Rahmenerzählungen mit mehreren eingebauten Binnengeschichten finden sich vor allem in der orientalischen Märchentradition. Ein allgemein bekanntes Beispiel ist der Geschichtenzyklus aus »Tausendundeiner Nacht«, in dem unzählige Narrationen in die Rahmenhandlung der vom Tod bedrohten Geliebten eines Sultans eingebettet sind. Dieser Tradition folgt auch das Märchen »O drugari« (›Der Gefährte‹), das in ähnlicher Fassung bereits vom Philologen Alexandre G. Paspati 1870 im Romani-Dialekt von Rumelien (Türkei) aufgezeichnet wurde. Die Tonaufnahme mit der Erzählerin Fatima Džaferoska entstand 1971 in Wien.
Die Erzählung kombiniert frei Motive und Handlungsstränge aus verschiedenen Märchentypen. Die Rahmenhandlung entspricht einem weit verbreiteten Märchentyp (ATU 505). In diesen eingebettet, entwickelt sich eine mehrfach verschachtelte Erzählung, kombiniert mit dem Thema eines anderen Märchens, in dem eine schweigende Königstochter zum Sprechen gebracht werden muss. Eine der in der Geschichte erzählten Binnengeschichten, die das Mädchen zum Sprechen verleiten sollen, ist jene vom Tag- und vom Nachtdieb, die beide dieselbe Frau haben; auch in dieser Binnengeschichte erzählt ein Dieb noch eine weitere Geschichte. Der Erzählstoff eines Mädchens, das zum Sprechen gebracht werden soll, ist auch Erzähler_innen der türkischen Roma-Gruppe der Korbflechter_innen (Sepečides) aus Izmir und Umgebung bekannt.
Märchen spielen in vielen Fällen mit Klischees und Stereotypen; sie nützen diese als Basis für schwankhafte Elemente und Handlungsmodule. »Besserwisserei« wird klischeehaft als »weibliche« Eigenschaft dargestellt: Mädchen oder Frauen, nie jedoch Männer, die durch nichts zum Sprechen gebracht werden können, erliegen schließlich der unwiderstehlichen Versuchung, sich in einer Streitfrage einzumischen. Dadurch brechen sie ihr Schweigen. Sie können also durch Provokation überlistet werden – meist von einem schlauen Brautwerber, der in den von Rom_nja erzählten Versionen oft selbst ein Rom ist. In manchen Versionen sind es auch alte, weise (Roma-)Frauen, die um diese »typische« Eigenschaft wissen und so die jungen Mädchen überlisten. Dass Personen, die sich zu sprechen weigern, durch unsinnige Taten zum Reden provoziert werden können, ist auch in manchen Vorstellungen des Volksglaubens historisch belegt, zum Beispiel aus Ungarn (Dömötör 1981: 125 f.).
Zitierte und weiterführende Literatur
Dömötör, Tekla. 1981. Volksglaube und Aberglaube der Ungarn. Budapest: Corvina Kiadó.
Fennesz-Juhasz, Christiane; Cech, Petra; Halwachs, Dieter W.; Heinschink, Mozes F. (ed.). 2003. Die schlaue Romni. Märchen und Lieder der Roma / E bengali Romni. So Roma phenen taj gilaben. Klagenfurt: Drava Verlag (Transkript und deutsche Übersetzung einer anderen Version der Erzählerin / transkripto taj njamcicka translacija kata eg aver verzija la naratorkaki / transcript and German translation of another version by the same storyteller: pp. 26–43).
Paspati, Alexandre G. 1870. Études sur les Tchinghianés ou Bohémiens de l’Empire Ottoman. Constantinople: Antoine Koromélia.
Uther, Hans-Jörg. 2004. The Types of International Folktales. A Classification and Bibliography (= FF Communications 85–87), 3 Bände. Helsinki: Academia Scientiarum Fenica.