Die Erzählung »Muro drom ži ande Debeljača« (›Meine Fahrt nach Debeljača‹) illustriert das Ineinandergreifen von Glaubensvorstellungen und Realität, wie es von Erzähler_innen vieler Roma-Gruppen wiederholt thematisiert wurde: die Berührungen zwischen der Welt der Lebenden und jener der Verstorbenen (mule – »Tote«). Die Toten können bedrohlich sein, wie in Keba Kouznelas’ Erzählung, Trost spenden oder helfen (vgl. die Erzählung [»O drugari« (›Der Gefährte‹). Da Mulo-Geschichten oft als wahr empfunden beziehungsweise präsentiert wurden, sind sie zumeist in realistische Berichte eingebettet. So auch die vorliegende Erzählung: Der Onkel des Ich-Erzählers war nach Belgrad gekommen und konnte vorläufig die Stadt nicht verlassen. Doch der junge Rom war mit der Gegend, in der er aufgewachsen war, vertraut und unternahm an seiner Stelle die Fahrt.
Genau beschreibt er sein Gespann, den Proviant und die Strecke von Belgrad ins circa 50 Kilometer entfernte Debeljača. Die Situation an der Belgrader Donaubrücke verzögerte die Fahrt um Stunden. Die 1945 zerbombte und unter Tito wiederaufgebaute, 1,5 Kilometer lange Pančevački most war nur einspurig befahrbar, und da der Bahnverkehr Vorrang hatte, mussten Fuhrwerke warten, bis die Züge beider Richtungen die Brücke passiert hatten, danach wurde der Straßenverkehr in jeweils einer Richtung abgefertigt. Die weitere Strecke führte zur Brücke über das Flüsschen Temeš und nach Pančevo – und von dort nach Norden durch das baumlose, trockene Flachland des Banats über das Dorf Crepana nach Debeljača.
Die phantastischen Erlebnisse, als der Ich-Erzähler in den Bannkreis der Toten gerät und fast nicht mehr herausfindet, sein Herumirren, die Verwandlungen von Gestalten, Häusern und der Landschaft, die Mühe des durch den Zugriff der Toten gehemmten Fahrens sind perfekt in den realistischen Rahmen eingepasst. Der Spuk endet im Morgengrauen, und der Ich-Erzähler findet den richtigen Weg. Seine Verwandten am Zielort sind nicht verwundert: Sie kennen die Problematik dieser unheimlichen Strecke. Sie attestieren dem jungen Mann großes Glück.
Die Geschichte enthält auch das Motiv magischer Fähigkeiten der an einem Samstag Geborenen, wie der Ich-Erzähler einer ist. Dieses Motiv findet sich auch in Geschichten anderer Familienmitglieder (Fennesz-Juhasz et al. 2003, Nr. 11). Auch die Vorstellung, dass die wiederkehrenden Toten nicht oder nur schlecht reden können, ist ein weitverbreitetes Element bei Mulo-Geschichten (Fennesz-Juhasz et al. 2012, Nr. 1). Dazu gehört auch der Brauch, als Schutz vor den Toten die Mütze verkehrt zu drehen und tief in die Stirn zu ziehen.
Weiterführende Literatur
Fennesz-Juhasz, Christiane; Cech, Petra; Halwachs, Dieter; Heinschink, Mozes F. (ed.). 2003. Die schlaue Romni: Märchen und Lieder der Roma / E bengali Romni: So Roma phenen taj gilaben. Klagenfurt: Drava Verlag.
Fennesz-Juhasz, Christiane; Cech, Petra, Heinschink, Mozes F.; Halwachs, Dieter W. (ed.). 2012. Lang ist der Tag, kurz die Nacht: Märchen und Erzählungen der Kalderaš / Baro o djes, cîni e rjat: Paramiča le Kaldêrašengê. Klagenfurt: Drava Verlag (Transkript und deutsche Übersetzung: pp. 354–71).