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Rosamaria E. Kostic Cisneros

Russland und Frankreich: Die Pétia Iourtchenko und Simon Renou Sammlungen

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Avant nous étions des oiseaux 10

Marie Novikoff | Avant nous étions des oiseaux 10 | Photographie | Russland | 2017 | dan_00594 Rights held by: Marie Novikoff | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Pétia Iourtchenko & Anne-Marie Iourtchenko – Private Archive

Sammlungsüberblick

Die präsentierte Sammlung umfasst zwei separate Minisammlungen, die über eine Lehrer- und Schülerbeziehung verbunden sind. Dieser Text konzentriert sich auf den Rom und Künstler Pétia Iourtchenko sowie auf den Tänzer und Künstler Simon Renou, selbst kein Rom. Die Sammlungen beinhalten völlig unterschiedliche Werke, diese sind jedoch in ihrem Fokus auf die Tänze der Sinti und Roma und Pétia Iourtchenkos Arbeit, Lehre und Tanzphilosophie miteinander verbunden.

Die Bekanntschaft der Künstler Iourtchenko und Renou begann 2011 als Lehrer- und Studentenbeziehung in Paris in Frankreich. Im Jahr 2013 trafen sie erneut aufeinander, um neben anderen Projekten eine Reihe kurzer Tanzfilme zu realisieren. Der Beitrag betrachtet zuerst Iourtchenkos Arbeit und Herkunft als russischer Rom, danach Simon Renous Projekt mit Iourtchenko im Kontext Frankreichs.

Überblick Russland

Das moderne Russland ist ein riesiges Land mit einer komplexen Geschichte. Es beheimatet eine Reihe von Ethnien, und »das früheste offizielle Dokument in Russland, das die Rom_nja erwähnt, stammt von 1733 – das Dekret Anna Iwanownas für neue Steuern auf das Militär« (Vilensky 2010). Die Ruska-Rom_nja zählen zu den größten Untergruppen der Rom_nja in Russland und Weißrussland und kamen um die Wende zum 16. Jahrhundert nach Russland. Andere Rom_nja wurden Teil der nomadischen Stämmen der Kelerara und Lovara, die im 19. Jahrhundert eintrafen.

Von den Ruska-Rom_nja wird angenommen, dass sie eine Reihe von »traditionellen« Berufen ausübten, darunter Pferdehandel, Musik, Tanz und Wahrsagerei. (Bessonov 2007) Seit dem späten 18. Jahrhundert unterhielten einige Ruska-Rom_nja enge Arbeitsbeziehungen zum russischen Adel, da es innerhalb der russischen Aristokratie Mode war, Ruska-Rom_nja Sklaven für »Zigeunerchöre« zu rekrutieren (Rom-Lebedev 1990, Druts & Gessler 1990, Lemon 2000). Dies ist ein wichtiges Detail, auf das später im Text noch eingegangen wird, um das Romen Theater darzustellen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Ruska-Rom_nja eine lange Geschichte mit Russland verbindet. Andere Rom_nja aus der Gemeinschaft lebten auch in der Ost- und Zentralukraine, in Frankreich, Kanada und den Vereinigten Staaten. Eine große Anzahl an Rom_nja emigrierte, nach einer kritischen Phase in Folge des Krieges auf der Krim, auch nach Schweden und Frankreich oder Südamerika.

Russischer Tanz und Operetten

Russland hat seine Wertschätzung für Kunst und Kultur kultiviert. Das Land wird oft mit Ballettensembles – wie dem Bolschoi-Ballett, Kirow-Ballett, St. Petersburg Eifman Ballet, Mariinski-Theater – oder mit Ballettschulen, wie dem Waganowa-System, in Verbindung gebracht. Eine Reihe von Ballettgrößen – wie Mikhail Baryshnikov, Vaslav Nijinsky, Rudolf Chametowitsch Nurejew, Agrippina Jakowlewna Waganowa, Anna Pavlowna Pavlowa, Michel Fokine und Marius Petipa – kamen aus Russland. Viele verbinden mit dem Land auch das Ensemble Ballets Russes, gegründet von Sergei Pawlowitsch Djagilew. Alle diese Namen gelten als kanonische Figuren in der Tanzgeschichte Russlands. Während es überdies eine Reihe traditioneller Volkstänze und anderer Stile gibt, die so unterschiedlich sind wie die Nation selbst, konzentriert sich der Beitrag im Folgenden auf einen weniger bekannten Stil – jenen, der mit den Tänzen der in Russland lebenden Rom_nja verbunden ist.

Die Tanzform der in Russland lebenden Rom_nja ist lebhaft und ausdrucksstark. Sie beinhaltet komplizierte Beinarbeit, ähnlich wie die Beinarbeit beim Flamenco, Schulter-Shimmies und anmutige Armbewegungen. Bei Tänzerinnen ist die Verwendung von breiten, bunten Röcken, die auf der Vorder- und Rückseite geschwungen werden, ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil des Tanzes. Männliche Tänzer sind energisch und integrieren zudem schnelle, rhythmische Beinarbeit sowie Schläge mit den Handflächen auf Oberkörper, Beine, Hüften und Fußsohlen.

Das Tanzen ist dynamisch und wird oft von Live-Gesang, Gitarrenspiel, Geigen, Akkordeons und mitunter auch von Tamburinen begleitet. Der Tanz der Rom_nja in Russland hat damit einen festen Platz in der Tanzgeschichte erobert und erreicht zunehmend auch ein internationales Publikum. Wie bereits erwähnt, wanderten Ruska-Rom_nja in verschiedene Länder aus, und mit ihnen ihre Kunst und ihr temperamentvoller Tanz.

Wir haben bereits erwähnt, dass einige Ruska-Chöre in Moskau und Sankt Petersburg existierten. Am Ende des 19. Jahrhunderts gründete Nikolai Shishkin, Dirigent eines solchen Chores, das erste Roma-Theaterensemble. Im Jahr 1886 spielte die Truppe in einer Operette mit dem Titel »Цыганские песни в лицах« (»Zigeunerlieder in Gesichtern«, 1886), die mehrere Jahre lang im Arcadia Theater aufgeführt wurde. Eine andere Operette, »Der Zigeunerbaron« (1887), die von Johann Strauß geschrieben wurde, hatte im April 1887 Premiere und wurde später auch von Shishkins Truppe aufgeführt. Im Jahr 1888 debütierte »Kinder des Waldes« im Maly-Theater. Erstmalig wurde eine Operette von einem Roma-Ensemble auf Romanes aufgeführt. Shiskin produzierte in den 1920er Jahren weitere Operetten, die Sänger_innen, Tänzer_innen, Musiker_innen und weitere Künstler_innen der Rom_nja dazu anregten, in der Sowjetunion aufzutreten.

Die Gemeinschaft der Rom_nja in Russland ist traditionell tief in den darstellenden Künsten verwurzelt. Ein wesentlicher Teil dieser Geschichte ist das Romen Theater in Moskau.

Institutionen wie dem Romen Theater ist es auch zu verdanken, dass die Tänze der in Russland lebenden Rom_nja – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes – einen eigenständigen Platz in der Tanzwelt errungen haben. Ein bedeutendes Beispiel für ein Ensemble, das die Tänze russischer Rom_nja außerhalb Russlands tanzt, ist Saeedas Yagori – The Gypsy Dance Company im Vereinigten Königreich. Ein weiteres Beispiel ist das Yagori Dance Festival in Oslo, Norwegen.

Das Romen Theater

Das Romen Theater, das älteste und bekannteste Roma-Theater auf der Welt, ist eine Säule der Roma-Kultur in Russland. Es wurde 1931 gegründet und war eine Attraktion für viele Roma-Künstler_innen. Georgy Lebedev, der erste Direktor des Romen Theaters, war Rusko-Rom. Im Dezember 1931 wurde ein Stück des Schauspielers Alexander Germano, ebenso Rom, uraufgeführt.

Mittlerweile hat das Romen Theater, als das einzige professionelle Roma-Repertoiretheater, sein 85-jähriges Jubiläum gefeiert. International ist es zugleich das älteste und bekannteste Roma-Theater. Seit dem Ende des 17. bis Anfang des 18. Jahrhunderts, als sich die Rom_nja in Russland niederließen, sind Literatur, Musik und Poesie dieses Landes ohne die Gemeinschaft und ihre Lieder nicht vorstellbar. Der große Leo Tolstoi hatte die Rolle der ›Zigeunermusik‹ auf die folgende, tiefgründige Weise ausgedrückt:

»Zigeunermusik bildet den einzigen Übergang von Volksmusik zu akademischer Musik hier in Russland.«

1930 hatte die Moskauer Intelligenzija – unterstützt von Beamt_innen und Kulturschaffenden – die Idee, das Romen Theater zu begründen. Am 16. Dezember 1931 fand dort die erste Aufführung von Alexander Germanos Stück »Жизнь на колёсах« (»Das fahrende Leben«) statt, welche die Geburt des neuen Theaters markierte.« (Ivanova 2016)

Das Romen Theater belebt und entwickelt Roma-Folklore grundlegend. Es bietet Roma-Künstler_innen des ganzen Landes eine Plattform, sich selbst und ihre Arbeit zu entwickeln und dabei auch gemeinschaftsrelevante Themen aufzugreifen. Das Romen Theater hat aus einer Reihe von Liedern, Tänzen und Musik der Rom_nja professionelle Bühnenproduktionen kreiert und damit zum Repertoire der in Russland lebenden Rom_nja beigetragen. Seit 1977 ist Nikolai Slichenko Direktor des Theaters. Er hat bereits mehrere Staatspreise der Sowjetunion erhalten und auch den Staatspreis der Russischen Föderation.

Der russische Roma-Künstler Pétia Iourtchenko hat ebenso erfolgreich zum Vermächtnis des Romen Theaters beigetragen.

Pétia Iourtchenko

Offizielles Plakat für Pétia Iourtchenko, Paris, Frankreich, Romano Atmo Dance Company.

Rights held by: Thibault Fernandez | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Pétia Iourtchenko & Anne-Marie Iourtchenko – Private Archive

Pétia Iourtchenko ist ein visionärer Tänzer, der traditionelle Tänze und Schritte der in Russland lebenden Rom_nja ehrt und gleichzeitig moderne Tanzschritte mit Tanzstilen der Rom_nja verbindet. Der erste Teil dieser Sammlung enthält eine Reihe von Einzelbildern und Filmen, die nicht nur seine Laufbahn als Künstler und Tänzer, sondern auch als Lehrer dokumentieren.

Iourtchenko wurde 1957 in der Industriestadt Donezk in der Ukraine in die Volksgruppe der Vlach geboren. Im Alter von sechzehn Jahren stellte er sich erfolgreich bei der renommierten Kompanie des Romen Theaters in Moskau vor. Direkt nach der Aufnahme nahm er an Aufführungen teil und wurde so zum jüngsten Schauspieler, Tänzer und Sänger in der Geschichte des Romen Theaters.

Parallel dazu studierte Iourtchenko am Gnesenikh-Institut Theaterkunst, Tanz, Gesang und Kunstgeschichte. Von 1974 bis 1988 spielte er mit dem Romen Theater national in ganz Russland und international in Japan, Indien, Ex-Jugoslawien und weiteren Ländern. 1988 trat er mit der Truppe zum ersten Mal in Paris im Théâtre Mogador auf. 1989 verließ er das Romen Theater und kehrte nach Paris zurück, wo er in verschiedenen Kabaretts engagiert war, insbesondere im Kabarett Balalaïka, in der viele osteuropäische Künstler_innen auftraten. Dort traf er auf Pascal de Loutchek, einen Sänger und Gitarristen aus Russland, und auf Lilia Dalskaïa, eine Sängerin und ehemalige Schauspielerin aus dem Romen Theater. Gemeinsam gründeten sie das Trio Arbat, das später in New York, London, Oslo, Madrid, Budapest und anderen Städten sowie bei Festivals Auftritte hatte und insgesamt drei Alben aufnahm.

Im Jahr 1994 gründete Iourtchenko, mithilfe seiner Frau Anne-Marie Iourtchenko, in Paris die Kompanie Romano Atmo, was auf Romanes »Seele der Rom_nja« bedeutet. Die Truppe wurde mit dem Ziel gegründet, die Kultur, Tradition und den Tanz der Rom_nja zu erhalten. Iourtchenko entwickelte eine Tanzmethode, deren choreografische Sprache sich auf die Tradition seiner Heimat Russlands und die Kultur der Sinti und Roma aus ganz Europa stützt. Er hat diese Methode mit modernen Schritten erweitert. Für die Lehre setzt er Elemente seines Dialekts des Romanes sowie Russisch und Französich ein. Iourtchenko hat sich als Künstler, Tänzer, Choreograf und Lehrer weiterentwickelt und sein methodisches und choreografisches Repertoire unter anderem in Brasilien, Portugal und der Tschechischen Republik einem internationalen Publikum zugänglich gemacht.

Video: Interview Pétia Iourtchenko, L’enseignement de la danse zigane, Frankreich (2010).

Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Pétia Iourtchenko & Anne-Marie Iourtchenko – Private Archive

Tanzkompanie Romano Atmo

Pétia Iourtchenkos Kompanie Romano Atmo wurde 1994 in Paris gegründet. Es besteht aus Laientänzer_innen und Künstler_innen aus allen Bereichen des Lebens und schließt daher Tänzer_innen, Schauspieler_innen, Sänger_innen und Musiker_innen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen mit ein. Die meisten sind Nicht-Rom_nja aus Frankreich, andere Herkunftsländer sind Russland, Rumänien, Spanien und Polen. Auch eine junge achtjährige Tänzerin zählt zur Kompanie. Viele der Tänzer_innen arbeiten seit über zwölf Jahren eng mit Iourtchenko zusammen, während andere neu hinzugekommen sind.

Iourtchenko erklärt auf seiner Website:

»[dass das Unternehmen] eine Familie ist, die sich darum bemüht, ihre eigene Kunst und die Liebe zur Folklore der Rom_nja so umfangreich wie möglich weiterzugeben, durch Galaauftritte, neue Werke, Abendvorstellungen in Pariser Restaurants, offene Proben und jährliche Aufnahmeprüfungen für neue Tänzer_innen, die das erforderliche Niveau erreicht haben und ihre Liebe für diese Form des Tanzes auf der Bühne mit dem Publikum teilen möchten.«

Romano Atmo 2018

Romano Atmo kann vor französischem und internationalem Publikum auftreten und schafft es, durch seine Arbeit mit Nicht-Rom_nja bestimmte Traditionen der Rom_nja lebendig zu halten. Sänger_innen und Tänzer_innen tragen die traditionelle Kleidung der Ruska-Rom_nja. Sie basiert auf Trachten der Russ_innen und der Kalderash. Iourtchenko ist ein selbsternannter »Perfektionist«, der die Röcke jeder seiner Tänzerinnen persönlich gestaltet. In Übereinstimmung mit den Traditionen seiner Vorfahren entwirft er die Röcke basierend darauf, wie sich die Tänzerin bewegt und ihn inspiriert.

Tanzkompanie Romano Atmo, Frankreich (2017), Tänzer in »Avant nous étions des oiseaux«.

Rights held by: Marie Novikoff | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Pétia Iourtchenko & Anne-Marie Iourtchenko – Private Archive

Tanzkompanie Romano Atmo, Frankreich (2017), Tänzerinnen in »Avant nous étions des oiseaux«.

Rights held by: Marie Novikoff | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed by: Romano Atmo – Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Pétia Iourtchenko & Anne-Marie Iourtchenko – Private Archive

Seit 1994 gibt Iourtchenko seine Tanzmethode an Nicht-Rom_nja weiter. Im Zuge dieser Vermittlung lehrte er an der Académie des Arts Chorégraphiques, in Cité Véron in Paris, als Teil des Vereins MTK La Danse. Seit 2010 unterrichtet er Studierende der Schauspielabteilung an der internationalen Filmschule von Paris (EICAR). 2005 arbeitete er mit Marie-Claude Pietragalla und Julien Derouault für die Produktion »Ivresse«. Im Kino erschien er 2003 mit Romano Atmo in dem Film »Rire et Châtiment«, unter der Regie von Isabelle Doval mit José Garcia. 2011 trat Iourtchenko mit Ranbir Kapoor im Film »Rockstar« auf.

Werke von Pétia Iourtchenko

Die Kompanie Romano Atmo und Iourtchenkos Arbeit als Tänzer, Choreograf und Lehrer sind für die Tanzwelt von unschätzbarem Wert. Beide verkörpern nicht nur die Vergangenheit, stellen nicht allein künstlerische und historische Reflexionen dar, sondern bereiten zugleich einen Weg, den Rom_nja und Nicht-Rom_nja gemeinsam beschreiten können, um Traditionen und Kultur der Rom_nja zu zelebrieren. Durch den Tanz an sich, die Entwicklung von langen Tanzstücken oder das Angebot von Meisterkursen vermittelt Iourtchenko traditionelle Werte und Wissen an eine Nicht-Roma-Gemeinschaft. Überdies erhält und bewahrt er seine persönliche Herkunft als Rom mithilfe der Tanzkompanie.

Offizielles Plakat für »Mémoire d’un vieux Tzigane«, Paris, Frankreich (2015), Tanzkompanie Romano Atmo.

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Die Sammlung enthält eine Reihe von Bildern, die Iourtchenkos Tanz- und Unterrichtsarbeiten zeigen. Sie beinhaltet auch künstlerische Filme, die er mit der Tanzkompanie und/oder mit anderen Künstler_innen produziert und aufbereitet hat. Hinzu kommen auch einige Juwelen aus seinem persönlichen Archiv, die ihn als jungen Tänzer in Russland zeigen.

Wie bereits erwähnt, reiste Iourtchenko von Russland nach Frankreich und trug dabei die eigenen Traditionen als Rom mit sich. Während seiner Zeit in Paris ermöglichten Iourtchenkos Lehren somit auch die Bekanntschaft mit dem französischen Tänzer, Künstler und Filmemacher Simon Renou. Die beiden trafen einander 2011, und eine enge und kooperative Bindung wurde geboren.

Sinti und Roma in Frankreich

Frankreich bietet für Sinti und Roma aus verschiedenen Ländern eine Heimat. Ihre Herkunft wird häufig folgendermaßen unterschieden: Roms, Manouches oder Sinté und Gitans1. Nicht bekannt ist die genaue Anzahl der Roma und Sinti, die in Frankreich leben. Einige Regierungsbehörden schätzen die Zahl zwischen 200.000 und 400.000. Doch auch ihnen fehlt weiteres Wissen, weil es in Frankreich keine offiziellen Statistiken über ethnische Zugehörigkeiten gibt. Die vom Europarat geschätzten Zahlen belaufen sich auf etwa 400.000 im Jahr 2012; Wissenschaftler_innen sprechen von etwa 500.000. Der Verband für Rechte der Rom_nja in Frankreich (Fédération nationale des associations solidaires d'action avec les Tsiganes et les Gens du voyage, FNASAT) berichtet, dass in den vergangenen Jahren mindestens 12.000 Rom_nja aus Rumänien und Bulgarien eingewandert sind, von denen nun einige in inoffiziellen städtischen Lagern über das Land verteilt leben.

In der letzten Dekade wurde viel über Sinti und Roma in Frankreich berichtet. Dies geht auf die Deportationen von bulgarischen und rumänischen Rom_nja im Jahr 2009 zurück. Die französische Regierung hatte ein Programm initiiert, das darauf abzielte, vermeintlich illegale Lager im Land zu räumen. Die Situation stellte Frankreichs Umgang mit den Roma und Sinti in ein neues Licht.

Iourtchenkos und Renous Arbeiten sind in keiner Weise politisch, dennoch ist es wichtig, diese gegenwärtige Situation mit zu berücksichtigen. Schließlich kontextualisiert sie die Arbeit der beiden Künstler, wobei das Thema selbst gängigerweise von Polemiken umtrieben wird. Für Iourtchenko und Renou ist es wichtig, über die Kunst und Schönheit der Roma-Kultur zu sprechen und die positiven Aspekte der Gemeinschaft hervorzuheben.

Simon Renous Arbeit

Simon Renou (externer Link) ist ein französischer Künstler, Tänzer, Filmemacher, Regisseur und Bühnenkomödiant. Er hat über zwanzig Jahre Erfahrung in der Kunstwelt und war sieben Jahre lang Fernsehreporter. Renou ist eine neugierige Persönlichkeit, die von interdisziplinärer Arbeit inspiriert ist. Er schreibt Drehbücher, tritt als Tänzer und Clown auf und hat Preise für verschiedene Projekte gewonnen, die Tanz, computergestützte Bewegungsstudien (Motion Capture) und Animation verbinden.

Die Liebe zu den Arbeiten von Pétia Iourtchenko entwickelte Simon Renou im Jahr 2011, als er dessen Tanzstücke filmte. Noch während der Dreharbeiten fragte Renou, ob er sich Iourtchenkos Kurs anschließen könne. Er studierte sechs Jahre lang bei ihm und tanzte mit der Kompanie Romano Atmo. Derzeit verfolgt Renou neue Kooperationen und arbeitet an neuen Projekten. Er steht Romano Atmo weiterhin sehr nahe und ist in engem Kontakt mit Iourtchenko.

Die Sammlung von Renous Arbeiten für das RomArchive bietet eine einzigartige Quelle an Materialien zu Pétia Iourtchenkos Lehren und Choreografien. Es enthält auch ein kurzes Video über ein gemeinsames Projekt auf Grundlage von Bewegungsstudien (Motion Capture). Renou schätzt es, das Traditionelle mit dem Zeitgenössischen zu verbinden. Die Verwendung moderner Technologien ermöglicht ihm, einen Beitrag zur Fortschreibung des kulturellen Erbes der Sinti und Roma zu leisten.

Tanzfilm »Transmission«

»Transmission« (Frankreich, 2013) ist ein Kurzfilm über die künstlerische Arbeit von Pétia Iourtchenko, der eine eigene choreografische Sprache entwickelt hat. Der Film bringt Iourtchenko und die Tänzerin Alissa Doubrovitskaia auf die Bühne. Das Werk »Transmission« wurde dabei von allen drei Künstelr_innen gemeinsam kreiert. Renou sagt, dass in der Entstehung des Films die Art und Weise, in der jede/r Einzelne in alle Phasen involviert war, sowie die gegenseitige Beeinflussung einen Akt kooperativer Gestaltung darstellt. »Transmission« (Übertragung) wurde damit zum Symbol für die Arbeitsweise selbst.

Im Regiekommentar kommentiert Renou:

»›Transmission‹ ist ein Teaser, um zu zeigen, wie wundervoll die Tänze der Rom_nja sind, und um Pétias Charakter darzustellen. Pétia spricht über die Verbindungen zwischen Choreograf_innen und Tänzer_innen in der Tanzarbeit. Die Choreografie erzählt eine Geschichte über Darsteller_innen, Professor_innen und Schüler_innen. Als Regisseur möchte ich nur den Tanz zeigen und dem Publikum die eigene Interpretation ermöglichen. Ich habe mit Pétia und Alissa gemeinsam an der Choreografie und der Performance teilgenommen. Es ist kooperative Gestaltung.«

Simon Renou

»Motion Capture of a Russian Gypsy Dance«

Simon Renou ist nicht nur Tänzer, sondern auch bildender Künstler und Technologe. Er arbeitete mit Iourtchenko an einer Bewegungsstudie (Motion Capture) mit dem Titel »Motion Capture of a Russian Gypsy Dance«. Das Projekt ist Teil des Dokumentarfilms »Memory of an Old Gypsy«, der sich 2018 noch in Entwicklung befindet. Die Bewegungsstudie wurde mit dem Drematrix-Preis in Dresden ausgezeichnet. Der Film und der Trailer wurden 2013 gedreht, sie zeigten den Tänzer Kevin Souterre in Iourtchenkos Choreografie, mit Unterstützung der DREsdner MATRIX Computergrafik Gruppe der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTW Dresden).

»Motion Capture of a Russian Gypsy Dance« existiert nicht als eigenständiges Werk. Es ist der fiktive Teil des Dokumentarfilms, und es repräsentiert der Idee nach die »irre« Seite des Choreografen Pétia Iourtchenko. Die Bewegungserfassung ermöglichte es Renou, die Schritte und die Choreografie präzise zu dokumentieren und zu erhalten. Renous Vision, die Bewegungen von Iourtchenkos Tanzform der in Russland lebenden Rom_nja aufzuzeichnen, ist progressiv und wichtig für die Gemeinschaft des Tanzes.

Die Bewegungsstudien mit Motion Capture 3D ermöglichen dem Tanz, einer an sich immateriellen Kunstform, greifbar zu werden. Durch den Einsatz der Technologie werden die Schritte, die Choreografie und die Präzision der Bewegung dokumentiert und bewahrt. Sehr wenige Tänze der Rom_nja wurden, zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags, mittels Bewegungsstudien des Motion Capture aufgezeichnet. Ein Ausnahmebeispiel ist das Projekt Wholodance (Whole-Body Interaction Learning for Dance Education), finanziert vom EU-Programm Horizon 2020. Es erfasste die Tanzform des Flamenco und stellt somit auch eine wichtige Bereicherung für das Feld dar.

»Pétia Iourtchenko, Memory of an Old Gypsy«

Das Werk mit dem Titel »Pétia Iourtchenko, Memory of an Old Gypsy« (2015) existiert in verschiedenen Versionen. »Memoires d’un vieux Tzigane« oder »Memories of an Old Gypsy« ist die Bühnenfassung, geschrieben von Pétia Iourtchenko (externer Link). Es handelt vom Porajmos – dem Völkermord, begangen an den Sinti und Roma zur Zeit des Nationalsozialismus –, von den Tänzen der Rom_nja, der Liebe und dem Alter. Das Werk steht in starkem Kontrast zu Simon Renous Film.

Renou trat in der Inszenierung auch als Tänzer auf. Im Video »Duo d’amour« tanzt er mit der Tänzerin Cécile Joseph ein Duett. Auszüge aus der Aufführung sind hier zu sehen.

Der Film »Memory of an Old Gypsy« wurde von Renou geschrieben, jedoch nicht vollständig produziert. Er ist von Pétia Iourtchenko und dessen Arbeit beeinflusst. Renou hatte begonnen, Interviews anzufertigen und an dem Projekt zu arbeiten. Nach ein paar Jahren der Entwicklung des Films, auf der Suche nach finanzieller Unterstützung für den Animationsabschnitt, kam er jedoch zu dem Schluss, dass der Film zu ehrgeizig war. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Motion-Capture-Aspekt der Arbeit und auf die 3D-Modellierung. Die Sammlung enthält ein PDF-Dokument, das den Hintergrund der Choreografie und des Filmes in Bezug auf die Bewegungsstudien (Motion-Capture-Sequenzen) beschreibt. Die Sammlung von Pétia Iourtchenko zeigt auch Bilder der inszenierten Aufführung des Werkes.

Abschließend kann gesagt werden, dass Renou und Iourtchenko zusammenkamen, um die Tanzform der in Russland lebenden Rom_nja weiterzuentwickeln, zu bewahren, zu erforschen und zu honorieren. Beide tragen auch nach wie vor zu dem fortdauernden Vermächtnis der Tänze der Rom_nja in Russland bei.

Rights held by: Rosamaria E. Kostic Cisneros (text) — Mina Lunzer (translation) | Licensed by: Rosamaria E. Kostic Cisneros (text) — Mina Lunzer (translation) | Licensed under: CC-BY-NC 3.0 Germany | Provided by: RomArchive