Flamenco

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Miguel Ángel Vargas Rubio

Der zerbrochene Schild des Perseus Der Flamenco und die spanischen Rom_nja in den 1860er Jahren

Schon seit längerer Zeit bemüht sich die Flamencoforschung, auf ihrer Suche nach den Ursprüngen dieser Kunst und Identitätszuschreibung über die mündliche Überlieferung hinauszugehen und historische Quellen zu erschließen. Und so liegen mittlerweile zahlreiche Studien vor, die den Flamenco anhand archivarischer Recherchen sowie spanischer und internationaler literarischer Referenzen erkunden und dabei auch die Brauchtumsforschung früherer Zeiten neu bewerten.

Dennoch müssen wir weiterhin nach Wegen suchen, um diese Bezüge mit neuen Daten anzureichern und sowohl die Komplexität der Rolle der Gitanos bei der Genese des Flamenco zu begreifen als auch zu verstehen, wie die spanischen Rom_nja selbst den Flamenco sowie die Zuschreibung Flamenco historisch wahrgenommen haben.

Ein Großteil der den Rom_nja freundlich gestimmten künstlerischen Bewegungen im Spanien des 19. Jahrhunderts setzt Gitano und Flamenco unmittelbar gleich. Dies erschwert die historische Forschung über die Rom_nja in Spanien, auch wenn diese mit der Flamencoforschung unweigerlich verknüpft ist.

Wir greifen auf den Mythos von Perseus und Medusa zurück, als Metapher für die Schwierigkeit, uns eine unvermittelte Perspektive der Rom_nja jener Zeit zu verschaffen. Perseus braucht den Schild, um der Gorgone entgegenzutreten, ohne ihrem tödlichen, versteinernden Anblick zu verfallen. In unserer Übertragung wäre Perseus die westliche Sichtweise. Medusa stände stellvertretend für die spanischen Rom_nja, und die Reflexion im Schild wäre das Bild, das sich der Westen von ihnen macht – in diesem Fall der Gitanismo der wohlhabenden Klassen und derer, die Bedeutungen schaffen (Künstler_innen, Medien, Gesetzgeber_innen, Wissenschaftler_innen), von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an bis praktisch heute.

So rar die Beispiele einer unvermittelten Darstellung der Lebenswirklichkeit der spanischen Rom_nja sind: Noch seltener, erstaunlicherweise, finden sich solche unvermittelten Darstellungen in der Kunst.

Der These folgend, dass sich im Jahrzehnt der 1860er das herauskristallisierte, was seither Flamenco genannt wird, werden wir einige historische Daten analysieren, um zu erfassen, welche Wirklichkeiten die Roma-Gemeinschaften in Spanien erlebt haben könnten, in welchem Bezug diese zum Flamenco stehen und in welchem Maß und welcher Form ihr Leben dokumentiert oder unsichtbar gemacht wurde.

Der Gitanismo – politisch reaktionär und patriotisch

Als die spanischen Rom_nja 1783 die rechtliche Gleichstellung erlangt hatten – nach der Katastrophe der »Allgemeinen Gitano-Internierung« von 1749, die beinahe zur Auslöschung der Roma-Bevölkerung Spaniens geführt hätte –, folgte eine weniger gewaltsame Phase, auch wenn von echter Gleichbehandlung in einem Spanien mit Sklav_innen, Kolonien und rigider Sozialstruktur weiterhin keine Rede sein konnte.

In der Verfassung von Cádiz aus dem Jahr 1812 heißt es: »Spanier_innen sind die freien Menschen, die im Herrschaftsbereich Spaniens geboren und sesshaft sind.« Erst mit der Verfassung von 1837 fiel die Anforderung der Sesshaftigkeit weg, damit die Rom_nja die spanische Staatsbürgerschaft erlangen konnten.

Das Gitaneske wird zum Sinnbild für das Spanische.

Jedoch gingen Kunst und Staat in der Praxis sehr unterschiedliche Wege. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchlief Spanien eine Epoche der antiaufklärerischen und antieuropäischen Reaktion, und in deren Dienst standen ein konstruiertes Bild des Gitano sowie die damit einhergehenden Moden der »Gitano-Schwärmerei« und des »Gitanesken«. Das Spiel der Spiegel führt dazu, dass die Wirklichkeit kaum zu erfassen ist und die Grenzen mutwillig verwischt werden. Das Gitaneske wird zum Sinnbild für das Spanische – schlicht deshalb, weil es als nichteuropäisch, nicht aufgeklärt und dem Absolutismus zugehörig kodiert ist.

Im Vorfeld der Geburt des Flamenco, um das Jahr 1845, als das Gesetz gegen Landstreicherei die spanischen Rom_nja unter Generalverdacht stellte, dominierten auf den Bühnen der großen Städte das »gitaneske Theater«, das »andalusische Genre« sowie weitere volkstümliche Gattungen unter zahlreichen Bezeichnungen. In den Programmen finden wir die Namen von Roma-Künstler_innen wie El Planeta, El Fillo, María Borrico, Lázaro Quintana, Pepe Vargas und noch vielen weiteren, die darum kämpften, in den Reflexionen des Perseusschildes sichtbar zu werden.

Die Anfänge des Flamencos, vor allem des sogenannten cante gitano andaluz, haben viel zu tun mit der Zeit der gesellschaftlichen Isolierung, …

1860: »Die berühmtesten Gitanas ...«

Nachrichten über blutige Schlachten treffen ein, in die das Königreich Spanien im ersten Spanisch-Marokkanischen Krieg verwickelt ist. Das einstige Imperium bröckelt unwiderruflich. Indessen aber strömt in Städten wie Sevilla, Cádiz, Málaga oder Madrid die Boheme zu einer neuen Art von Abendveranstaltungen, um die Gräuel und Verluste zu vergessen. Werfen wir einen Blick in die zeitgenössische Presse:

»Gaudeamus. – Am Samstag, den 29., Tag des Heiligen Michael, lädt Don Miguel Barrera, Direktor des Salón de Oriente, zum Ball ein, bei dem die größten Sänger, die berühmtesten Guillabaora-Flamenca-Tänzerinnen und die angesehensten Bolero-Künstlerinnen des Landes auftreten werden sowie auch die Gitanas, die so viel Stimmung in diese Art von Darbietung bringen, mit ihren eigentümlichen Tänzen und ihrer unnachahmlichen Anmut.«

28. September 1860, Sevilla, Andalusien.

Im Widerspruch zum Lob ihres Ruhmes verschweigt das Inserat die Namen der auftretenden Roma-Frauen. Berühmt sollen sie sein – aber anonym.

1861: Jamancia-Revolte, Brotkrieg, Rom_nja in der Sonne

Alle sehen, was sie sehen wollen. Nehmen wir drei zeitgenössische journalistische Darstellungen von Rom_nja. Die erste behandelt die Beteiligung von Rom_nja an den Aufständen in Barcelona im Jahr 1843, ausgelöst durch soziale Spannungen. Beachtenswert ist der Name Jamancia-Revolte: Jamancia ist im Caló, der Sprache der spanischen Rom_nja, das Wort für Hunger.

»Dem Vernehmen nach hat die Militärbehörde endlich Maßnahmen ergriffen, um gegen die Ausschreitungen vorzugehen und das Bataillon der Jamancia zu entwaffnen, das sich zum Großteil aus dem Abschaum der umliegenden Dörfer zusammensetzt, aus vorbestraften Kriminellen, aus Gitanos, aus auswärtigen Messer- und Scherenschleifern, Minderjährigen, Greisen und einigen ehemaligen Soldaten.«

Korrespondentenbericht, 4. September 1843.

Die zweite Meldung bezieht sich auf die revolutionären Kämpfe in Andalusien um eine gerechtere Umverteilung von Ländereien im Jahr 1861. Ein Aufstand von Bäuerinnen und Bauern aus der Gemeinde Loja in der Provinz Granada, angeführt von Rafael Pérez del Álamo, Autor der Broschüre »La Democracia, el Socialismo y el Comunismo, según la Filosofía y la Historia« (›Demokratie, Sozialismus und Kommunismus gemäß der Geschichtsphilosophie‹), fand die begeisterte Unterstützung einer Roma-Miliz.

Alle marschierten gemeinsam und riefen Parolen wie »Es lebe die Republik, Tod der Königin!«, »Viva Garibaldi!«, »Tod dem Papst!«, »Es lebe die Freiheit!«, »Es lebe die Demokratie!« Als sie geschlagen, auseinandergetrieben und hinter Gitter gebracht waren, konnte die Presse ihren Klassendünkel nicht verhehlen:

»Diese Narren wollten sich zum Großteil ihre fünf Fanegas Land aus dem Gemeinschaftsvermögen nehmen und zogen mit dem ganzen Gitano-Pack los, mit langen Stöcken und einem Stück Eisen als Spitze daran, die sie dann Lanzen nannten.«

Bereits 1847 war in Paris der Reisebricht »Impressions de voyage de Paris à Cadix« von Alexandre Dumas dem Älteren erschienen. Darin zeigt sich die Reflexion des Perseusschildes grausam verzerrt:

»[...] Couturier hatte einige Stoffbahnen aufspannen lassen, die einen Teil der Terrasse überschatteten und den anderen Teil in der Sonne ließen. Die Gitanos, an fast tropische Hitze gewöhnt, mussten in der Sonne bleiben; Couturier brauchte für seine Daguerreotypie den Schatten.

Ebenfalls im Schatten saßen Giraud, Desbarolles und Boulanger, um zu zeichnen; Maquet und ich, um unsere Notizen zu ordnen, Alexandre, um ein paar Verse zu dichten in Antwort auf Verse, die uns zugedacht worden waren.

Die Gitanos waren im der Sonne ausgesetzten Teil der Terrasse gruppiert, der Vater rauchte und spielte Gitarre, die Töchter saßen zu seinen Füßen und flochten ihr Haar, die Kinder standen und streichelten einen Hund [...].«

Nichts durfte die Wirklichkeit behelligen, die Reisende und Journalist_innen geschaffen und vorausgesetzt hatten und die auch einige Rom_nja ausnutzten, um der Not zu entrinnen. Dabei mussten die Rom_nja allerdings in der Sonne bleiben. Oder im Schatten. Oder im Gefängnis.

1862: Wer ist der König der Gitanos?

Das Verhältnis der Rom_nja zum Adel und zur spanischen Monarchie hatte im Bildinventar des Gitanismo im 19. Jahrhundert eine Mahnfunktion. Es erlaubte in einer Phase revolutionärer Hochspannung die Erzählung von der Unterwürfigkeit gegenüber den Herrschenden fortzuführen.

Dem bekannten Gemälde aus Francesco da Urbinos Gesellschaftschroniken, das Roma-Künstler_innen beim Auftritt anlässlich des Besuchs von Königin Isabella II. in Córdoba zeigt und sie fröhlich, hochmütig und mürrisch darstellt, lässt sich der Großteil des Schaffens von José María Dardalla y Gutiérrez zuordnen: Schauspieler und »König« des gitanesken Genres, im ganzen Land für seine Gitano-Rollen gefeiert.

Unabdingbar ist eine klare Trennung zwischen dem Gitanesken und dem Schaffen von Roma-Künstler_innen.

Dardallas Darbietungen waren umfangreich und wurde vielfach in der Presse besprochen. Schwer lässt sich angesichts Hunderter Stücke des gitanesken Genres sowie auch der Ikonografie ausländischer Künstler_innen einschätzen, welchen Einfluss die ständige Konfrontation mit Gitano/a-Stereotypen auf Roma-Künstler_innen und spanische Rom_nja im Allgemeinen hatten. Unabdingbar ist eine klare Trennung zwischen dem Gitanesken und dem Schaffen von Roma-Künstler_innen. Die Schönheit des Bildes im Schild vernebelt uns den Blick.

1863: Der Blick derer, die dich nicht ansehen

Der fotografische Realismus ermöglicht es uns theoretisch, die Wirklichkeit fast in Gänze zu betrachten. Auf der Fotografie von Robert Peter Napper aus dem Jahr 1863 fängt der Blick des Fotografen die Abwesenheit des Blicks der Abgelichteten ein. Fern liegt hier das fröhliche Bild der Gitanismo, fern die Zartheit des Holzschnitts und der Alkohol- und Tabaknächte im Salon.

Vielleicht sind wir der Wahrheit nahe, vielleicht trügt der Schild uns abermals. Die Rom_nja sind in der Sonne und posieren für jene, die nach Wilden suchen in diesem Europa weit abseits der Städte. Doch vergessen wir nicht, dass der fotografische Blick dem Prinzip der künstlerischen Form folgt und die harmonische Form der Gruppe sucht.

1864: Silverio Franconetti und das Zittern des Spiegels

In einem Text, dessen Anliegen die Komplexität des unvermittelten Blicks auf die Geschichte der spanischen Rom_nja ist, um einschätzen zu können, welche Rolle der Flamenco für ihr Selbstbild spielt, darf ein Akteur nicht unerwähnt bleiben, der immer wieder als großer Geburtshelfer des Flamenco gefeiert wird: der cantaor Silverio Franconetti – der große, gute Gadjo (Nicht-Roma), den die Roma-Künstler_innen bewunderten.

Nachdem er jahrelang in Lateinamerika gelebt hatte, kehrte Franconetti 1864 nach Spanien zurück und wurde zur Schlüsselfigur für den Impuls zum individuellen Ausdruck und zur Abkehr von dem verzerrten Bild, das der Spiegel des Gitanismo zeigte und in dem die Roma-Künstler_innen gefangen waren. Ja, es war ein Gadjo, der entscheidend mithalf, den Schild zu zerbrechen oder wenigstens zu zerkratzen.

Die Systematisierung, die Franconetti für seine Auftritte vornahm, erlaubte es ihm, nun in der Tat ein neues Genre zu schaffen, das die Bande zur musikalisch-theatralischen Tradition des Gitanesken kappte. Der individuelle Ausdruck tritt in den Vordergrund. Der Flamenco als Gattung und als Schlachtfeld wird sichtbar.

1865: Die gitaneske Poesie der Gadje

Das Jahr, in dem in Rumänien die Versklavung der Rom_nja abgeschafft wurde, ist uns Anlass zur Reflexion über ein weiteres Feld, auf dem sich der Schild des Gitanismo in seiner Zwiespältigkeit zeigt: das Caló. Damals galt es als »Sprache der Gitanas/os«, heute wird es als Romani-Ethnolekt des Spanischen betrachtet. Sein Gebrauch wurde aus staatlichem und aus künstlerischem Blickwinkel sehr unterschiedlich bewertet. In den »Crónicas ilustradas de la Guardia Civil« (Illustrierten Chroniken des Bürgerkrieges) von Marzo y Fernández aus dem Jahr 1864 können wir lesen:

»[...] so ein durchtriebener Kerl wird erst dann zu einer boshaften und furchtbaren Kreatur, wenn er das Caló lernt – eine Art zu sprechen, die seiner niederträchtigen Schlauheit die Kenntnis einer ganzen sozialen Kriegskunst hinzufügt [...].«

Diese Unterstellung steht im starken Kontrast zur Verwendung des Caló – wenngleich zumeist in abgewandelter Form als Phantasiesprache – als volkstümliche Würze in der gitanesken Dichtung und in Komödien sowie in den Texten des neuen Genres Flamenco. Das Caló wird zur Sprache der afición (Zuneigung) – des Zirkels derer, die die Flamencolyrik schreiben und verbreiten und ihr ein teils unechtes volksliedhaft-anonymes Flair geben. Es ist die gleiche Art von Boheme, die den Lunfardo-Slang aus Buenos Aires zur Sprache des argentinischen Tangos machte, die in Portugal den Fado hochjubelte – und vielleicht auch den Blues in den USA.

1866: Der koloniale Gitanismo

Der Gitanismo war nicht nur eine Erfindung für Spanien. Alle europäischen Länder, in denen ein Kulturpublikum in orientalischen Phantasien schwelgte, spanisches Entertainment und eskapistische »Zigeuner«-Klischees schätzte, hatten Teil daran. Und als ein betont europäisches Produkt, eher für die Wohlhabenden als für die unteren Schichten, wurde der Gitanismo auch nach Amerika exportiert.

Der Gitanismo war nicht nur eine Erfindung für Spanien sondern für alle europäischen Länder, in denen ein Kulturpublikum in orientalischen Phantasien schwelgte.

Groß war die Zahl der spanischen Tänzer_innen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts mit Bolero-Versionen der sogenannten bailes gitanos auf Überseetour gingen. Lo gitano wurde zum Gütesiegel für eine ethnisch begründete Authentizität im Krieg gegen den Belcanto, sei es in Havanna auf Kuba, in Mexiko oder in Venezuela.

Während aber die Cafés Cantantes in Spanien zu dieser Zeit bereits ein echtes Flamencorepertoire boten, blieb die Art, wie lo gitano jenseits des Atlantiks in Opern, Aufführungen andalusischer Tänze und Bolero-Konzerten präsentiert wurde, weitgehend den Konventionen verhaftet, gegen die sich der Flamenco wandte. Die Distanz verklärt den Anblick des Monsters. Die in Büchern niederlegten Reiseberichte über Spanien helfen, das Schreckliche nicht zu vergessen.

1867: »Gypsy Lore Society« auf spanische Art

So wie später die Mitglieder der »Gypsy Lore Society«, 1888 in Großbritannien gegründet, widmeten sich zwei Jahrzehnte zuvor enthusiastische spanische Intellektuelle der Erforschung des Objekts Gitano. Allenthalben erschienen Kompendien, die darum wetteiferten, die Wahrheit über ihren Forschungsgegenstand zu verkünden. Don Francisco de Sales Mayos »El Gitanismo. Historia, costumbres y dialecto de los gitanos« (›Der Gitanismo. Geschichte, Sitten und Dialekt der Gitanos‹) wurde zur wichtigsten akademischen Referenz, mit seiner Einleitung, seiner Grammatik und seinem Wörterbuch. Und es enthält den Hinweis:

»Das Caló ist keine Gaunersprache; es ist nicht das, was früher Rotwelsch genannt wurde und mit einigen Beispielen im Wörterbuch der Akademie vertreten ist; ebenso wenig ist es die Sondersprache der Gefängnisse und Zuchthäuser, wie viele glauben; nein, es ist ein Dialekt, der sich entwickelt hat aus anderen, die bis heute in Hindustan gesprochen werden, von wo die Gitanos stammen.«

1868: Die Feria de Sevilla oder das bürgerliche Gewand der assimilierten Gitanos

Das international geläufige Bild von den spanischen Rom_nja begann sich mit der Feria de Sevilla von 1868 (dem großen jährlichen Frühlingsfest in der andalusischen Hauptstadt, damals noch eine Vieh- und Landwirtschaftsmesse) zu verfestigen.

Dazu trugen die massenhafte Reproduktion von Bildern mittels der Fotografie und das aufkommende Marketing der Sherry-Produzent_innen bei, aber ebenso die Konsolidierung eines quasi-choralen Formats für Flamencokonzerte, das zum Exportartikel bei Weltausstellungen wurde.

Die Feria, als Raum der symbolischen Repräsentation von Machtverhältnissen, bietet den Wohlhabenden Gelegenheit, ihren Gitanismo auszuleben: Die Herrschaften verkleiden sich als Gitanos und ahmen die Intimität der Fiesta Flamenca nach, wobei »echte Gitanos« zu ihrer Unterhaltung aufspielen, während sie über ihre Geschäfte reden. Auf eine kuriose Weise wird die traditionelle Viehmesse mit ihren charakteristischen Aufbauten und Einteilungen zu einer Ausstellung von Menschen, ordnungsgemäß in soziale Schichten eingeteilt.

Spanien bereitet sich auf die Septemberrevolution von 1868 vor, auch La Gloriosa, »die Ruhmreiche« genannt, bei der die territoriale Struktur des Staates infrage gestellt wird. Indessen trinken die Pappmaschee-Rom_nja Sherry mit ausländischen Besucher_innen. Die echten Rom_nja, gekleidet wie Bürger_innen, singen, tanzen und präsentieren sich in den Buden der Viehmesse und hoffen auf neue Arbeit.

1869: Die Reaktion des künstlerischen Proletariats

Wir wagen die Vermutung, dass im Jahrzehnt der 1860er viele darstellende Künstler_innen, ob sie nun selbst Rom_nja waren oder nicht, des Gitanismo-Korsetts, in das sie gezwängt waren, überdrüssig wurden. In dieser Hinsicht lässt sich im Flamenco – als Kunst des individuellen Ausdrucks – ein alternativer Zugang zu einer unmittelbaren Vision vom Lebensgefühl der Rom_nja sehen.

»Der Cante kam zur Welt als künstlerische Antithese zu einer nivellierten und repressiven Massenkultur.«

Besungen wird alles was man weiß, also potenziell alles, was vorgefallen ist, doch dabei wird Wert auf den persönlichen Ansatz gelegt: die Kunst als Kolben, um das Bekannte zu destillieren. In seiner »Sociologia del Cante Flamenco« (›Soziologie des Flamencogesangs‹) definiert Gerhard Steingress diese künstlerische Reaktion wie folgt:

»Der Cante wurde in den Theatern und Cafés populär, doch entstanden war er in anderer Umgebung: vermutlich in den marginalisierten, subkulturellen Kreisen junger Künstler_innen und Enthusiast_innen, die sich in Kneipen versammelten und dem ›guten Geschmack‹ der bürgerlichen Gesellschaft nichts abgewinnen konnten.

Der Cante ›kam zur Welt‹ als künstlerische Antithese zu einer nivellierten und repressiven Massenkultur. Im »Schrei« des Sängers und im Inhalt der Copla, die er auf seine individuelle Weise darbot, lag ein Protest gegen eine übersättigte und scheinheilige Gesellschaft.

Die Figur des ›Gitano‹ wurde zum Sinnbild dieses kulturellen Widerstands, sie verkörperte die Freiheit gegenüber der Repression, das Individuum gegenüber der Vereinheitlichung, die Randständigkeit gegenüber der erzwungenen gesellschaftlichen Integration. Das heißt, der Cante wurde geschaffen als Kunstform der urbanen Subkulturen und des künstlerischen Proletariats – sehr typisch für die Romantik.«

Der Flamenco als Hervorbringung und soziales Konstrukt junger subkultureller Kreise blieb dennoch dem Bildinventar des Gitanismo ausgesetzt und von ihm geprägt. Und aus derselben Zeit bieten sich auch ganz andere Beispiele, etwa das anonyme Schreiben einiger Romnja ans Unterhaus des spanischen Parlaments in der Hitze einer Debatte über Religionsfreiheit:

»[...] Brief der Gitanas von Madrid an Herrn Suñer y Capdevila: Vergessen Sie nicht, dass die Weissagungen der Gitana in Erfüllung zu gehen pflegen; und dass sie weiterhin zu Gott beten für die Konversion von Ihnen und allen Unfrommen [...]«

Wer konstruiert die Erzählung des Gitanismo so, dass das Bild der spanischen Rom_nja zum Klischee des Spanischen selbst wird? Wer baut den Schild?

Abschluss und Wunsch

Wir brauchen Zeit, um zu begreifen, wie all die kulturellen Konstruktionen rund um oder unter dem Vorwand von lo gitano ineinander greifen; wie dies die Ausbildung der spanischen Roma-Identität beeinflusste und in welchem Maß die individuelle Professionalisierung der Flamencokünstler_innen eine Art kultureller Selbstermächtigung gegenüber den verschiedenen Formen des Gitanismo bedeutete – gegenüber den verschiedenen Versionen des Perseusschildes.

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