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Andrea Pócsik

Das östliche Narrativ und die filmische Repräsentation der Sinti und Roma

Einleitung

Alle Nationen besitzen Mythen, die auf ihre Herkunft verweisen. Das kulturelle Gedächtnis der Sinti und Roma hat einige dieser Mythen bewahrt. Manche von ihnen sind Schöpfungsmythen mit biblischen Elementen, andere sind Erzählungen eigenen Ursprungs. Da das Nacherzählen dieser Geschichten den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde, möchte ich nur zwei dieser Mythen hervorheben. Beide wurden verfilmt und verkörpern symbolisch das zentrale Thema dieses Aufsatzes: die unterschiedlichen Darstellungen der Sinti und Roma im Osten und im Westen. Meine Analyse steht in engem Austausch mit Bohumira Smidakovas Aufsatz über die Repräsentation von Rom_nja in westlichen Narrativen.

Die Geschichten vom »Romany Mirror« (›Spiegel der Rom_nja‹) und »Once we were birds« (›Einst waren wir Vögel‹)

Beide Mythen-Arten beziehen sich – auf sehr unterschiedliche Weise – auf die Zeit der Wanderung. »Tales From the Endless Road« (›Geschichten einer endlosen Straße‹, Finnland, 2002) von Katariina Lillqvist ist eine sechsteilige Puppenanimationsserie über die Auswanderung aus Indien. Der englische Titel bezieht sich auf das Erzählgenre und den Akt der Wanderung, während der Titel in Romanes, »Mire bala kale hin« (›Das Mädchen mit langem schwarzen Haar‹, Finnland, 2002), auf den Ursprungsmythos verweist, der auch im ungarischen Zeichentrickfilm »Doja, a cigány tündér«/»Doja, the Gypsy Fairy« (›Doja, die Zigeunerfee‹, Ungarn, 2015) auftaucht.1

Cigánymesék: Doja a cigánytündér | fil_00060_m1_i1 Rights held by: Mária Horváth | Licensed by: Kecskemétfilm Ltd. | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Kecskemétfilm Ltd. (Kecskemét/Hungary)

Eine hier erwähnenswerte Episode ist die mit dem Titel »Romany Mirror« (›Spiegel der Rom_nja‹). Die Episode beschreibt die Reise der Rom_nja aus Indien. Die Rom_nja wurden vom persischen König eingeladen, seinen königlichen Hof mit ihrer Musik zu unterhalten. Ein wichtiges Element des Beginns dieser Migration ist die Bereitstellung von Musik als Dienstleistung, welche tatsächlich ein integraler Bestandteil der Geschichte der Rom_nja ist. Sie zeigt mögliche Assimilationsformen auf und definiert symbolisch die Vielfalt ihrer Kultur. Genau dies halte ich für einen grundlegenden Mythos der »westlichen« Repräsentation.

Latcho Drom | fil_00227_m1_i1 Rights held by: Tony Gatlif | Licensed by: KG Productions | Licensed under: Rights of Use | Provided by: KG Productions (Montreuil/France)

Musik, Umherziehen, Assimilation und Separation sind charakteristische Themen vieler Filme des RomArchive (zum Beispiel Tony Gatlifs »Latcho Drom« (›Gute Reise‹, Frankreich, 1993), Pisla Helmstetters »From the Source to the Sea« (›Von der Quelle bis ans Meer‹, Frankreich, 1989) und »The Black Sarah« (›Die schwarze Sarah‹, Finnland, 2002), einer weiteren Episode aus der bereits erwähnten Puppenanimationsserie von Katariina Lillqvist). So nimmt beispielsweise auch der südfranzösische Wallfahrtsort Saintes-Maries-de-la-Mer eine wichtige Stelle in der Erinnerungskultur der Sinti und Roma ein. Der Ort verbindet die Ankunft der Sinti und Roma in Europa mit biblischen Motiven. Rom_nja, Sinti_ze, Manush, Gitanos und Traveller aus ganz Europa, insbesondere aus West- und Südeuropa, besuchen die Statue der heiligen Sarah (der Hausheiligen der Rom_nja) in der dortigen Kirche, während sie ihre transnationale Einheit mit Tanz und Musik zelebrieren.

In den »östlichen« Darstellungen nimmt die Wanderbewegung der Rom_nja stilisierte, poetische Formen an, so beispielsweise in »Once we were birds« (›Einst waren wir Vögel‹, Sowjetunion, 1982) oder in »The Never Existed Gypsyland« (›Das Zigeunerland, das es nie gab‹, Ungarn, 2010). Letzter ist ein Zeichentrickfilm von Katalin Macskássy, in dem die Rom_nja von Vögeln symbolisiert werden, die zum Essen hinunterkommen und sich so sehr überfressen, dass sie nicht mehr fliegen können. Diese Geschichte repräsentiert die Gier als eine Todsünde, als eine Handlung mit fatalen Folgen. Der Film »erklärt« mit ihr die soziale und ökonomische Lage der Rom_nja, die ihre Freiheit aufgegeben haben.

Bilder einer »Nation ohne Geschichte«

Bohumira Smidakova hat mit der Geschichte der sich verändernden Bilder der spanischen Rom_nja ein wichtiges »westliches« Narrativ herausgearbeitet. Ihre Analyse fokussiert den Gitano als Baustein eines nationalen Diskurses. Mein Ziel ist es, hauptsächlich anhand von illustrativen Fallstudien aus Ungarn, ein »östliches« Narrativ dieser Repräsentation zu formulieren.

Relevante Literatur darüber ist nur teilweise vorhanden. Zwar kommt das Thema bei einigen Autor_innen vor, meist wird es aber fast ausschließlich anhand von Beispielen aus den Künsten (das heißt Literatur und bildender Kunst) behandelt. Eine Schlüsselfigur ist dabei die deutsche Literaturhistorikerin Katie Trumpener. In ihrer Arbeit analysiert sie die Repräsentation der Sinti und Roma und die Beziehung zwischen Konzeptualisierungen bestimmter historischer Ereignisse (zum Beispiel der Verfolgung von Sinti und Roma während des Nationalsozialismus) und der Repräsentation von Roma und Sinti als einer Gruppe, die außerhalb der Geschichte steht. Das Konzept der »sub-humanen Andersheit« ähnelt dem des Subalternen in postkolonialen Theorien und evoziert die Position der diskursiven (und realen) Unterordnung.

Eine wichtige, erwähnenswerte Arbeit ist auch Éva Kovács’ Analyse des Roma-Bildes in der ungarischen Kunst. Kovács schreibt:

»Die mitteleuropäischen Gesellschaften generieren in entfernten und nahegelegenen Kolonien mit ›wilden‹ Gruppen und Individuen ihre eigenen ›Schwarzen‹. Im panoptischen Regime der Moderne in Mitteleuropa werden die ›Zigeuner‹ zum entsprechenden Gegenstück der afrikanischen und asiatischen ›Primitiven‹ Westeuropas.«

Kovács 2009, 84

In den nächsten Abschnitten stelle ich vier aufeinanderfolgende Perioden der Repräsentation der Sinti und Roma vor. Ich zeige, dass die Repräsentation von Roma-Musiker_innen und deren Musik von der Ära des aufgeklärten Absolutismus bis zur Moderne eng mit den Prozessen der Nationenbildung und der nationalen Unabhängigkeit in Mittel- und Osteuropa verbunden war. Um die Jahrhundertwende und danach konzentrierte sich ihre Darstellung auf die marginale (soziale) Situation der Roma und Sinti.

»Zugvögel«

Die erste Periode reicht vom Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Von technischen Repräsentationen visueller Art zu sprechen, ist für diesen Zeitraum noch zu früh; erst das Erscheinen von Fotografie und Film ist für die Entwicklung des modernen Bilds der Sinti und Roma entscheidend.

Wichtig für diese Zeit ist die sich entwickelnde Gesellschaft von sprachlich assimilierten Roma-Musiker_innen als Folge gewaltsamer staatlicher Bestrebungen, die auf Roma-Assimilation, die Verbreitung von Roma-Musik als Dienstleistung und ihre Rolle im Entstehen einer ungarischen Nation abzielen. Infolgedessen werden Roma und Sinti zunehmend (zum Beispiel in Medienillustrationen oder in der Literatur) anhand von Motiven dargestellt, die sich auf die Musik und das Herumziehen beziehen. Mit der Zeit werden diese Bilder stärker oder verändern sich.

In ihrer Studie über Illustrationen in ungarischen Medien der Zeit zwischen 1850 und 1870 schreibt Emese Révész:

»All die Aufmerksamkeit, die sich den [Rom_nja] zuwandte, lässt sich nur zum Teil durch die romantische Tradition erklären, in der der wandernde Lebensstil die Freiheit als Grundlage individueller Selbstbestimmung verkörperte und zugleich den Zustand sozialer Marginalisierung symbolisierte. Nach dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit wurden die wandernden ›Zigeuner‹ mit Ungar_innen parallelisiert, die ihre Rechte in ihrem eigenen Land verloren hatten; sie wurden als Freiheitskämpfer_innen angesehen, die sich als Flüchtlinge und als staatenlose Emigrant_innen verstecken mussten. ›Diese Nation ist vergleichbar mit Zugvögeln: Sie haben kein Zuhause, keine Religion, keine nationale Bekleidung [...], eine überall verfolgte Gruppe, von überall verbannt; und doch findet man sie überall‹ – Zeilen voller Mitgefühl aus Képes Világ [Die Welt in Bildern].«2

Révész 2015, 297–305

»Geboren, um ein Dichter zu sein ... geboren, um ein Schurke zu sein«3

In der folgenden Periode, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1910er Jahre, im Zeitalter der visuell zentrierten Moderne, führte die Verbreitung technischer Bilder und populärer Zeitschriften zusammen mit gesellschaftlichen Veränderungen zu unterschiedlichen Repräsentationsmustern. Péter Szuhay hat in seiner historischen Studie über die Fotografie die folgende Dualität in der Darstellung von Sinti und Roma während der Zeit der Jahrhundertwende in Studio- und in ethnografischen Fotografien festgestellt:

»Die ältesten Bilder von ›Zigeunern‹ in den Archiven zeigen sie als die wilden Männer Europas. Die historischen Fotograf_innen des 19. und 20. Jahrhunderts, die das ›Zigeunerbild‹ in der Literatur und der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewahrt haben, kannten zwei Kategorien von ›Zigeunern‹. Ein Typus des ›Zigeuners‹ sind die Konformist_innen, gehorsam, sich der Autorität und allgemeinen kulturellen Normen fügend, normalerweise Musiker_innen. Auch wenn sie nicht allzu fleißig sind, können sie doch mit ihrer Musik das Publikum begeistern und das Ansehen des Landes stärken. Das Gegenteil dieser sesshaften und jovialen ›Zigeuner‹ sind die wilden und rücksichtslosen, geheimnisvollen, unerkennbaren, freiheitsliebenden, aber sozial gefährlichen, wandernden ›Zigeuner‹. Die Fotograf_innen jener Zeit waren an letzterer Gruppe interessiert. [...] Die Sozialwissenschaftler_innen schossen Bilder von ›Zigeunergruppen‹ im Freien, in ihrer natürlichen Umgebung, während die Fotograf_innen Ateliers bevorzugten, um die exotische und wilde Seite in ihren Fotografien zu verewigen.«

Szuhay 2002, 98

Solche Einstellungen waren keine ungarische Besonderheit: Die Praxis des Studiums und des Ausstellens afrikanischer und asiatischer »Primitiver« im Rahmen populärer, sozialwissenschaftlicher Vorträge, in Ausstellungen in Museen oder sogar auf Postkarten hat die Darstellung dieser Gruppen für lange Zeit bestimmt (Griffiths 2001; MacDougall 2005).

So analysiere ich in einer anderen Studie (Pócsik 2017a, 2017b) mithilfe einer verlorenen, aber rekonstruierten Wochenschau, die bisher nur durch Beschreibungen bekannt war, ein anderes Beispiel: den Fall des Dános-Verbrechens. Der Fall war damals eine Sensation, die in den Massenmedien weit verbreitet wurde – vermischt mit fiktiven Elementen und typischen Genreeigenschaften (zum Beispiel die des Hühnerdiebs). Herumziehende »Zigeuner« waren die mutmaßlichen Verdächtigen.4

In meiner aktuellen Studie analysiere ich detailliert den dominanten Diskurs zur Zeit der kriminalisierten Andersheit. Die repräsentativen Konsequenzen dieses Falles fasse ich folgendermaßen zusammen:

»Die exotischen Primitiven erwachten auf der Leinwand zum Leben. In unterhaltsamen und amüsanten Szenen stellten sie ihre schlechten Angewohnheiten zur Schau und die Gründe dar, weshalb sie gesellschaftlich ausgestoßen waren. Diese farbenfrohe Fiktion wurde durch ein Foto als evidenten Beweis ergänzt, das die Verdächtigen, die mutmaßlichen Mörder, zeigte. In den Filmen um die Jahrhundertwende wurden nicht nur Fiktion und Realität vermischt, sondern auch der mit seinen phänotypischen Merkmalen (hauptsächlich dunkle Hautfarbe) identifizierbare ›Zigeuner‹ konstruiert. Durch Filmform und Erzählung wurde der ›Zigeuner‹ leichter identifizierbar. Die vermeintlichen oder tatsächlichen negativen Eigenschaften der kriminalisierten ›Wanderzigeuner‹ erreichten die stratifizierte Gesellschaft viel effektiver (und zielten auf alle Sinne der Wahrnehmung).«

Pócsik 2017a, 121; Pócsik 2017b, 7

An dieser Stelle ist an die literarische und theatralische Repräsentation der Afroamerikaner_innen zu erinnern. Die wichtigsten, viel zitierten Figuren aus dem Roman »Onkel Toms Hütte« aus dem 19. Jahrhundert (Bogle 1973) dienten später als Inspiration für verschiedene Produkte der Populärkultur (Hall 2003).

Die symbolische Ausgrenzung wurde teilweise von einer »Ausstoßung aus der Nation« begleitet: Ich habe diese Beobachtung hervorgehoben, als ich Parallelen zwischen dem oben erwähnten Fall Dános und den Folgen der jüngsten Mediengewohnheiten gezogen habe. Dafür gibt es anschauliche Beispiele aus ganz Europa: In Westeuropa sind die Ziele Rom_nja aus Osteuropa, die in der Regel als Wirtschaftsflüchtlinge anreisen. In Ungarn und Umgebung werden unsere eigenen Landsleute, die seit Jahrhunderten sesshaft sind, Opfer symbolischer und physischer Ausgrenzung (Delcour und Hustinx 2017).

»Flügel der Kunst: Ungarische Intellektuelle unter ideologischem und politischem Druck«

Die Überschrift dieses Kapitels ist ein Zitat aus der Einleitung eines Buches, das die außergewöhnliche kulturelle Hinterlassenschaft von Roma-Musiker_innen dokumentiert. Das Buch basiert auf der Sammlung des Journalisten Miklós Markó. Es erschien 1896 (neuaufgelegt 1927) unter dem Titel »Das Album der Zigeunermusiker_innen – Porträts und Lebensläufe von 48 verstorbenen und 65 in der Hauptstadt oder im Land lebenden Musiker_innen, 13 Aufnahmen von Musikkapellen sowie Porträts von 180 Hilfsmusiker_innen«.

Die sich ausbreitende nationalistische Ideologie und der politische Druck übten bald ihre Wirkung auf die (filmische) Repräsentation der Rom_nja aus. Ein Beispiel aus einer späteren Zeit, das die Festigung der Roma-Musiker-Stereotypen zeigt, ist ein ungarisches Melodram aus den 1940er Jahren, »Pista Dankó« (Ungarn, 1941), unter der Regie von István Kalmár. Während das Thema dieses Films nicht direkt mit politisierten, musikwissenschaftlichen Debatten in Verbindung steht, stehen seine Verzerrungen jedoch im Einklang mit ihnen. Die verfälschte Lebensgeschichte des berühmten Komponisten Pista Dankó im gleichnamigen Film porträtiert mittels verwickelter Intrigen die Opferhaftigkeit des männlichen Protagonisten, der von dem Schauspieler Pál Jávor gespielt wurde. Dieser spielte auch in anderen Genres den Charakter des »munter Weinenden« (sírva vigadó úr).5

Julie Brown nähert sich aus postkolonialer Perspektive diesem Diskurs, der über die Musikwissenschaft hinaus wichtig war und Béla Bartóks Volksmusiksammlung beeinflusste. In dem Sammelband mit der Studie werden die Ergebnisse in folgender Weise zusammengefasst:

»Brown verfolgt das Konzept der ›Hybridität‹ durch Bartóks spätere Essays und stellt fest, dass sich sein Verständnis von Bauern- und Roma-Musik weiterentwickelt hat. Als er anfing zu akzeptieren, dass Bauernmusik nicht ohne eigene Synkretismen war, verschob sich seine Klassifikation auf den zentralen Gegensatz zwischen der ›schlechten Hybridität‹ der Roma-Musik und der ›guten Hybridität‹ der Bauernmusik. In dieser von der linken Kritik an der Massenkultur beeinflussten Opposition wurden die Rom_nja mit dem Makel des städtischen und kommerziellen Musizierens in Verbindung gebracht, während die Bauernschaft Sinnbild für einen ländlichen, natürlichen Zustand musikalischer Grazie war. Zu Beginn der 1930er Jahre brachte die Bedrohung durch die Amerikanisierung eine Neugestaltung mit sich. Bartók begann, die Roma-Musik als spezifisch ungarische, städtische Populärmusik zu schätzen. In derselben Zeit, so argumentiert Brown, sei Bartók sich der Zunahme ultranationalistischer faschistischer Parteien in Mitteleuropa bewusst geworden und hätte die Parallelen zwischen seinen eigenen ursprünglichen Ansichten bezüglich der Rom_nja und der extremen rassistischen Rhetorik und den Unterdrückungshandlungen in Deutschland gesehen. In seinen späten Schriften entwickelte Bartók einen Diskurs des de-rassifizierten Nationalismus und porträtierte Roma-Musik als ein Produkt sozialer Unterdrückung. Zur gleichen Zeit, so Brown, leitet sein Concerto for Orchestra (1942) eine Art psychokulturelle Versöhnung durch die Integration von Roma- und Bauernmusikelementen ein.«

Born und Hesmondhalgh 2000, 11

»Im Geiste ihrer Klagesänger_innen ...«6

In der Nachkriegszeit (sowie im nachfolgenden, postsozialistischen Zeitraum) dominierten in Ungarn (und höchstwahrscheinlich auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas) bei der Repräsentation in der Filmkultur die soziologischen Ansätze. In Dokumentarfilmen und Spielfilmen, die benachteiligte soziale Situationen darstellen – mit, je nach ideologischer Haltung, unterschiedlichen Deutungen und Analysen von »Rückständigkeit« –, wurde der soziologische Ansatz zum Gemeinplatz. Neben seinem Nutzen hat er auch viele Probleme mit sich gebracht.

In einigen Fällen wurde die Darstellung der Rom_nja mit der populären Musikkultur assoziiert (zum Beispiel in den Filmen von Emir Kusturica, denen Goran Bregović und sein Orchester ein wichtiges filmisches Markenzeichen aufdrückte). Sie basierte jedoch hauptsächlich auf der Position der Opferrolle. Die negativen Stereotype in der Presse sowie überladene Klischees in Bezug auf Bildung, Wohnsituation und Beschäftigung haben die Situation weiter verschärft.

Diese Art der Darstellung ist offensichtlich aus dem gegebenen sozialen Umfeld erklärbar. Sie besitzt diesbezüglich eine unbestreitbare Bedeutung. Das Narrativ der Opferschaft gibt es auch in Sándor Sáras Film »Cigányok« (›Zigeuner‹, Ungarn, 1962), den ich in einer früheren Studie zur Verwendung des Romanes im Film analysiert habe. Ein weiterer wichtiger Film ist Pál Schiffers »Gyuri Cséplő« (Ungarn, 1978). In allen Filmen aus der Region ist jedoch die Repräsentation von Kultur – falls sie überhaupt vorkommt – sozialen und wirtschaftlichen Themen untergeordnet. Natürlich darf man die Macht der politischen und ideologischen Propaganda zu jener Zeit nicht übersehen. Der Kontext der Propaganda bestimmte jede Aussage in damaligen Filmen – und sei es nur, um die Zensur zu umgehen.

Es ist fraglich, in welchem Ausmaß das Opfer-Narrativ die Bemühungen der Emanzipation der Rom_nja und die Durchsetzung ihrer Interessen geschwächt hat. Die Frage stellt ein komplexes Problem dar, über das man leicht spekulieren kann. In Betracht zu ziehen sind auch die Möglichkeiten, mit Filmen Rechtsschutz für Rom_nja zu erreichen, ohne die schwerwiegenden Folgen der Ausgrenzung zu zeigen. Diese Fragen betreffen die Grundlagen des Filmemachens, insbesondere die Darstellung von Elend.

Es lohnt sich daher, die folgenden Fragen noch einmal zu wiederholen und sich dabei auf kritische Theorien (auf den Postkolonialismus und Feminismus, mit ihren reichen Quellen und nützlichen Begriffen) zu stützen: Wie wird die Repräsentation einer sozialen Situation konstruiert, die das bewusste Auslöschen der untergeordneten Position verhindert? Welche Mittel kann das zeitgenössische Filmemachen einsetzen, um den Paternalismus zu untergraben, der sich in den Einstellungen gegenüber Menschen mit benachteiligten Lebensbedingungen und manchmal sogar in ihrem Gefühl der Solidarität verankert hat?

Musik kann diese Rolle immer noch spielen. Sie vermag es, eine emotionale und intellektuelle Brücke zu bilden, die die Menschen am Rande der Gesellschaft erreicht. Es gibt mehrere zeitgenössische Dokumentarfilme (von denen einige in der Filmsammlung des RomArchive enthalten sind), die zur Schaffung einer imaginären oder realen »emotionalen Gemeinschaft« beitragen, die charakteristisch für die Volkskultur der Menschen in ländlichen Gebieten ist.

In einigen Fällen ist die Musik auch Teil der Marketingstrategie des Films: Claudio Giagnotti, der italienische Musiker, Produzent und Co-Regisseur von »Gitanistan« (Italien, 2014), stellt nicht nur Soltos Roma-Kultur und -Familientraditionen vor, sondern organisiert auch Konzerte mit folkloristischen Roma-Motiven für Filmproduktionen. Die schwarz-weiß gedrehte Fernsehreportage »Flamenco, Meeting with Spanish Gypsies« (›Flamenco, Treffen mit spanischen Rom_nja‹, Schweden, 1962) wurde in Spanien von den schwedischen Filmemachern und Fotografen Dan Grenholm und Lennart Olson gedreht. Die Reihe handelt von in Höhlen lebenden Rom_nja und der Flamencotradition. Und auch der Dichter Muzafer Bislim trägt in »Flames of God« (›Gottes Flammen‹, Frankreich, 2011), einem Film unter der Regie von Meshakai Wolf, nicht nur mit seinen Schriften und Sammlungen viel zur Erhaltung des Romanes bei, sondern auch mit den Texten, die er für junge Roma-Musiker_innen schrieb.

Pierluigi De Donno | Gitanistan - Lo Stato Immaginario dei Rom Salentini | Non Fiction | Italien | 2014 | fil_00194 Rights held by: Pierluigi De Donno — Claudio "Cavallo" Giagnotti | Licensed by: Pierluigi De Donno | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Pierluigi De Donno – Private Archive
Meshakai Wolf | Flames of God | Non Fiction | Frankreich | 2011 | fil_00187 Rights held by: Meshakai Wolf | Licensed by: Meshakai Wolf | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Meshakai Wolf – Private Archive

Im Dokumentarfilm »Gelem, Gelem« (Deutschland, 1991) von Monika Hielscher und Matthias Heeder ist die Rolle der Musik zunächst nur illustrativ und trägt zur Stimmung des Films bei. Doch wenn man den Titel des Films betrachtet, bekommt die erste Zeile der Roma-Hymne eine symbolische Bedeutung. In der Hymne wird ein fast zeitgenössischer Fall von Verfolgung und Zerschlagung dokumentiert. Musik kann ein wichtiges Werkzeug für interkulturelle Übergänge sein. So zum Beispiel im Film »Remember« (›Erinnere‹, Ukraine, 2017), der von einer ukrainischen Frau handelt, die ihre Erinnerungen an ihre Freundschaft mit dem einzigen Roma-Überlebenden der Porrajimos aus ihrer Gemeinde an ihre Enkelin weitergibt. In dieser Kriegsgeschichte ist ein Lied auf Romanes von zentraler und symbolischer Bedeutung.

Sight Film Production | Pamyataty | fil_00358_m1_i1 Rights held by: Petro Rusanienko | Licensed by: Petro Rusanienko | Licensed under: Rights of Use | Provided by: Petro Rusanienko – Private Archive

Anstelle eines Fazits möchte ich kurz eine Episode aus der Puppenanimationsserie »Mire bala kale hin« von Katariina Lillqvist zusammenfassen, und zwar die Folge »Songs of the Gallows« (›Das Lied der Galgen‹, Finnland, 2001–03), in der Erinnerungen eine ähnlich wichtige Rolle spielen. Meiner Meinung nach verschmelzen die östlichen und westlichen Narrative innerhalb dieser mittelalterlichen Legende, die auf historischen Quellen basiert. Die polnische Prinzessin Katharina Jagiellonica kommt an den Hof des finnischen Monarchen Juhana, um zu heiraten. In seinem Reich werden wandernde Rom_nja für ihren Lebensstil hart bestraft, und zwar nicht durch Zwangsassimilation, sondern durch Erhängen.

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Die Prinzessin schenkt den Forderungen der Roma-Musiker_innen ihr Ohr, und nachdem sie den Klang ihrer magischen Violinen gehört hat, befiehlt sie, die Galgen zu zerstören. In dieser allegorischen Geschichte sind Musikinstrumente und Wissen Werkzeuge, die eine gewisse Transformation bewirken. Währenddessen basiert die Handlung selbst auf Solidarität und Verwandtschaftsaffinität, was sich meiner Ansicht nach in der Rolle der Frau verkörpert, die gezwungen ist, ihre Heimat zu verlassen. Voller Mut rebelliert sie (gegen männliche Macht).

Die Zeit des Daseins »außerhalb der Geschichte« ist zu Ende gegangen; das zumindest zeigt die transformative Rolle und Funktion des RomArchive. Dessen Gebrauch wird zugleich den Ansatz neuer Generationen formulieren und diesem folgen.

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