Tomás »El Nitri« zählt zu den rätselhaftesten Persönlichkeiten in der Geschichte des Flamenco. Schon bei der Frage nach seinem wirklichen Namen fangen die Spekulationen an. Nach letztem Stand wird er als Tomás Ortega López identifiziert – geboren 1838 in El Puerto de Santa María, gestorben 1877 in Jerez de la Frontera (beides in Spanien).

Damit gehörte er der berühmten Roma-Künstlerfamilie Ortega an – »El Fillo« (Francisco Ortega Vargas) war sein Onkel, und zur Verwandtschaft zählten auch die Ortegas aus der Familie von Manolo »Caracol« (Manuel Ortega Juárez) sowie die Torero-Dynastie »Los Gallos«.

Im Schoß der Familie erhielt El Nitri seine frühe musikalische Ausbildung, die schon ein kostbares Vermächtnis war. Später sog er die Flamencoklänge in den Gitanerías von Cádiz und den Hafenstädten San Fernando und El Puerto de Santa María auf, wo Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten großen Siguiriya-Künstler_innen ihr historisches Werk hinterließen: María Borrico, Curro Durse, »El Viejo« de la Isla …

Vergessen wir nicht, dass wir hier von den Grundlagen des Cante Gitano sprechen: Diese Menschen in dieser Zeit und an diesen Orten – sowie in Triana und in Jerez de la Frontera – erschufen die Melodien, die den Kern des Flamencogesangs der spanischen Rom_nja bilden; ein Substrat, das El Nitri um seine eigenen Beiträge anreicherte.

Drei noch heute bekannte Gesänge im Siguiriya-Stil werden ihm zugeschrieben. Wir heben hier einen davon hervor, weil er besonders wegweisend ist. Aufgenommen wurde die Melodie, die auf der Musik eines anderen großen Siguriyeros, nämlich Curro Durse, fußt, erstmals 1964 von Antonio Mairena. Bis dahin war sie mündlich überliefert worden.

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Seine Gefühlskraft und Stimmgewalt machten El Nitri zu einem unübertrefflichen Siguiriya-Interpreten, weshalb sein Ruhm als Sänger schnell anwuchs. Auf der Suche nach besseren Arbeitsbedingungen zog er nach Sevilla um, wo die Cafés cantantes Auftrittsmöglichkeiten boten. Unterkunft fand er dort bei seinem Onkel, »El Fillo«, und dessen Frau, »La Andona«.

Der Austausch mit diesen beiden genialen Schöpfer_innen des Cante muss El Nitris musikalischen Horizont erheblich erweitert haben, zusätzlich zu den anderweitigen Anregungen aus der aufkommenden Flamencoszene in Sevilla und Triana zu jener Zeit.

Das Boheme-Leben, an dem El Nitri Gefallen fand, machte ihn umtriebig, und so sang er bald auch in den Cafés von Málaga, Granada und Jerez. Sein Ruf als außergewöhnlicher Cantaor verbreitete sich rasch. In Málaga war es, 1868, dass nach einem seiner Auftritte das Publikum, verzaubert vom Gesang dieses Gitano, beschloss, ihn mit dem Preis »Llave de Oro del Cante Flamenco« zu ehren, dem »Goldenen Schlüssel des Flamencogesangs«.

Diese Ehrung, der spontanen Begeisterung entsprungen, hatte weder eine Vorgeschichte noch großen Eigenwert. Doch mit der Zeit wurde die Auszeichnung »Llave de Oro del Cante« zum Inbegriff der Meisterschaft und Reinheit im Flamenco.

Verliehen wird sie nur selten: 1925 erhielt Manuel Vallejo die zweite »Llave de Oro del Cante«, 1962 wurde Antonio Mairena mit der dritten geehrt, auch wegen seiner Vorreiterrolle bei der Renaissance der Flamencokunst und der Stärkung ihrer Bedeutung. Im Jahr 2000 verlieh die andalusische Regionalregierung die vierte »Llave de Oro del Cante« posthum an Camarón de la Isla. Seit 2005 ist Antonio Fernández »Fosforito« der fünfte Träger der Auszeichnung.

Ihr erster Empfänger, Tomás Ortega »El Nitri« starb mit nicht einmal 39 Jahren in Jerez an Tuberkulose. Er zählt zu den bedeutendsten Cantaores in der Geschichte des Flamenco – zugleich als Erbe und als Gestalter einer großen Tradition der spanischen Rom_nja.

Dennoch blieb sein Vermächtnis bei den historischen ersten Tonaufnahmen des Flamenco unbeachtet. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckte ihn Antonio Mairena wieder und verschaffte ihm – auf Grundlage der Interpretationen von Pastora Pavón und Antonio Frijones – die verdiente Anerkennung, im Rahmen seiner bahnbrechenden Arbeit für die Pflege des musikalischen Kulturerbes der Rom_nja in Spanien.