Von der Geschichte zum Lied
Die irische Travellerin Trish Nolan erzählt, Musik habe in ihrer Kindheit eine große Rolle gespielt:
»Frei zu singen war genauso selbstverständlich wie zu reden. Irgendwo sang immer jemand ein Lied. Ich bin ohne Fernsehen oder Elektrizität aufgewachsen, deshalb erinnere ich mich an das Flackern einer Kerze oder eines nächtlichen Lagerfeuers und an die Lieder und Geschichten […] wie auch die Geschichten, denen die Lieder zugrunde lagen und an die Moral der Geschichten oder Lektionen. Diese Geschichten über die Lieder führten manchmal zu Erzählstunden, und dann führte eine Geschichte wieder zu einem Lied.«
Familienabende wurden mit dem Gesang von Liedern verbracht, die in Nolans erweiterter Familie von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Das Dubliner Royal College of Surgeons in Ireland, erzählt sie, hat kürzlich überzeugende DNA-basierte Beweise vorgelegt, dass Traveller »bereits vor der Zeit der Kelt_innen in Irland nachweisbar und in Irland indigen sind«. Diese Abstammung spiegelt sich Trish Nolan zufolge »in der sehr deutlichen Popularität irischer Traditionen in unserer Community wider«. Die mündliche Tradition ist »sehr wichtig«:
»Viele der Lieder in meiner Familie lassen sich 150 Jahre und länger zurückverfolgen. In unserer Community wurde die Musik normalerweise nicht kommerzialisiert oder von den Traveller als eine Industrie betrachtet, sondern eher als eine Art zu leben, als Kultur und Unterhaltung. Traditionell ist Traveller-Gesang unbegleitet. Beim Gesang geht es mehr um eine Form des Ausdrucks innerhalb der Community als darum, wie er von den Massen aufgenommen wird. In der Traveller-Community lernt man üblicherweise keine Musiktheorie, und viele spielen Musik nach Gehör. Der Ausdruck ist entscheidend, und die dadurch hervorgerufenen Erinnerungen sind gleichermaßen wichtig. Das Vortragen der Lieder und Geschichten und deren Moral sind von großer Bedeutung.«
»Broken Lines«
Trish Nolan führt sowohl traditionelle Lieder als auch Country- und Western-Musik auf, außerdem singt sie ihre eigenen Kompositionen und begleitet sich dabei auf der Gitarre und der Harmonika. Ihr beeindruckendes Lied »Broken Lines« ist autobiografisch. Mit acht Jahren kam sie zusammen mit vier ihrer Schwestern in ein Heim. Damals gab es von den Behörden keinerlei Erklärung, und sie hatte »keine Idee, was da passierte«. Erst viel später las sie in Dokumenten, dass der irische Staat befunden hatte, sie und ihre Geschwister seien »vernachlässigt«, und zwar wegen des geringen Einkommens der Familie und »unseres Lebensstils als Traveller, vor allem, dass wir nomadisch lebten«. Trish Nolan lebte im Heim, bis sie siebzehn war. »Broken Lines«, erklärt sie, »erzählt von der gebrochenen Abstammungslinie meiner Traveller-Identität, von den Brüchen, die in mir und meiner Familie entstanden sind, und von den gebrochenen Kommunikationslinien zwischen sesshaften Menschen und Traveller-Communities«.
Trish Nolan singt immer noch viele der alten Lieder, die sie von ihren Eltern und älteren Verwandten gelernt hat. Heute, sagt sie, »erweitern Traveller ihr Repertoire um zeitgenössische Musikstile, in denen sich Gesellschaft und die sich entwickelnde Kultur, in der wir heute leben, widerspiegeln. Während Traditional für mich immer die Gattung bleiben wird, die zu meiner frühesten Musik- und Gesangserfahrung gehört, macht es mir heute Freude, mit Musik und Gesang aller Gattungen zu experimentieren.