Gekommen sind die Bauern und die anderen Leute.
Der Pfarrer – mit dem Kreuz in der Hand.
die Gendarmen – die Pistole.
Der Pfarrer sagt so:
Gott spricht:
Wenn dir jemand ins Gesicht schlägt,
sei ruhig und halte auch die andere Wange hin.
Deinen Gewinn kriegst du von mir,
wenn du nicht mehr hier weilst.
Die Jenischen verstanden aber,
dass das nur Lüge war.
Denn sie stahlen ihnen die Kinder,
und als Pfarrer und Gendarmen fort waren,
wurde ihnen der Wohnwagen angezündet,
die Pferde verscheucht.
Die Nacht war kalt
Und der Hunger groß;
Ein Soldat erschoss die Mutter –
Sie hatte ein paar Kartoffeln gestohlen.
Jenische Reminiszenzen : Geschichte(n), Gedichte
Erinnerungen eines Jenischen, anni 38
Erinnerungen eines Jenischen, anni 38
Gstolft sein die Gadsche, die oan Ulmen.
Der Gallach – den Paradebl in die Griffling,
die Glischti – die Gramaschgera.
Und der Gallach hat gschmalt:
Der Paradebl tibert:
Gstibsch guff, heb d’Menggl und pfliagl um Guff.
Den Rewak gstibsch beim Paradebl,
wenn mulo bisch.
Die Jenischen kneisten:
Der schmalt aufs Kari.
Sie tschorten die Ranggerlen,
und wia Gallach und Glischti ognascht sein,
haben die Gadsche den Radlinger angfunkt
und die Klebbm gufft.
A bibrische Negert war,
der Kohldampf grandig;
a Wanker macht die Meingg mit der Gramaschgera mulo –
sie hat Schuntpollen tschort.
Credits
Rights held by: Romedius Mungenast | Licensed by: Dr. Andrea Weißkopf-Mungenast | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: EYE - Emirgan Yayinlari Editions (Landeck/Austria)
Kontextualisierung
Mit dem Gedicht »Erinnerungen eines Jenischen, anni 38« schreibt Romed Mungenast die Geschichte der Jenischen in die große Geschichte der Verfolgung im Nationalsozialismus ein. Der Titel verweist auf 1938, das Jahr des »Anschlusses« Österreichs an das nationalsozialistische »Deutsche Reich«. Jenische wurden während des Nationalsozialismus aufgrund ihrer Lebensweise als sogenannte »Asoziale« verfolgt und waren mit Diskriminierung und Unterdrückung konfrontiert. Durch den Verweis auf die Pferde und Wohnwagen betont der Text die Gemeinsamkeiten mit Roma und Sinti. Die Wahrnehmung von Jenischen als »Fahrende« wird als einer der Gründe für ihre Verfolgung ausgemacht.
Die Frage nach dem Status der Jenischen als verfolgte Gruppe während des Nationalsozialismus ist bis heute umstritten. Sie wurden als Asoziale verfolgt und diskriminiert, galten im Unterschied zu Sinti und Roma jedoch als »Deutsche«, was sie von einer auf ihre »Vernichtung« abzielende Verfolgung bewahrte.
Gleichzeitig wird im Gedicht jedoch auch deutlich, dass die Diskriminierungen und Übergriffe auf Jenische keineswegs nur von staatlicher Seite – von den Gendarmen und Soldaten – ausgingen, sondern auch von den »Bauern und anderen Leuten« mitgetragen und ausgeführt wurden. Bereits der Diebstahl einiger Kartoffeln erscheint als legitime Begründung für die Ermordung einer Person, deren Leben als wenig wertvoll angesehen wurde. Vom Pfarrer ist dabei keine Unterstützung zu erwarten. Sein Kreuz erscheint in Analogie zur Pistole des Gendarmen. Seine Predigt enthält nur leere Worte. Als die Wohnwagen angezündet werden, wendet er den Verfolgten den Rücken zu.
Quelle der Textprobe
Mungenast, Romedius (Hg.) 2001. Jenische Reminiszenzen. Geschichte(n), Gedichte. Landeck: EYE Literaturverlag 2001, S. 142
Weiterführende Literatur
Seifert, Oliver. 2005. Roma und Sinti im Gau Tirol-Vorarlberg. Die »Zigeunerpolitik« von 1938 bis 1945. Innsbruck/Wien/Bozen: Studienverlag, S. 162–166.
Details
- Romedius Mungenast (Autor_in)