Der Inbegriff des ursprünglichen cante gitano in all seiner Nacktheit und Tiefe – frei, emotional, irrational – ist Manuel Agujetas. Seine Ausdrucksform ist der rebellische, ungezähmte Schrei, der ohne musikalischen Zierrat und ungefiltert von den Sinnen die elementarsten Gefühle des Menschen anspricht.
Agujetas’ Unwissenheit gegenüber den gesellschaftlichen Konventionen ging so weit, dass sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, wann und wo er geboren wurde. Die Flamencoforschung vermag sich weder auf den Ort noch auf ein Datum festzulegen (nicht einmal er selbst wusste es je): Die einen nennen als Geburtsort Jerez de la Frontera, andere das nahegelegene Rota; und seine Geburt datieren die einen auf 1936, andere auf 1939.
Sicher ist, dass Manuel de los Santos Pastor, auch bekannt als »Agujetas«, einer Roma-Familie von Schmieden entstammt, denen der Flamencogesang in den Genen steckt. Und diese Familie, verwandt mit dem großen Manuel Torre, lebt seit jeher in Bezug auf Formen und Inhalte eine ganz eigene Ästhetik des Flamencos.
Der Familientradition folgend, arbeitete Manuel Agujetas zunächst, zusammen mit seinen Brüdern und anderen Verwandten, in der Schmiede seines Vaters »Agujetas el Viejo«, dem direkten Vorbild für seine musikalische Ästhetik. Sie alle sangen und machten so aus ihrem Arbeitsplatz eine Art Konservatorium, wo sie ihre gesanglichen Fähigkeiten ausbilden und entwickeln konnten – ein typisches Beispiel für Roma-Familien, in denen der Gesang von Generation zu Generation weitergegeben wird: von Mund zu Ohr, im täglichen Erleben und ohne äußere Einflüsse.
Ermuntert von Aficionados in seiner Umgebung, beschließt er zu Beginn der 1970er Jahre, die Schmiede zu verlassen und nach Madrid zu ziehen – dort will er zu einem professionellen Sänger werden. Er erhält ein Engagement im Tablao Café de Chinitas, und wo immer in der Stadt Flamenco getanzt wird, zeigt er sein Können. Er ist anders als alle anderen, und allmählich wird er sowohl von der Kritik als auch von den Spezialist_innen des Fachs anerkannt – auch wenn er die endgültige Bestätigung erst nach Aufnahme seiner ersten Schallplatte erhält (»Viejo cante jondo«, 1972, begleitet von dem renommierten Gitarristen Manolo Sanlúcar).
Es ist die Hochzeit der Festivals, und in ganz Spanien tritt er ins Rampenlicht. Alle wollen ihn hören, wollen diesen archaischen Klang hören, der für die meisten doch so neu ist; denn wenn Agujetas die Stile der Soleá und die Siguiriyas auf der Grundlage der Schöpfungen von Manuel Molina, Manuel Torre, El Marrurro, Mojama oder Tío José de Paula interpretiert, macht er sie mit seinem aberwitzigen, sehr persönlichen musikalischen Echo doch zu etwas ganz Eigenem.
Sein Gesang wird zu einer lautlichen Alchemie, bei der sich Klänge aus der Kehle, dem Mund, der Nase miteinander verbinden; Klänge, wie sie dem menschlichen Weinen eigen sind und mit denen er auf ergreifende Weise den Schmerz vermittelt, von dem im Text die Rede ist.
Sein Ruhm dringt über die Grenzen hinaus, und ihn erreichen Anfragen aus anderen europäischen Ländern und aus Amerika. So verbringt er längere Zeit in Kanada, Mexiko und den USA, wo er seine erste Frau heiratet (er war mindestens dreimal verheiratet), was ihm ermöglicht, die Staatsbürgerschaft des Landes anzunehmen. Europa und Japan feiern ebenfalls seine Kunst, und Frankreich wird zu seiner zweiten Heimat, dort nimmt er seine legendäre Platte »Agujetas en París« (1966) auf, die ihm in der Welt des Flamencos nun auch die höheren Weihen verleiht.
Fehlt nur noch das Kino, und das kommt mit Carlos Saura und einem großen Auftritt in dessen Film »Flamenco« (Spanien, 1995); auch die französische Regisseurin Dominique Abel stellt ihn in dem Dokumentarfilm »Agujetas cantaor« (Frankreich, 1999) vor die Kamera.
Der geniale cantaor (Flamencosänger) lebte, wie er sang: frei und ungezähmt, in einem abgelegenen Haus auf dem Land, das er selber gebaut hatte, zwischen Tieren und Pflanzen, die er liebevoll hegte und pflegte, und umgeben von den wenigen ausgewählten, treuen Freunden. Seine letzte Ehefrau, die Japanerin Kanako, war bis zu seinem Tod am 25. Dezember 2015 an seiner Seite.
Zum Glück für die Flamencomusik war sich Manuel Agujetas immer bewusst, dass er nur ein weiteres Glied in einer Kette von cantaores war, weshalb er das musikalische Erbe, das er übernommen hatte, auch an seine Nachkommen weitergab. Seine Kinder, Antonio und Dolores, führen heute diesen Flamenco Gitano fort, den er so vehement verteidigte, jenseits aller Moden und Konventionen.