In »Vater unser« erzählt Anita Awosusi ihre persönliche Geschichte durch jene ihrer Eltern und zeigt dabei auf, wie deren Erfahrungen in den Konzentrationslagern ihr eigenes Leben und ihren Aktivismus beeinflusst haben.
Die Autorin konzentriert sich dabei insbesondere auf die Überlebensgeschichte ihres Vaters, von der Zwangsarbeit, die er in Sachsenhausen zu ertragen hatte, bis hin zum Zwang, in den letzten verzweifelten Kriegstagen für die deutsche Armee in den Kampf gehen zu müssen. Danach war er jahrelang sowjetischer Kriegsgefangener, bevor er schließlich nach Karlsruhe zurückkehren konnte, um sein Leben als Geigenbauer erneut zu begründen.
In der hier ausgewählten Passage erzählt Awosusis Stimme, dargestellt in kursiver Schrift, von der Rückkehr ihres Vaters nach Deutschland und seiner Arbeit am Aufbau einer guten Reputation als Geigenbaumeister. In seinem persönlichen Stolz auf die wachsende Familie schuf ihr Vater zur Geburt jeder seiner fünf Töchter ein Instrument. Der Ausschnitt endet mit der Stimme der Schwester, die die Geschichte ihres Vaters an jenem Punkt erzählt, an dem dieser nach Karlsruhe zurückkehrt und seine Geschichte einem jüdischen Kutscher erzählt, der von ihm, seinem Leidensgenossen, kein Fahrgeld verlangt.
Berichte der zweiten Generation, also der Kinder von Holocaust-Überlebenden der Sinti und Roma, sind selten. Innerhalb dieses an sich bereits überschaubaren Korpus ist »Vater unser« mit der Einsicht, die das Werk den Leser_innen in das Leben von Sinti und Roma nach der Befreiung und in die tiefgreifenden Auswirkungen des Holocaust auf das spätere Leben der Personen bietet, ein besonders wichtiger Beitrag.
Quelle der Textprobe
Awosusi, Anita. 2016. Vater Unser. Eine Sintifamilie erzählt. Heidelberg: Verlag Regionalkultur, pp. 73-74.