1862: Wer ist der König der Gitanos?
Das Verhältnis der Rom_nja zum Adel und zur spanischen Monarchie hatte im Bildinventar des Gitanismo im 19. Jahrhundert eine Mahnfunktion. Es erlaubte in einer Phase revolutionärer Hochspannung die Erzählung von der Unterwürfigkeit gegenüber den Herrschenden fortzuführen.
Dem bekannten Gemälde aus Francesco da Urbinos Gesellschaftschroniken, das Roma-Künstler_innen beim Auftritt anlässlich des Besuchs von Königin Isabella II. in Córdoba zeigt und sie fröhlich, hochmütig und mürrisch darstellt, lässt sich der Großteil des Schaffens von José María Dardalla y Gutiérrez zuordnen: Schauspieler und »König« des gitanesken Genres, im ganzen Land für seine Gitano-Rollen gefeiert.
Unabdingbar ist eine klare Trennung zwischen dem Gitanesken und dem Schaffen von Roma-Künstler_innen.
Dardallas Darbietungen waren umfangreich und wurde vielfach in der Presse besprochen. Schwer lässt sich angesichts Hunderter Stücke des gitanesken Genres sowie auch der Ikonografie ausländischer Künstler_innen einschätzen, welchen Einfluss die ständige Konfrontation mit Gitano/a-Stereotypen auf Roma-Künstler_innen und spanische Rom_nja im Allgemeinen hatten. Unabdingbar ist eine klare Trennung zwischen dem Gitanesken und dem Schaffen von Roma-Künstler_innen. Die Schönheit des Bildes im Schild vernebelt uns den Blick.
1863: Der Blick derer, die dich nicht ansehen
Der fotografische Realismus ermöglicht es uns theoretisch, die Wirklichkeit fast in Gänze zu betrachten. Auf der Fotografie von Robert Peter Napper aus dem Jahr 1863 fängt der Blick des Fotografen die Abwesenheit des Blicks der Abgelichteten ein. Fern liegt hier das fröhliche Bild der Gitanismo, fern die Zartheit des Holzschnitts und der Alkohol- und Tabaknächte im Salon.
Vielleicht sind wir der Wahrheit nahe, vielleicht trügt der Schild uns abermals. Die Rom_nja sind in der Sonne und posieren für jene, die nach Wilden suchen in diesem Europa weit abseits der Städte. Doch vergessen wir nicht, dass der fotografische Blick dem Prinzip der künstlerischen Form folgt und die harmonische Form der Gruppe sucht.
1864: Silverio Franconetti und das Zittern des Spiegels
In einem Text, dessen Anliegen die Komplexität des unvermittelten Blicks auf die Geschichte der spanischen Rom_nja ist, um einschätzen zu können, welche Rolle der Flamenco für ihr Selbstbild spielt, darf ein Akteur nicht unerwähnt bleiben, der immer wieder als großer Geburtshelfer des Flamenco gefeiert wird: der cantaor Silverio Franconetti – der große, gute Gadjo (Nicht-Roma), den die Roma-Künstler_innen bewunderten.
Nachdem er jahrelang in Lateinamerika gelebt hatte, kehrte Franconetti 1864 nach Spanien zurück und wurde zur Schlüsselfigur für den Impuls zum individuellen Ausdruck und zur Abkehr von dem verzerrten Bild, das der Spiegel des Gitanismo zeigte und in dem die Roma-Künstler_innen gefangen waren. Ja, es war ein Gadjo, der entscheidend mithalf, den Schild zu zerbrechen oder wenigstens zu zerkratzen.
Die Systematisierung, die Franconetti für seine Auftritte vornahm, erlaubte es ihm, nun in der Tat ein neues Genre zu schaffen, das die Bande zur musikalisch-theatralischen Tradition des Gitanesken kappte. Der individuelle Ausdruck tritt in den Vordergrund. Der Flamenco als Gattung und als Schlachtfeld wird sichtbar.
1865: Die gitaneske Poesie der Gadje
Das Jahr, in dem in Rumänien die Versklavung der Rom_nja abgeschafft wurde, ist uns Anlass zur Reflexion über ein weiteres Feld, auf dem sich der Schild des Gitanismo in seiner Zwiespältigkeit zeigt: das Caló. Damals galt es als »Sprache der Gitanas/os«, heute wird es als Romani-Ethnolekt des Spanischen betrachtet. Sein Gebrauch wurde aus staatlichem und aus künstlerischem Blickwinkel sehr unterschiedlich bewertet. In den »Crónicas ilustradas de la Guardia Civil« (Illustrierten Chroniken des Bürgerkrieges) von Marzo y Fernández aus dem Jahr 1864 können wir lesen:
»[...] so ein durchtriebener Kerl wird erst dann zu einer boshaften und furchtbaren Kreatur, wenn er das Caló lernt – eine Art zu sprechen, die seiner niederträchtigen Schlauheit die Kenntnis einer ganzen sozialen Kriegskunst hinzufügt [...].«
Diese Unterstellung steht im starken Kontrast zur Verwendung des Caló – wenngleich zumeist in abgewandelter Form als Phantasiesprache – als volkstümliche Würze in der gitanesken Dichtung und in Komödien sowie in den Texten des neuen Genres Flamenco. Das Caló wird zur Sprache der afición (Zuneigung) – des Zirkels derer, die die Flamencolyrik schreiben und verbreiten und ihr ein teils unechtes volksliedhaft-anonymes Flair geben. Es ist die gleiche Art von Boheme, die den Lunfardo-Slang aus Buenos Aires zur Sprache des argentinischen Tangos machte, die in Portugal den Fado hochjubelte – und vielleicht auch den Blues in den USA.
1866: Der koloniale Gitanismo
Der Gitanismo war nicht nur eine Erfindung für Spanien. Alle europäischen Länder, in denen ein Kulturpublikum in orientalischen Phantasien schwelgte, spanisches Entertainment und eskapistische »Zigeuner«-Klischees schätzte, hatten Teil daran. Und als ein betont europäisches Produkt, eher für die Wohlhabenden als für die unteren Schichten, wurde der Gitanismo auch nach Amerika exportiert.
Der Gitanismo war nicht nur eine Erfindung für Spanien sondern für alle europäischen Länder, in denen ein Kulturpublikum in orientalischen Phantasien schwelgte.
Groß war die Zahl der spanischen Tänzer_innen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts mit Bolero-Versionen der sogenannten bailes gitanos auf Überseetour gingen. Lo gitano wurde zum Gütesiegel für eine ethnisch begründete Authentizität im Krieg gegen den Belcanto, sei es in Havanna auf Kuba, in Mexiko oder in Venezuela.
Während aber die Cafés Cantantes in Spanien zu dieser Zeit bereits ein echtes Flamencorepertoire boten, blieb die Art, wie lo gitano jenseits des Atlantiks in Opern, Aufführungen andalusischer Tänze und Bolero-Konzerten präsentiert wurde, weitgehend den Konventionen verhaftet, gegen die sich der Flamenco wandte. Die Distanz verklärt den Anblick des Monsters. Die in Büchern niederlegten Reiseberichte über Spanien helfen, das Schreckliche nicht zu vergessen.
1867: »Gypsy Lore Society« auf spanische Art
So wie später die Mitglieder der »Gypsy Lore Society«, 1888 in Großbritannien gegründet, widmeten sich zwei Jahrzehnte zuvor enthusiastische spanische Intellektuelle der Erforschung des Objekts Gitano. Allenthalben erschienen Kompendien, die darum wetteiferten, die Wahrheit über ihren Forschungsgegenstand zu verkünden. Don Francisco de Sales Mayos »El Gitanismo. Historia, costumbres y dialecto de los gitanos« (›Der Gitanismo. Geschichte, Sitten und Dialekt der Gitanos‹) wurde zur wichtigsten akademischen Referenz, mit seiner Einleitung, seiner Grammatik und seinem Wörterbuch. Und es enthält den Hinweis:
»Das Caló ist keine Gaunersprache; es ist nicht das, was früher Rotwelsch genannt wurde und mit einigen Beispielen im Wörterbuch der Akademie vertreten ist; ebenso wenig ist es die Sondersprache der Gefängnisse und Zuchthäuser, wie viele glauben; nein, es ist ein Dialekt, der sich entwickelt hat aus anderen, die bis heute in Hindustan gesprochen werden, von wo die Gitanos stammen.«
1868: Die Feria de Sevilla oder das bürgerliche Gewand der assimilierten Gitanos
Das international geläufige Bild von den spanischen Rom_nja begann sich mit der Feria de Sevilla von 1868 (dem großen jährlichen Frühlingsfest in der andalusischen Hauptstadt, damals noch eine Vieh- und Landwirtschaftsmesse) zu verfestigen.
Dazu trugen die massenhafte Reproduktion von Bildern mittels der Fotografie und das aufkommende Marketing der Sherry-Produzent_innen bei, aber ebenso die Konsolidierung eines quasi-choralen Formats für Flamencokonzerte, das zum Exportartikel bei Weltausstellungen wurde.
Die Feria, als Raum der symbolischen Repräsentation von Machtverhältnissen, bietet den Wohlhabenden Gelegenheit, ihren Gitanismo auszuleben: Die Herrschaften verkleiden sich als Gitanos und ahmen die Intimität der Fiesta Flamenca nach, wobei »echte Gitanos« zu ihrer Unterhaltung aufspielen, während sie über ihre Geschäfte reden. Auf eine kuriose Weise wird die traditionelle Viehmesse mit ihren charakteristischen Aufbauten und Einteilungen zu einer Ausstellung von Menschen, ordnungsgemäß in soziale Schichten eingeteilt.
Spanien bereitet sich auf die Septemberrevolution von 1868 vor, auch La Gloriosa, »die Ruhmreiche« genannt, bei der die territoriale Struktur des Staates infrage gestellt wird. Indessen trinken die Pappmaschee-Rom_nja Sherry mit ausländischen Besucher_innen. Die echten Rom_nja, gekleidet wie Bürger_innen, singen, tanzen und präsentieren sich in den Buden der Viehmesse und hoffen auf neue Arbeit.
1869: Die Reaktion des künstlerischen Proletariats
Wir wagen die Vermutung, dass im Jahrzehnt der 1860er viele darstellende Künstler_innen, ob sie nun selbst Rom_nja waren oder nicht, des Gitanismo-Korsetts, in das sie gezwängt waren, überdrüssig wurden. In dieser Hinsicht lässt sich im Flamenco – als Kunst des individuellen Ausdrucks – ein alternativer Zugang zu einer unmittelbaren Vision vom Lebensgefühl der Rom_nja sehen.
»Der Cante kam zur Welt als künstlerische Antithese zu einer nivellierten und repressiven Massenkultur.«
Besungen wird alles was man weiß, also potenziell alles, was vorgefallen ist, doch dabei wird Wert auf den persönlichen Ansatz gelegt: die Kunst als Kolben, um das Bekannte zu destillieren. In seiner »Sociologia del Cante Flamenco« (›Soziologie des Flamencogesangs‹) definiert Gerhard Steingress diese künstlerische Reaktion wie folgt:
»Der Cante wurde in den Theatern und Cafés populär, doch entstanden war er in anderer Umgebung: vermutlich in den marginalisierten, subkulturellen Kreisen junger Künstler_innen und Enthusiast_innen, die sich in Kneipen versammelten und dem ›guten Geschmack‹ der bürgerlichen Gesellschaft nichts abgewinnen konnten.
Der Cante ›kam zur Welt‹ als künstlerische Antithese zu einer nivellierten und repressiven Massenkultur. Im »Schrei« des Sängers und im Inhalt der Copla, die er auf seine individuelle Weise darbot, lag ein Protest gegen eine übersättigte und scheinheilige Gesellschaft.
Die Figur des ›Gitano‹ wurde zum Sinnbild dieses kulturellen Widerstands, sie verkörperte die Freiheit gegenüber der Repression, das Individuum gegenüber der Vereinheitlichung, die Randständigkeit gegenüber der erzwungenen gesellschaftlichen Integration. Das heißt, der Cante wurde geschaffen als Kunstform der urbanen Subkulturen und des künstlerischen Proletariats – sehr typisch für die Romantik.«
Der Flamenco als Hervorbringung und soziales Konstrukt junger subkultureller Kreise blieb dennoch dem Bildinventar des Gitanismo ausgesetzt und von ihm geprägt. Und aus derselben Zeit bieten sich auch ganz andere Beispiele, etwa das anonyme Schreiben einiger Romnja ans Unterhaus des spanischen Parlaments in der Hitze einer Debatte über Religionsfreiheit:
»[...] Brief der Gitanas von Madrid an Herrn Suñer y Capdevila: Vergessen Sie nicht, dass die Weissagungen der Gitana in Erfüllung zu gehen pflegen; und dass sie weiterhin zu Gott beten für die Konversion von Ihnen und allen Unfrommen [...]«
Wer konstruiert die Erzählung des Gitanismo so, dass das Bild der spanischen Rom_nja zum Klischee des Spanischen selbst wird? Wer baut den Schild?
Abschluss und Wunsch
Wir brauchen Zeit, um zu begreifen, wie all die kulturellen Konstruktionen rund um oder unter dem Vorwand von lo gitano ineinander greifen; wie dies die Ausbildung der spanischen Roma-Identität beeinflusste und in welchem Maß die individuelle Professionalisierung der Flamencokünstler_innen eine Art kultureller Selbstermächtigung gegenüber den verschiedenen Formen des Gitanismo bedeutete – gegenüber den verschiedenen Versionen des Perseusschildes.