Berleburg, den 22. Januar 1946.
Der
Staatsanwaltschaft
S i e g e n / Westf[alen]
Auf Grund des Gesetzes Nr. 10 des [A]lliierten Kontrollrats vom 24.12.45 erstatten wir, die unterzeichneten August Andres, Berleburg, Lause, und Ehefrau Emilie Schade, ebenda
S t r a f a n z e i g e
gegen die nachstehend aufgeführten Personen:
1.) Landrat [Otto] Marloh, Berleburg[,] z.Zt. in politischer Haft,
2.) Bürgermeister Dr. [Theodor] Günther, Berleburg, z.Zt. Gefangenschaft,
3.) Stadtinspektor [Hermann] Fischer, Berleburg,
4.) Stadtinspektor Karl-Heinz Sauer, Berleburg,
5.) Kreisobersekretär [?] Markovsky, Berleburg,
6.) Kreisarzt Dr. [Robert] Goedecke, Berleburg, z.Zt. in politischer Haft,
7.) Kreisleiter [Norbert] Roters, in politischer Haft,
8.) Zahnarzt Dr. Otto Nölke, Berleburg, z.Zt. in politischer Haft,
9.) Gend.-Meister [Wilhelm] Gollombiewsk[i], Berleburg, z.Zt. politisches Lager,
10.) Lehrer [Gustav] Hoffmann, Berleburg,
11.) Lehrer [Ernst] Graf, Raumland, z.Zt. politisches Lager,
wegen Verstoßes gegen Ziffer 3 des obigen Gesetzes
»Verbrechen gegen die Menschlichkeit«.
Die vorstehend aufgeführten Personen sind die Schuldigen an der Aktion gegen die Zigeuner, die am 9.3.1943 mit der Festnahme und Ueberweisung sämtlicher sog[enannter] Zigeuner im Kreise Wittgenstein in die KZ.-Läger ihren Höhepunkt erreichte. Die Festgenommenen wurden unter der Vorspiegelung, sie sollten im Osten angesiedelt werden, in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1943 von einem großen SA- und Polizeiaufgebot aus ihren Betten geholt[,] auf einem Fabrikgelände in Berleburg zusammengetrieben, in Güterwagen verladen und in der Hauptsache dem Konzentrationslager Auschwitz zugeführt. Etwa 135 Personen sind hier oder in anderen L[a]gern zu Tode gekommen, lediglich 9 Personen haben die furchtbaren Qualen und Strapazen überstanden und sind zurückgekehrt.
Die Aktion gegen die Zigeuner mag von Reichs wegen befohlen worden sein, ihren Ausgangspunkt hat die ganze Angelegenheit aber zweifelsfrei bei den Behörden bez[iehungsweise] Parteistellen des Kreises Wittgenstein, speziell in Berleburg[,] gehabt. Diese Stellen allein sind für das Geschehene verantwortlich, da sie für alles [S]pätere die Ursache gesetzt und den Grund gesetzt haben.
Schon bald nach der Machtübernahme und im Zusammenhang mit den Rassegesetzen wurde in Wort und Schrift von den genannten Stellen auf die Zigeunersiedlungen im hiesigen Bezirk hingewiesen und aus der Sache ein Problem gemacht, das es unter allen Umständen zu bereinigen gälte. Es wurde von der Lause als dem Schandfleck des Kreises Wittgenstein gesprochen, und besonders der damalige Bürgermeister Dr. Günther stellte in rassekundlichen Aufsätzen, die in den namhaftesten Zeitschriften des Reiches erschienen, das angebliche Zigeunerproblem des Kreises immer wieder zur Debatte und machte weiteste Kreise aufmerksam. Sogenannte Rasseforscher, die von den hiesigen Behördenstellen herangeholt wurden[,] taten ein Übriges[,] und so reifte dann allmählich der Erfolg heran, den man beabsichtigte, nämlich die oben schon erwähnte Aktion vom 9.3.1943.
Schon vorher hatte man die sog[enannten] Zigeuner in der Öffentlichkeit deklassiert und ihnen in jeder nur möglichen Weise zum Bewusstsein gebracht, dass sie minderen Rechts seien.
Nur einige Beispiele mögen das belegen:
Die Partei- und Behördenstellen Berleburgs verhängten gegen die Siedlung das sog[enannte] Sperrverbot. Man setz[t]e für die Anwohner der Lause bestimmte Einkaufszeiten fest, es folgten das Reiseverbot, das Verbot zum Besuch von Gaststätten und Kinos, die Ausschaltung von jeglicher Sonderzuteilung an Lebensmitteln und dergl[eichen]. Die Reichsbahn wurde veranlasst, auf der Strecke Berleburg – Erndtebrück einen besonderen Wagen, den Zigeunerwagen, einzusetzen, und dergl[eichen] mehr. Auf das Betreiben der hiesigen verantwortlichen Stellen, die immer erneut die Dinge an die Öffentlichkeit zerrten, ging im Kriege au[ch] die Ehrlosmachung der zur Wehrmacht eingezogenen männlichen Personen durch Ausstoßung aus dem Heeresdienst zurück. Baustein auf Baustein wurde zusammengetragen, bis am 9.3.43 im Zuge der mit diesem Tage angeordneten Verschleppungsaktion das letzte Ziel erreicht war.
Die in der Anzeige aufgeführten Personen haben sich durch Wort und Tat, womit sie sich an der Aktion beteiligten, in gleicher Weise für die Vernichtung und qualvolle Ausrottung der sog[enannten] Zigeuner eingesetzt. War es der Bürgermeister Dr. Günther zunächst durch seine rassepolitischen Veröffentlichungen, so war[en] es später er und die anderen durch Beschlussfassungen und drakonische Maßnahmen. So erklärte der Stadtinspektor Fischer gelegentlich: [»D]er Berg muss ausgerottet werden[«], ein anderes Mal äußerte er: [»D]ie Leute kommen im Leben nicht wieder« (die angeblich im Osten siedeln durften). An einer maßgeblichen Sitzung im hiesigen Landratsamt, in der die Auslese der für die Verschleppung vorgesehenen Personen getroffen wurde, nahmen teil:
1.) Landrat Marloh,
2.) Inspektor Fischer,
3.) stellvertretender Bürgermeister C.H. Schneider,
4.) Kreisarzt Dr. Goedecke,
5.) Rektor Fuchs,
6.) Lehrer Graf,
7.) Schwester Emma [Rittershaus].
Der Inspektor Carl-Heinz Sauer war es, der anschließend an die Verschleppung mit brutaler Rücksichtslosigkeit die Vermögen, insbes[ondere] den Hausrat der Betroffenen, [ein]zog. Lehrer Hoffmann fuhr wiederholt nach Berlin, um über das Reichskriminalpolizeiamt die Verschleppung zu erwirken. Sie alle haben sich, der eine mehr, der andere weniger, an dem furchtbaren Massensterben, dem rund 135 Menschen zum Opfer fielen, schuldig gemacht.
Folgende Personen werden als Zeugen benannt:
a) die 9 aus den [Konzentrationslagern] Zurückgekehrten:
1.) Anton Rebstock,
2.) A [anonymisiert],
3.) August Wick,
4.) L [anonymisiert],
5.) M [anonymisiert],
6.) K [anonymisiert],
7.) Ernst Janson,
8.) W [anonymisiert],
9.) H [anonymisiert],
alle in Berleburg,
b) die nachstehenden Personen:
1.) Frau Frieda Hess, hie[r], Haspelstraße,
2.) Frau Erna Brück, hier, Trufterhainstr. 6,
3.) Paul Schade, hier, Trufterhainstr. 10,
4.) Frau Elisabeth Hunstein, hier, Lause Nr. 15,
5.) August Trapp, hier, Lause,
6.) Pfarrer Schiffer, Sommerseil [bei] Steinheim,
7.) Rektor Fuchs, Berleburg,
8.) Kaufmann C.H. Schneider, Berleburg,
9.) Gend[armerie]-Oberleutnant [Wilhelm] Köster, Berleburg,
10.) Wilhelm Mettbach, hier, Trufterhainstr. 11,
11.) Konrad Mettbach, hier, Trufterhainstr. 13,
12.) K [anonymisiert],
13.) Karl Rebstock, Berleburg, Lause.
Es wird noch darauf hingewiesen, um die Maßnahmen in ihrer ganzen Grausamkeit und Brutalität zu kennzeichnen, dass die angeblichen Zigeuner seit etwa 200 Jahren im hiesigen Bezirk auf eigener Scholle leben, also sesshaft waren und mit den tatsächlichen vagabundierenden Zigeunern nichts gemein hatten, dass sie entweder in der eigenen Landwirtschaft oder in fremden Diensten Arbeit und Brot fanden, also sozial einwandfrei lebten, dass sie trotz aller Nachweise, dass sie nur zu einem kleinen Prozentsatz Mischlinge oder gar reine Arier waren, vor ihren Verderbern keine Gnade fanden, und dass es schließlich in der Hauptsache kleine unschuldige Kinder gewesen sind, die dem Verderben preisgegeben wurden.
Emilie Schade geb. Rebstock
August Andres