Valerică Stănescus rumänisch verfasster Roman »Fata cu ochii ca mura« (›Das Mädchen mit den Brombeeraugen‹) ist eine subjektive und hochemotionale Chronik des Wanderlebens eines Roma-Kupferschmiedes in Rumänien. Er fokussiert dabei insbesondere auf die Periode nach dem Zweiten Weltkrieg während des kommunistischen Regimes und wird dabei von einem nostalgischen, erinnernden Modus getragen. Der Stil und spezifische Themen erinnern an die Werke des klassischen rumänischen Schriftstellers Ion Creangă und dessen »Kindheitserinnerungen«.
Der Roman beschäftigt sich mit verschiedenen Themen, die das traditionelle Leben eines Roma-Kupferschmieds beschreiben:
Die traditionelle Familie wird als den Werten und Regeln der Romanipen verpflichtet beschrieben, einem Konzept, das auf ujipe (»Reinheit«) und pakiv (»Ehre/Respekt/Ausgleich«) basiert, einschließlich diverser Maßnahmen für innergemeinschaftliche Kontrolle und Bestrafung. Die grundlegende Rolle der Mütter ist die Erziehung der Mädchen, die für die Ehe »rein« bewahrt werden und verantwortungsvoll ihren zukünftigen Rollen als Ehefrauen, Schwiegertöchter (boria) und Mütter entsprechen müssen.
Der Text thematisiert nicht nur die komplementären Rechte und Pflichten von Männern und Frauen, die strenge Arbeitsteilung innerhalb der Familie, den hohen Stellenwert der Ältesten und der Kinder, sondern auch die allgemeinen Hierarchien in mobilen Gemeinschaften – insbesondere Position und Status des bulibash als dem Oberhaupt der Gemeinschaft. Er wird als Symbol für Ehrlichkeit und Ehre, als Koordinator und Beschützer des Systems dargestellt, aber auch als jemand, der bei den Beziehungen zwischen Rom_nja und Nicht-Rom_nja für Gerechtigkeit sorgt und als Richter fungiert. Nach dem Konzept der Romanipe ist die schlimmste Form der Bestrafung für einen Rom oder eine Romni die Verstoßung aus der Gemeinschaft, beispielsweise, falls er oder sie sich des Diebstahls an Nicht-Rom_nja schuldig machen. Verstoßung wird als schlimmer angesehen als der Tod.
Der Roman eröffnet eine Perspektive aus dem Inneren der Gemeinschaft und thematisiert dabei auch strukturelle Probleme ihrer sozialen Hierarchien, wie Trunkenheit und körperliche Gewalt an Frauen, die in der Darstellung innerhalb der Roma-Gemeinschaft heftig geahndet wird. Weitere Hauptthemen sind auch das traditionelle Handwerk von Rom_nja wie das der Kupferschmiede, die traditionelle Medizin innerhalb der Familien oder die Anwendung von Naturheilmitteln und Magie in Heilverfahren. Der tiefe Glaube an Gott widerspricht nicht dem Glauben an Flüche, Schicksal, Prophezeiung, Magie oder Hexerei.
Die Einstellungen zu Leben und Tod, wie sie in der Erzählung geschildert werden, betonen insbesondere das Glück der Gegenwart, die bestmöglich und in ihrer Einfachheit gelebt wird, sowie die Akzeptanz der guten wie der schlechten Aspekte in einer Art weiser Resignation gegenüber dem eigenen Schicksal (baht, »Glück«).
Der Roman berichtet auch von Rassismus gegen Rom_nja durch Behörden der Nicht-Rom_nja (Gadje). Er schildert, wie ziehende Rom_nja verachtet, verspottet, mit Schlägen oder dem Tod bedroht wurden, verfolgt von körperlicher Gewalt, Vertreibung und häufigen Verboten, ihre Lager zu errichten. Zu den zentralen Herausforderungen im Leben der Rom_nja zählten also nicht nur Hunger, Durst oder die Angst vor heftigen Regenfällen und Stürmen, sondern auch die Furcht vor den zu befürchtenden Schikanen der Gadje und ihrer Behörden.
Diese Ängste haben in dem Roman eine starke Solidarität innerhalb der Roma-Gemeinschaft zur Folge, um sich gegen die Drohungen der Gadje zu wehren und den bulibash zu schützen. Der Roman zeigt aber auch Beispiele für gegenseitiges Verständnis, Unterstützung und Zusammenarbeit zwischen Rom_nja und Gadje, besonders in den Dörfern wohlhabenderer Berghirten: Hier werden die Gadje als hart arbeitend, fleißig, sanftmütig und wohltätig beschrieben, die die Roma-Kinder tauften und ein gemeinsames Leben in Wohlstand ermöglichten.
Das Konzept des »nomadischen«, mobilen Lebens ist ein wichtiges Thema innerhalb des Romans. Es wird von den Kindern als Symbol der Freiheit erlebt, in der Gemeinschaft hingegen als Fluch in schwierigen Zeiten. Und doch ist es immer noch ein Lebensstil, der tief in der Roma-Identität der Kupferschmiede verankert ist, die ihr Geld als Wanderhandwerker verdienen. Deshalb werden die Pferde der im Roman beschriebenen Familien auch besonders geliebt, geschätzt, geschützt und als Familienmitglieder angesehen. Es ist verboten, sie zu schlagen, und wenn sie sterben, ist deren Bestattung, einschließlich der Spende von Almosen, jener der Menschen sehr ähnlich.
Der Stil des Romans ist lebendig und lebhaft, voll von Metaphern, Vergleichen und gebräuchlichen Ausdrücken in Romanes, die darauf abzielen, dem literarischen Text eine besondere Atmosphäre zu geben und einen Kontrast zu der Tatsache zu setzen, dass der Roman von einem Roma-Schriftsteller in rumänischer Sprache verfasst wurde, obwohl der Autor Romanes sprechen konnte. Doch Valerică Stănescu wurde in der kommunistischen Gesellschaft zu einer Zeit ausgebildet, als Rom_nja nicht als nationale Minderheit anerkannt wurden und eine Politik kultureller Assimilation dominierte.
Quelle der Textprobe
Stănescu, Valerică. 2017. »Fata cu ochii ca mura« [The Girl with Blackberry Eyes]. Bucharest: National Center for Roma Culture – Romano Kher, pp. 124–127.