wurden in den Möglichkeiten, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, beschnitten, wir wurden gezwungen, uns niederzulassen, und es wurde uns verboten, bestimmte Berufe auszuüben. Die Wirtschaftskrise und die nationalsozialistische Propaganda taten ihr übriges, die Situation zu verschärfen, bis der Nationalsozialismus die »Zigeunerfrage« schließlich mit Zwangsarbeit, Deportation und Sterilisation zu »lösen« versuchte.
Bereits Mitte der 1920er Jahre wurden in Deutschland und Österreich Polizeikontrollen für Sinti und Roma eingeführt. Die Medien spielten eine zentrale Rolle und heizten existierende Vorurteile mit negativer Berichterstattung weiter an. Unter dem Vorwand der Kriminalitätsprävention wurden Sinti und Roma identifiziert und registriert. Damit war die Grundlage für die spätere systematische Verfolgung durch die Nationalsozialisten geschaffen. 1936 wurde eine zentrale Behörde ins Leben gerufen, um das »Zigeunerproblem« in Wien anzugehen. Heinrich Himmler startete überall im Reich konzertierte Aktionen, um Sinti und Roma auszulöschen. Die Nürnberger Rassengesetze von 1935 klassifizierten uns als »rassisch minderwertig«. Wir verloren unsere Staatsangehörigkeit und unsere Rechte. Wir starben bei der Zwangsarbeit und bei der Deportation, wir wurden in Konzentrationslagern und in den Wäldern ermordet. 1945 war schließlich etwa ein Viertel der Sinti und Roma, die vor dem Krieg in Europa gelebt hatten, von den Nationalsozialisten ausgelöscht worden.
Es ist immer noch nicht bekannt, wie viele Sinti und Roma genau dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer gefallen sind. Sie wurden nicht immer als solche registriert und werden in den Opferstatistiken bisweilen als Angehörige der Mehrheitsbevölkerung geführt, als »Andere« – oder gleich gar nicht. Dokumente aus den Vernichtungslagern und von den Deportationen sind verschwunden, über verschiedene Archive verteilt oder bislang noch nicht analysiert. Die Forschung muss sich also auf Schätzungen stützen. Welche Beweise man aber auch heranzieht, eine Zahl von mindestens 250.000 Opfern ist sehr wahrscheinlich.
Selbst nach dem Holocaust [5] hatten unsere Überlebenden mit den gleichen Vorurteilen zu kämpfen wie schon vor 1933 überall in Europa. Nach 1945 gab es überhaupt kein Interesse an unserem Schicksal. In Deutschland und in Österreich wurden zwar Reparationszahlungen versprochen, es sollte aber bis Mitte der 1990er Jahre dauern, bis uns tatsächlich ernstgemeinte Angebote vorlagen. In den sozialistischen Staaten wurden Sinti und Roma überhaupt nicht als offizielle Opfer des Holocaust anerkannt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte ein substanzieller Anteil von uns im kommunistischen Teil Europas und sah sich mit unterschiedlich stark ausgeprägten Assimilationspolitiken konfrontiert. In den westeuropäischen Gesellschaften hingegen war die Politik mal von Integration, dann wieder von Ignoranz geprägt, dazu kam die Sterilisation von Frauen. Das Resultat der Assimilationspolitiken ist, dass zum einen mehr gut ausgebildete Sinti und Roma zu verzeichnen sind, zum anderen aber die Zahl derer steigt, die dabei sind, ihre Sprache und ihre Identität zu verlieren.
Dieser Geschichte der Verfolgung, Diskrimination und Marginalisierung zum Trotz haben wir Sinti und Roma eine reiche kulturelle Tradition – eine, die Teil der europäischen Kultur ist und die ihren Beitrag zu deren Entwicklung geleistet hat. Im RomArchive wird dieses kulturelle Erbe sichtbar.
Übersetzung: Dominikus Müller
[1] https://www.coe.int/t/dg4/education/roma/Source/FS2/1.0_india-europe_english.pdf
[2] https://www.coe.int/t/dg4/education/roma/Source/FS2/2.0_arrival-europe_english.pdf
[3] https://www.coe.int/t/dg4/education/roma/Source/FS2/2.2_wallachia-moldavia_english.pdf
[4] https://www.coe.int/t/dg4/education/roma/Source/FS2/3.2_russian-empire_english.pdf
[5] https://www.coe.int/t/dg4/education/roma/Source/FS2/6.0_surviviors_english.pdf