»Eine musikalische Reise mit schönen Bildern. Die Liedtexte fügen eine zweite Ebene des Verständnisses hinzu.«
Artur Conka
Synopse
»Latcho Drom« (Gute Reise) ist ein Spielfilm des französischen Regisseurs Tony Gatlif aus dem Jahr 1993, der in Ko-Produktion verschiedener Länder und Produktionsfirmen entstanden ist. Der Film behandelt auf mehreren Ebenen das Motiv des Übergangs und beschreibt die unterschiedlichen konkreten wie auch abstrakten Manifestationen der Transition, ausgehend von der Roma-Community (Akte der Hybridisierung, Schwellenzustände, Zwischenbereiche, travelling und fluid identities, interkultureller Dialog, cross-cultural adaptation, mehrsprachige kulturelle Praktiken etc.).
Gatlif, selbst ein Kabyle-Rom, erweist sich als authentischer Experte, vor allem bei der Darstellung der im Mittelmeerraum lebenden Roma-Communities. Während er seine Protagonist_innen als humanistische, realistische und positive Figuren zeigte, produzierte er eine quasi anthropologische und ethnomusikalische Schau im Genre des Roadmovies über Sinti und Roma und ihre historische Migration vom indischen Ursprungsort durch Asien und Europa bis in die Türkei und nach Ost- und Westeuropa.
Der Film besteht aus acht Episoden, in denen Szenen aus dem Leben an einer jeweiligen Station der Reise, in einem bestimmten Land, gezeigt werden. Der Film thematisiert außerdem Sprachen, Kleidungsstile, Gewohnheiten, Tänze und Musiktraditionen und vermittelt über die Liedtexte historische Ereignisse, wie den Porajmos (den Roma-Holocaust), den kommunistischen Terror in Rumänien oder Zeiten, in denen Roma aus den spanischen Städten vertrieben wurden und zeugt somit von hoher Professionalität und relevantem Hintergrundwissen auf Seiten des Kreativteams. Trotz der hybriden, komplexen, vielfältigen und farbenfrohen Traditionen von Sinti und Roma in den asiatischen und europäischen Ländern, in denen sie leben, konstruiert »Latcho Drom« die kulturelle Roma-Community als Einheit beziehungsweise als »vorgestellte Gemeinschaft«, um Benedict Andersons Begriff zu verwenden, dadurch, dass eine lineare und historische Metaerzählung geschrieben wird. Zu diesem Zweck verwendet der Film einerseits immer wieder allgemeine Symbole der Sinti und Roma wie das rollende Rad, das Reisen, unaufhörlicher Tanz und nie endende Musik und verweist auf die politische, kulturelle und soziale Unterdrückung, die entweder als stereotyper Topos oder als wirkmächtige Erfahrung im Leben interpretiert werden kann. Andererseits eignet sich der Film in seiner episodischen Struktur das Motiv des Übergangs auf unterschiedliche Weise an, sodass er, was Konzepte wie Nation, Hegemonie, Grenzen und alltäglicher Diskriminierung anbelangt, sowohl dezentrierende und kritische Macht entfaltet, als auch implizite und explizite Kritik daran übt.
Im Zentrum des Films stehen zunächst wandernde Roma-Communitys. Außerdem wird in jeder Szene die funktionierende und produktive, wenn auch manchmal gewalttätige Interaktion zwischen Roma und der Mehrheitsgesellschaft gezeigt. Zu den gewaltvollen Beispielen gehört der Porajmos, der kommunistische Terror und Vertreibungen im kapitalistischen Kontext.
Es wird kein Unterschied zwischen Darsteller_innen und Zuschauer_innen gemacht, und beide werden immer zusammen gezeigt. Der Lehr-Lern-Prozess basiert ebenfalls auf Übergängen, zum Beispiel, indem mündliche Überlieferungen und kulturelle Traditionen an jüngere Generationen weitergegeben werden (so sind etwa in jeder Szene Kinder zu sehen). Die Übergänge zwischen den Episoden sind subtil, sodass der poetische Fluss nicht gestört wird. Darüber hinaus gibt es Bewegungen zwischen fiktionalen und dokumentarischen Formen, die während des gesamten Films verquickt werden, um konventionelle Arten der Repräsentation zu dekonstruieren und ein poetisches Reenactment der Geschichte zu gestalten. Die Stärke dieser vielschichtigen und kontinuierlichen Übergänge wird auch von wissenschaftlichen Analysen bestätigt. Es ist definitiv die Musik, die als zweite Schicht jenseits der Bilder den Platz der verbalen Erzählung einnimmt und ihre Funktion auf sehr kreative Weise erfüllt. Der Film ist eine »über die Musik vermittelte Geschichte, die Herkunftserzählungen ironisch bricht, die Menschen und Orten Authentizität zuspricht.« »Latcho Drom« verdeutliche, dass »die Stärke der ›Gypsy‹-Identität genau darin besteht, in enormer Diversität fortzubestehen«, so Anikó Imre.
»Latcho Drom«, wurde hoch ausgezeichnet und gelobt ist weiterhin ein bei Publikum und Kritiker_innen hochgeschätzter Film und er hat die Fähigkeit, Roma-Identität zu stärken und Menschen Roma-Kultur und -Geschichte auf dem Weg der Unterhaltung näherzubringen.
Der Film gewann unter anderem 1993 in der Sektion »Un Certain Regard« auf den Filmfestspielen von Cannes.
Rezeption
9 Kritiken (IMDb): http://www.imdb.com/title/tt0107376/externalreviews?ref_=tt_ov_rt
Girgis, Mina: Latcho Drom for a Gadjo Dilo: The Problem with the Gypsy’s Indian Origin in World Music, Santa Barbara: University of California, 2007
Holden, Stephen: ‘Latcho Drom: Gypsies – Dispersed and Despised’, review, 20 July 1994, The New York Times Film Reviews 1993–1994, New York: Times Book and Garland Publishing Inc., 1996, pp. 318–319.
http://www.nytimes.com/movie/review?res=9D0CEED8173EF933A15754C0A962958260
Imre, Anikó: ‘Whiteness in Post-Socialist Eastern Europe: The Time of the Gypsies, the End of Race’, in Lopez, Alfred J. (ed.): Postcolonial Whiteness: A Critical Reader on Race and Empire, New York: Suny Press, 2012, p. 94
Malvinni, David: The Gypsy Caravan: From Real Roma to Imaginary Gypsies in Western Music, New York and Abingdon: Routledge, 2004, pp. 176–200
Rosenbaum, Jonathan: ‘Latcho Drom’, Chicago Reader, 2 February 2 1995 http://www.chicagoreader.com/chicago/latcho-drom/Content?oid=886582
Rosenbaum, Jonathan: Movies as Politics, Berkeley: University of California Press, 1997, pp. 69–75
Silverman, Carol: ‘Latcho Drom’, Ethnomusicology, vol. 44, no. 2. (Spring/Summer 2000), pp. 362–364. URL: http://www.jstor.org/discover/10.2307/852550?uid=2&uid=4&sid=21104544428503