Die Flamencogitarre, für die heute beispielhaft Paco de Lucía steht, ist undenkbar ohne den »fabelhaften Sabicas« (»El fabuloso Sabicas«, so der Titel des Dokumentarfilms von 2012 über sein Leben). Es war dieser Rom aus Navarra, Virtuose auf der sonanta, der der Flamencomusik neue Horizonte eröffnete, und das mit einer persönlichen und künstlerischen Vita, die sich zum größten Teil fernab des spanischen Flamencoambientes abspielte. 1936 wurde Spanien vom Bürgerkrieg in zwei Hälften geteilt, und viele Menschen suchten jenseits des Atlantiks Zuflucht, darunter auch Agustín Castellón Campos, genannt »Sabicas«.
Geboren wurde er am 16. März 1912 in Pamplona als Sohn von Agustín Castellón Gabarri und Rafaela Campos Bermúdez – Roma, die vom Straßenhandel lebten. Sehr früh schon, im Alter von fünf Jahren, zeigte sich sein Interesse für die Gitarre: Angelockt von ihrem Klang, als er in der Nachbarschaft jemanden spielen hörte, bat er seinen Vater, ihm eine Gitarre zu kaufen, die er in einem Schaufenster gesehen hatte. Für den Vater war das ein übertrieben teures Spielzeug (17 Peseten), doch angesichts der Beharrlichkeit des Kindes willigte er ein und kaufte es ihm. Nie hätte er gedacht, dass dieses kleine Instrument für seinen Sohn einmal zu einem lebenslangen Begleiter werden sollte. Das Gitarrenspiel wurde zu seinem Beruf, mit ihm begründete er seine Kunst.
Eine natürliche musikalische Begabung und viele Übungsstunden machten Agustín Castellón Campos zu einem Wunderkind, bewundert von allen, die ihn hörten. Mit gerade einmal sieben Jahren debütiert er im Teatro Gayarre in seiner Heimatstadt, und drei Jahre später präsentiert ihn der Impresario Bonet im Teatro El Dorado in Madrid. Vielleicht sah man ihn damals mehr als eine Attraktion denn als Musiker (er erntete Applaus, wenn er bei seinen Fandanguillos eine Hand hob und allein mit der anderen weiterspielte). Später begriffen die Leute, dass dies ein Beleg war für seine außerordentliche Technik, die Grundlage seines historischen Beitrags zur Flamencogitarre.
In dieser Zeit gibt er sich endgültig den Künstlernamen »Sabicas«. Hintergrund ist seine besondere Vorliebe für dicke Bohnen, habas; seine Mutter hatte ihn deswegen »Habica« genannt. Daher »Sabicas«.
In seinen Anfängen sind zwangsläufig die Einflüsse der beiden Großen dieser Jahre erkennbar: Ramón Montoya (ein Onkel von ihm) und Manolo de Huelva; darauf aufbauend bricht er auf, um einen eigenen, die Musik erneuernden Stil zu schaffen. Bei Sabicas ist die Flamencogitarre nicht länger bloßes Begleitinstrument zum Gesang, sondern steht als etwas Eigenständiges für sich selbst.
Es folgen Konzerte, und natürlich begleitet er auch die zu jener Zeit meistgeschätzten Sänger_innen (Niña de La Puebla, Juanito Valderrama, »El Carbonerillo«) in verschiedenen Truppen, mit denen er durch ganz Spanien tourt. Es sind die Jahre der »Flamenco-Oper« als Aufführungsformat: Lieder, Flamenco und Humor, klug gemixt zur Zufriedenheit eines heterogenen Mehrheitspublikums.
Auf diese Weise verlief sein Leben in Bahnen, wie sie fürs Flamencomilieu typisch waren, bis der unselige Bürgerkrieg (1936–1939) das Land erschütterte. Sabicas war einer der vielen Betroffenen, und er ging nach Amerika, wo er bis zum Ende seines Lebens wohnte (Argentinien, Mexiko und schließlich New York). Für seine berufliche Orientierung bedeutete dieser Einschnitt eine grundlegende Veränderung. Er ließ die Flamencowelt seiner Heimat hinter sich und begab sich auf neue künstlerische Pfade. Sabicas verkehrte mit den großen lateinamerikanischen und US-amerikanischen Produzenten und Musiker_innen, teilte mit ihnen Bühne und Erfolg. Auch die Plattenfirmen interessierten sich nun für seine Musik und nahmen etwa 40 Platten auf; hervorzuheben sind »Flamenco puro« (1961) und »El rey del flamenco« (1965), zwei Sternstunden für die Flamencogitarre. Sein Fusion-Album »Rock encounter« stellte eine Verschmelzung der beiden Genres Flamenco und Rockmusik dar und wurde zusammen mit Joe Beck 1966 eingespielt, erschien allerdings erst 1970.
Sabicas ist das Genie, das den meisten Flamencofreund_innen in Spanien seinerzeit unbekannt war. Seine außerordentliche Technik, die er nicht zuletzt durch unermüdliches Üben erlangte, ermöglichte ihm eine Reinheit des Klangs und eine Geschwindigkeit in der Ausführung, wie man es bis dahin nicht kannte.
Spanischen Boden betritt er erst wieder 1967, weltberühmt und mit einem bahnbrechenden, höchst nuancenreichen Werk im Gepäck, sowohl in der Kreation wie in der Interpretation. Für die Flamencogitarre markiert Sabicas zweifellos ein Vorher und Nachher.
Wer bei ihm in die Schule ging, wie beispielsweise Paco de Lucía, sollte seine Kunst an die nachfolgenden Generationen weitergeben, die heute mit einer der bedeutendsten musikalischen Ausdrucksform der spanischen Kunst glänzen.
Am 14. April 1990, von seinen Landsleuten ebenso wie von seinen Fans auf den fünf Kontinenten längst anerkannt und verehrt, stirbt Agustín Castellón Campos »Sabicas« in New York. Seine sterblichen Überreste werden später in seine Geburtsstadt Pamplona überführt und in Nähe seiner Angehörigen bestattet.