»Eine Gesellschaft, die täglich fremden Bildern ausgesetzt ist, verliert schließlich ihre Identität und auch ihre Fähigkeit, ihre eigene Identität zu entwickeln.«
Gaston Kaboré, Filmemacher
01 Wurzeln
»Das Wichtigste ist, nach originalen Schauplätzen, wahren Geschichten, ehrlichen Charakteren und schwungvollen Klängen Ausschau zu halten.«
Galya Stoyanova, Filmemacherin
Wenn wir uns die historischen und kulturellen Wurzeln einer Gemeinschaft vorstellen, denken wir an eine verschlungene, komplexe Struktur kultureller Einflüsse, die keinen exklusiven Ursprung hat. In dieser komplexen Struktur hat jedes Detail Bedeutung. Die Erinnerung an einen Gegenstand, an die Stelle eines Liedes, an einen Satz oder an ein historisches Ereignis sind alle gleichermaßen wichtig. Die Sektion »Wurzeln« bietet einen Einblick in das lebendige und ständig weiterwachsende Wurzelsystem der Identitäten von Sinti und Roma und ihrer komplexen und diversen Gemeinschaften.
Die Filme innerhalb dieser Sektion versuchen dabei nicht, diese komplizierte kulturelle Struktur zu entwirren. Vielmehr haben wir uns bemüht, markante Eigenschaften hervorzuheben und sie anhand illustrativer Beispiele zu präsentieren. Mittels mündlich tradierter Geschichten, persönlich erzählter Erlebnisse, Märchen, Gedichten und Mythen vermitteln die Charaktere in den Filmen Segmente des kulturellen Erbes, der kulturellen Identitäten von Sinti und Roma und deren regionaler und linguistischer Unterschiede. Die Filme wurden auf Basis der Idee ausgewählt, dass das kulturelle Erbe durch neue Interpretationen, neue Vorstellungen und neue Gestaltungen der stereotypen Repräsentationsmuster der Filmgeschichte von Sinti und Roma entsteht.
Weil die Kamera die Realität gleichzeitig sichtbar machen, aufdecken und verbergen kann, müssen die Regisseur_innen sich ihrer ethischen und ästhetischen Verantwortung bewusst sein. Sie müssen als aktive Teamplayer agieren, um die kollektive Vergangenheit und die kulturellen Wurzeln einer Gemeinschaft auszudrücken. Die Verantwortlichen für das Bild und die Inszenierung stehen in der Pflicht, die Realität auf eine Weise zu präsentieren, die für diejenigen vor der Kamera annehmbar ist. Zudem müssen die Entwicklung der Erzählung und der Gebrauch der audiovisuellen Werkzeuge eine Umgebung schaffen, die als Kontext für die unabhängige Interpretation eines besonderen Moments innerhalb einer Geschichte oder als Teil eines komplexen kulturellen Codesystems dient.
Ein kurzer Moment, ein Blick oder ein Dialog kann die Vorgeschichte der einzelnen Darsteller_innen etablieren, auf die kollektive Vergangenheit hindeuten und die kulturellen Wurzeln einer Gemeinschaft lebendig machen. In genau diesem Sinn ist die Sektion »Wurzeln« ein Beispiel für ein lebendiges und immerfort wachsendes Wurzelsystem der Roma-Gemeinschaften.