Ivana Nicolic, Tänzerin, Aktivistin und Studentin der Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität Turin, Italien
Ivana Nikolic ist eine inspirierende junge Frau, die es geschafft hat, Tragik und Schwierigkeiten in Schönheit zu verwandeln. Sie ist auch eine hart arbeitende, fürsorgliche und visionäre Frau, die an eine gerechte Welt glaubt und Tanz und Aktivismus nutzt, um aufzuklären und Stereotype aufzulösen.
Nikolic wurde am 3. Februar 1991 geboren, in dem Jahr, in welchem ihr Land, das ehemalige Jugoslawien, zu zerfallen begann. Ihre Familie war direkt vom Krieg betroffen, da ihr Vater Serbe und Orthodoxer ist und ihre Mutter Bosnierin und Muslimin. Nikolic wurde in Novi Sad geboren und identifiziert sich als Serbin, während ihr Bruder in Banja Luka geboren wurde und Bosnier ist. Ihr Vater war der Erste der Familie, der das Land verließ und damit als Deserteur galt. Auf seiner Reise durchquerte er Kroatien, und Nikolic berichtet, dass er nie von dieser Reise sprach oder davon, wie er es schaffte, zu überleben und in Deutschland anzukommen. Ivana Nikolic, ihre Mutter und ihr Bruder blieben indessen in Vukovar und versteckten sich in den Kellern von »Jovankas Haus«, einer Frau, die sie ihre »Feen-Patentante« nannten. Nikolic sagte, dass sie viele Jahre später Gelegenheit bekam, die Tagebücher von Anne Frank zu lesen und mit einmal die Angst und das Leid verstand, die ihre Mutter und Jovanka empfunden hatten.
1992 wurde die Situation im Land instabil und die Spannungen verschärften sich. Nikolic und ihre Familie konnten sich nicht mehr in den Kellern verstecken und beschlossen deshalb, eine Busreise nach Deutschland zu unternehmen. In der Hoffnung, mit ihrem Vater wieder vereint zu sein, verließen die drei Vukovar, ohne Geld und ohne Essen. Nikolic betont die Tapferkeit ihrer Mutter: Ohne Geld und damit der Möglichkeit, die Tickets zu bezahlen, konnte sie den Busfahrer davon überzeugen, ihre Kinder und sie selbst nach Deutschland zu bringen. Der Fahrer behielt ihre Pässe bei sich, bis Nikolics Vater bei deren Ankunft die Fahrkarten löste.
In Deutschland erhielt Nikolics Mutter – als Bosnierin auf der Flucht vor dem Krieg – politisches Asyl und blieb dort drei Jahre lang. Es war eine sehr schwierige Zeit für ihre Mutter, da sie keine Nachrichten von ihrer Familie aus der Heimat erhielt. Trotz all der Angst und der Aufregungen, die die Familie begleiteten, betont Nikolic, dass sie in einem friedlichen Haus aufgewachsen ist, in dem sie spielten, einander Geschichten erzählten und in Liebe verbunden waren.
1994 erfuhr ihre Mutter, dass ihre Großfamilie Bosnien verlassen hatte und sich in einem Lager in Turin, Italien, befand. 1995 strebte die Familie die Wiedervereinigung an. In Folge beschlossen die Großeltern, Nikolic und ihre direkte Familie nach Italien zurückzubringen. Um diesen Traum zu verwirklichen, mussten sie jedoch noch weitere Herausforderungen meistern. Nikolic meint dazu: »Eine heimliche Reise kann Menschen nicht aufhalten, die einen Krieg überstanden haben.« Sie kamen in Turin an und begannen dort ein neues Leben.
In Italien wurde Nikolic zum Lernen ermutigt. Der Glaube ihrer Familie – nach dem Liebe und Frieden immer das Negative aufheben würden – verhalf ihr zum Erfolg in der Schule und Universität. Im Alter von 15 Jahren begann sie, ihre soziale und künstlerische Praxis sowie ihre Freiwilligenarbeit mit verschiedenen Organisationen in Verbindung zu bringen. Sie arbeitete mit Jugendlichen, Behinderten und Migrantenfamilien aus ihrer Nachbarschaft Mirafiori Sud. Dieses Viertel in Turin beschreibt sie als Gebiet mit hoher Kriminalitätsrate, in dem viele junge Menschen Probleme mit ihrer Familie, Drogen und Arbeitslosigkeit haben. Wie sie selbst angibt, veranlassten sie ihr Pflichtgefühl und ihre Entschlossenheit dazu, ein Programm zu begründen, welches nach der Schule stattfand – in der Hoffnung, die Situation zu verändern. Aufgrund der darauffolgenden Drohungen und Hassverbrechen, die gegen sie und die Gemeinschaft der Rom_nja gerichtet wurden, bestand das Programm jedoch nur für drei Monate (September bis November 2014). Doch Nikolic blieb beharrlich und bestand darauf, aktiv eine Alternative zu finden. Mithilfe des Landkreises, der Mirafiori Community Foundation und der Associazione di Animazione Interculturale (ASAI) startete sie im Januar 2015 ein Bildungsprogramm für kleine Jungen und Mädchen, das noch bis heute besteht.
Im Jahr 2014 leitete sie eine Erinnerungskampagne »Attenti A NON Ripetere«, die sich gegen Diskriminierung und für die Bedeutung der sozialen Integration einsetzte. Die Kampagne wurde von jungen Menschen in der Stadt, verschiedenen Vereinen, dem Museo Diffuso della Resistenza (Widerstandsmuseum) und der jüdischen Gemeinde Turin unterstützt. Ihr Ziel war es, die Menschen an die Gräueltaten der Geschichte zu erinnern, um sie nicht zu wiederholen. Durch Aktivitäten, Workshops und die Entwicklung einer aktiven Bürgerschaft konzentrierte sich die Kampagne auf die Jugend und die Erinnerung an die Shoah, den Porajmos und den Holocaust.
Derzeit (Stand 2018) organisiert Nikolic mehrere künstlerisch-kulturelle Veranstaltungen und Bildungsaktivitäten, um ein Bewusstsein für kulturelle Unterschiede zu etablieren und mittels Musik und Tanz Integration zu fördern. In den Jahren 2015/16 gründete sie die Roma-Tanzkompanie »Ternype Dance«, die zwei Hauptziele verfolgt: die Schönheit der Tanzkunst der Rom_nja zu teilen und Stereotype aufzulösen. Die Kompanie hat seither an mehreren Veranstaltungen in Italien und Europa teilgenommen. Sie leitete mehrere Workshops und Nikolic erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Am 8. März 2010 wurde ihr vom damaligen italienischen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano eine Auszeichnung für ihr Engagement in sozialen Fragen verliehen. Am 14. November 2015 erhielt ihr Unternehmen den »CILD-Preis« für ihren Einsatz für Freiheit und Bürgerrechte in der Kategorie »Voce Collectiva«. Am 27. Januar 2016 würdigte der italienische Senat ihre Gedächtniskampagne, und 2016 ernannte die Europäische Kommission sie zur Botschafterin für Italien und die Rom_nja in ihrem Kampf gegen Diskriminierung.
Seit 2011 ist Ivana Nikolic Teil von »ternYpe – International Roma Youth Network«, das jungen Menschen ermöglicht, aktive Bürger_innen zu werden. Seit 2016 ist sie Mitglied des wissenschaftlichen Komitees des »Romani Early Years Network« (REYN). Sie ist in dem Dokumentarfilm »Opre Roma!« (Italien, 2017) von Paolo Bonfanti zu sehen und startet 2019 selbst ein neues Filmprojekt.
Nikolic absolviert derzeit (Stand 2018) ihr Studium der Philosophie und Erziehungswissenschaften an der Universität Turin. Sie ist international ein Vorbild für junge Rom_nja und prägt die Tanzgeschichte. Durch ihre Begeisterung, ihr Engagement und ihre positive Einstellung ist Nikolic ein gutes und wirkungsvolles Beispiel dafür, was sich mit Hingabe und Leidenschaft erreichen lässt.