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Rosamaria E. Kostic Cisneros

Italien und Serbien: die Ivana Nikolic Collection

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Ivana Nikolic: Erdelezi ethnic #2

unknown | Ivana Nikolic: Erdelezi ethnic #2 | Photographie | Italien | 2015 | dan_00226 Licensed by: Ivana Nikolić — Ternype Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive

Übersicht Serbien

Die Ankunft der Rom_nja auf dem Balkan geht auf das vierzehnte Jahrhundert zurück. Jelena Čvorović (2009) weist darauf hin, dass »das früheste erhaltene Dokument über die Roma1 in Serbien aus dem Jahr 1348 stammt. In Serbien und in den übrigen südslawischen Ländern unter türkischer Herrschaft bildeten die Roma eine eigene ethnische Gruppe, die abgeschieden in mohalas, Städten oder Ghettos lebten [...].«

Nach offiziellen Angaben gibt es heute 149.000 Rom_nja in Serbien, womit sie ungefähr zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Anderen Schätzungen nach leben aber in sogenannten informellen Siedlungen mindestens 500.000 unregistrierte Rom_nja. Wegen des Stigmas, das die ethnische Zugehörigkeit mit sich bringt, entscheiden sich viele Rom_nja für die »ethnische Mimikry«, das bedeutet, sie identifizieren sich mit der Mehrheitsbevölkerung.2 Viele Migrationswellen der Rom_nja nach Serbien gingen nachweislich von Rumänien, von der Türkei sowie von Bosnien und Herzegowina aus, aber es fehlen genaue Zahlen darüber, wie viele Rom_nja tatsächlich ins Land eingewandert sind.

Aufgrund der schwierigen politischen Lage in der Region wurde das ehemalige Jugoslawien, das aus sechs Republiken bestand, in unterschiedliche Länder aufgeteilt. Auf diese Weise sahen sich nicht nur die Nationalitäten, sondern auch die im Land lebenden ethnischen Minderheiten mit völlig veränderten sozialen Realitäten konfrontiert. Tanz, Musik und Kultur beschränkten sich nicht länger nur auf die Balkanregion, sondern zogen mit den Familien, die entweder gezwungenermaßen oder freiwillig in andere Länder emigrierten, in die neuen Gastländer ein.

Die Sammlung

Als Beispiel soll hier eine junge Roma-Tänzerin aus Serbien genannt werden: Ivana Nikolic. Ihre Familie verschlug es während der politischen Turbulenzen in Jugoslawien nach Turin, Italien. Nikolic beendet 2018 ihre Tanzausbildung an einer angesehenen italienischen Universität und ist nicht nur Aktivistin, sondern auch eine Künstlerin, die den Tanz als Mittel des sozialen Wandels betrachtet.

In dieser Sammlung werden fünfundvierzig Farbaufnahmen und einige Videos, die die Tänzerin auf der Bühne oder im öffentlichen Raum zeigen, präsentiert. Auf einem Dutzend Bilder ist sie in den traditionellen Gewändern der Romnja zu sehen.

Serbischer Volkstanz

In Serbien sind balkanische Volkstänze beliebt. Beim Kolo, der wohl am häufigsten getanzt wird, halten sich die Tänzer_innen aneinander fest und tanzen im Kreis. Der Lesa-Tanz wird sowohl in einer einzelnen Reihe als auch in zwei parallelen Reihen getanzt, wobei man sich nach links und rechts, aber auch nach vorne und hinten bewegt. Diese beiden Reigentänze werden in Serbien häufig getanzt, Einzel- oder Paartänze sind hier selten.

Die Ursprünge von sehr alten zeremoniellen Tänzen wie Dodole, Lazarice und Kraljice gehen auf heidnische Fruchtbarkeits- oder Regenrituale zurück. In früheren Zeiten wurden diese Tänze vorwiegend zu Anlässen wie Geburten, Initiationen, Hochzeiten oder Beerdigungen getanzt.

Carol Silverman erforscht in ihrem Buch »Romani Routes« (2012) die Kultur und die Balkanmusik in der Diaspora und führt aus, dass die Reigentänze der Rom_nja zur Čoček-Musik getanzt werden. Doch je nachdem, wo die Tanzenden leben, wie alt sie sind und welcher Gruppe sie angehören, unterscheiden sich die Tänze in Stil und Schrittfolge. In Mazedonien, im Kosovo und in Südserbien ist der manchmal Oro genannte Reigentanz der beliebteste. Schrittfolge und Rhythmus auch dieses dreiertaktischen Tanzes unterscheiden sich von Ort zu Ort.

Der Čoček-Reigentanz ist einer der Haupttänze der serbischen Rom_nja, aber auch bei den türkischen und balkanischen Rom_nja sehr beliebt. Nach Silverman (2012) ist der čoček, cucek, wie er in Mazedonien und im Kosovo genannt wird, oder Kyuchek, wie ihn die Bulgar_innen nennen, der charakteristischste Solotanz der Rom_nja und bezieht sich auf den Reigentanz. Beim Solo-Tanz, improvisiert die Tänzerin bzw. der Tänzer und benutzt Handgesten, Bauchrolle, Hüftbewegungen und Schulterkreisen, aber auch Sprünge, Drehungen und kleine improvisierte Schritte. Männer und Frauen heben Hände und Arme, lassen die Schultern kreisen und schnippen mit den Fingern. Die Frauen rollen mit den Hüften, aber zurückhaltender als beim Bauchtanz des mittleren Ostens. Der Tanz der Männer ist außerordentlich kraftvoll und dynamisch, mit zahlreichen Sprüngen, In-die-Hocke-Gehen, Schläge auf den Körper, Fußstampfen und anderen perkussiven Elementen (Peretz 2006).

1967 reiste Elsie Dunin erstmals nach Skopje in Mazedonien. In den folgenden Jahrzehnten dokumentierte sie zahlreiche Tänze der Rom_nja. Dabei hielt sie fest, wie die Solotänze, die früher ausschließlich im privaten Kreis getanzt wurden, im Laufe der Zeit ihre »originale« Form verloren und der Aufführungspraxis auf der Bühne angepasst wurden:

»Solo wurde der Tanz nur bei streng privaten Gelegenheiten aufgeführt, wie zum Beispiel während den fünftägigen Hochzeitsfeiern, den dreitägigen Feiern anlässlich der Beschneidung des Sohnes oder den Feiern zur Namenstaufe eines Neugeborenen. Während der Feierlichkeiten musste sich jede Frau von ihrem Sitzplatz auf dem Boden erheben und eine Art »Bauchtanz« tanzen, bei dem sie den Bauch senkrecht von oben nach unten bewegte (nach der Laban-Notation handelt es sich dabei um eine Rollbewegung des Beckens), mit den Armen ungefähr in Schulterhöhe improvisierte, mit den Fingern schnipste und rhythmisch auf der Stelle trat – meist in einem Neunachteltakt. Zur musikalischen Begleitung engagierte man eine Romnja die sang und in der linken Hand ein Tamburin hielt; wohlhabendere Familien benutzten einen Schallplattenspieler für 7-Zoll-Platten und spielten türkische Musik im Neunachteltakt.«

Dunin 2006, S. 183

Silverman (2012) beschreibt, wie diese Balkantänze im modernen Kontext »konsumiert« und »reproduziert« werden, und sie analysiert genau, wie die Gemeinschaften die Tänze für sich adaptierten und deren Musik und Tanz manchmal sogar vollkommen zu eigen machen.

unknown | Ivana Nikolic Dance Costume #15 | Photographie | Italien | 2017 | dan_00264 Licensed by: Ternype Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive

Ivana Nikolić

Ivana Nikolić ist Tänzerin, Künstlerin und Sozialaktivistin. Das Tanzen hat sie von den älteren Frauen ihrer Familie gelernt (von ihrer Mutter, ihrer Großmutter und ihren Tanten), die ihr von klein auf die Tänze des Balkans beibrachten, und tanzt, seit sie fünfzehn ist, auf der Straße. Sie war regelmäßige Besucherin eines Sozialzentrums für Familien aus sozialschwachen Schichten. In diesem Zentrum lernte Nikolic den Hip-Hop kennen, im Gegenzug brachte sie den Nicht-Rom_nja unter den Besucher_innen des Zentrums die Tänze der Rom_nja bei. Der Austausch zwischen den jungen Leuten inspirierte und ermunterte sie dazu, eine Tanzausbildung zu beginnen. Sie liebt es, verschiedene Tanzstile miteinander zu kombinieren, und interessiert sich außerdem für die Geschichte anderer Kunstdisziplinen, die sie in ihren eigenen modernen Tanz integriert.

Als Choreografin für modernen Roma-Tanz kombiniert sie die Roma-Tänze nicht nur mit afrikanischen und indischen Tänzen, sondern greift auch auf Volkstänze oder den Bauchtanz zurück. Zusammen mit Balletttänzer_innen erarbeitete sie moderne Tänze, die in ganz Italien aufgeführt wurden. Eine ihrer Solo-Arbeiten trägt den Titel »Ederlezi« und ist ein großartiges Beispiel für eine moderne Choreografie, die sich der Roma-Tradition bedient: Nikolic benutzt traditionelle Tanzschritte der Rom_nja und kombiniert sie mit modernen Tanzschritten und Bewegungen.

»Ederlezi« ist ein traditionelles Volkslied der Roma-Minderheit auf dem Balkan und nicht nur der Name eines altes Frühlingslieds, mit dem die Rom_nja auf dem Balkan und in der Türkei die Rückkehr des Frühlings feiern, sondern auch der Roma-Name für das bulgarische, mazedonische und serbische Sankt-Georgs-Fest. Es wird am 6. Mai beziehungsweise am 40. Tag nach der Frühlingstagundnachtgleiche gefeiert. Auf dem Balkan sind auch andere Schreibweisen wie Herdeljez oder Erdelezi geläufig, sie gehen jedoch alle auf das türkische Hıdırellez (externer Link) zurück, das am Tage des Frühlingsanfangs gefeiert wird.

unknown | Ivana Nikolic: Erdelezi ethnic #2 | Photographie | Italien | 2015 | dan_00226 Licensed by: Ivana Nikolić — Ternype Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive

Nikolic ist eine bescheidene und sehr neugierige junge Tänzerin, die sich von den zahlreichen Möglichkeiten des Tanzes anregen lässt. Doch ihr Roma-Hintergrund wird für sie immer eine Quelle des Stolzes und der Inspiration bleiben. Sie hat eine bosnische muslimische Mutter und einen serbisch-orthodoxen Vater, von denen sie behauptet, er habe ihr die Grundprinzipien und Traditionen der Roma-Gemeinschaft beigebracht. Die Umstände, unter denen sie aufwuchs, seien schwierig gewesen, da die Familie die langen Jahre des Balkankrieges in »Zigeuner-Lagern« in Italien verbringen musste. Trotzdem seien ihre Eltern unglaublich stark gewesen und hätten sie nicht nur die Grundlagen und die Traditionen der Roma-Kultur gelehrt, sondern auch Demut, Neugier und den Respekt für kulturelle und soziale Vielfalt.

Ternype Dance Company

Als junge Profitänzerin gründete Ivana Nikolic 2015 ihre eigene Tanzgruppe und nannte sie Ternype Dance Company. Sie leitet diese Truppe, für die sie auch die Choreografien entwickelt. Rom_nja und Nicht-Rom_nja tanzen zusammen, und ihre Tanzgruppe wurde schon zu mehreren nationalen und internationalen Tanzfestivals eingeladen. Das Ziel der Ternype Dance Company ist es, mit dem Tanz auf die Schönheit der Roma-Kultur hinzuweisen, Vorurteile abzubauen und die Rom_nja in neuem, positivem Licht zu zeigen. Der Tanz überwindet Nikolics Meinung nach Grenzen und feiert die Menschlichkeit, denn das Wort »Rom« bedeutet nichts anders, als »Mensch zu sein«.

unknown | Ternype Dance Group #10 | Photographie | Italien | 2017 | dan_00244 Licensed by: Ivana Nikolić — Ternype Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive
unknown | Ternype Dance Group #8 | Photographie | Italien | 2017 | dan_00242 Rights held by: Vincenzo Maiorano | Licensed by: Ivana Nikolić — Ternype Dance Company | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive

Der Film »Opre Roma!«

Ivana Nikolic ist eine der Protagonist_innen des Films »Opre Roma!« (Italien, 2017) von Paolo Bonfanti (Calamari Union Productions).

Nach Aussage des Regisseurs Paolo Bonfanti zeigt der Film nicht nur die Geschichte sowie die Ursprünge, Sitten und Gebräuche der Rom_nja, sondern gibt ihnen auch die Gelegenheit, die eigenen Erfahrungen selbst zu Gehör zu bringen. Vor allem lege man Wert darauf, mit Hilfe von Geschichte, Kunst, Musik, Kultur und Alltag die wahre Realität der Rom_nja zu zeigen, ohne sie, wie dies meist geschieht, auf ihre sozialen Probleme und negativen Ereignisse zu reduzieren.

Der Film besitzt zwei Teile, die sich ergänzen und ineinandergreifen: einen rein kulturhistorischen Teil und einen biografischen Teil, in dem einige Rom_nja zu Wort kommen. Sie erzählen alltägliche, aber auch außergewöhnliche Geschichten aus ihrer Vergangenheit, die oft von einer schwierigen Vergangenheit im Zusammenhang mit ihrer ethnischen/kulturellen Identität, aber auch von einem positiven Epilog geprägt sind.

Ivana Nikolić – Ternype Dance Company | OPRE ROMA Movie Clip Ivana Nikolic-Ternype Dance Company and Paolo Bonfati | Non Fiction | Italien | 2017 | dan_00231 Directed by: Paolo Bonfanti | Licensed by: Calamari Union Production (Bergamo/Italy) | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Ivana Nikolić – Private Archive

Intention des Films

Ziel des Projektes war es, einen innovativen Film über die Roma-Kultur zu drehen, in dem die Rom_nja selbst ihre eigenen einzigartigen Geschichten erzählen. Der Dokumentarfilm sollte einerseits historisch und kulturell wertvoll sein, andererseits aber in soziopädagogischer Hinsicht all jenen hilfreich sein, die sich für die Themen interkulturelle Erziehung und Integration interessieren. Die Rom_nja waren von jeher Misstrauen und Diskriminierung, Verfolgung und sogar Völkermord ausgesetzt, doch gehören sie zu der größten und ältesten Minderheitengruppe Europas und sind somit mit ihm und seinen Bewohner_innen sehr tief verwurzelt.

Im Kommentar zum Film erklärt Regisseur Paolo Bonfanti, dass alle am Film Beteiligten davon überzeugt seien, dass Aufklärung das wichtigste Mittel sei, anderen Menschen näherzukommen und sie verstehen zu lernen, ohne dabei die schwierige Realität der Rom_nja zu verleugnen oder in reine Rhetorik zu verfallen. Dies helfe uns, die gemeinsame Menschlichkeit der Menschen jenseits ihrer Gruppenidentität zu erkennen und gegen stereotype Kategorisierung und damit verbundene Entwürdigung anzukämpfen.

»Opre Roma!« basiert auf Paolo Bonfantis Grundidee, Mittel und Möglichkeiten zu bieten, wodurch das wahre Wesen der Roma-Kultur jenseits aller Klischees hervortreten kann, und zwar dadurch, dass man die Rom_nja endlich selbst zu Wort kommen lässt.

Rights held by: Rosamaria E. Kostic Cisneros (text) — Ira Wilhlem (translation) | Licensed by: Rosamaria E. Kostic Cisneros (text) — Ira Wilhlem (translation) | Licensed under: CC-BY-NC 3.0 Germany | Provided by: RomArchive