Das Märchen »I Šofolica« über ein vor drohendem Inzest fliehendes Mädchen ist auch in den Volksmärchen von Litauen, Polen und Russland, also vor allem im Osten Europas, weitverbreitet. Erzählerisch in die Form eines Zaubermärchens gekleidet, wird die Thematisierung des Inzesttabus durch kunstvolle Verflechtung verschiedener Motive aus unterschiedlichen Märchen verarbeitet: Die Geschwisterehe muss vermieden werden, auch wenn es dem Vermächtnis der Mutter zuwiderläuft.
Entsprechend ist die Beachtung des Tabus mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Dazu gehören die Flucht des Mädchens vor dem Bruder und der Versuch, eine Ersatzbraut zu finden. In der vorliegenden Fassung ist es die Hexentochter Šofolica, mit der sich die Protagonistin anfreundet. Die in drei Schritten erfolgreiche magische Flucht vor der Hexenmutter (Verwandlung dreier magischer Gegenstände in drei unüberwindliche Hindernisse für die Verfolgerin), der »Tod« beider Mädchen und ihre Transformation in Gegenstände (hier Flöten) sind allgemein sehr beliebte Motive in Zaubermärchen und haben viele Parallelen in indischen und orientalischen Märchen (vgl. auch die Märchen von Demir Aliev.
Das Märchen in der Fassung von Andras Lakatos ist eines der wenigen Beispiele für eine Erzählung mit integriertem Lied in der oralen Tradition der Lovara, wie es eigentlich für orientalische Märchen charakteristisch ist. Dieser Typ findet sich vor allem in osmanisch beeinflussten Ländern (vgl. z. B. »Arzi taj Kamber« (›Arzi und Kamber‹): unverändert tradierte, wiederholt gesungene Verszeilen direkter Rede, die integraler Bestandteil der Erzählung und wichtig für die weitere Handlung sind. Zudem lockern sie den Erzählfluss auf, fesseln die Aufmerksamkeit der Zuhörer_innen und stellen eine poetische Bereicherung der Erzählung dar.
Weiterführende Literatur
Cech, Petra; Fennesz-Juhasz, Christiane; Halwachs, Dieter W.; Heinschink, Mozes F. (ed.). 2001. Fern von uns im Traum… Märchen, Erzählungen und Lieder der Lovara / Te na dikhas sunende… Lovarenge paramiči, tertenetura taj gjila. Klagenfurt: Drava Verlag. (Transkript und deutsche Übersetzung: pp. 136–51).