Die Große Razzia und das Vernichtungsprojekt von 1749: Konsequenzen1
Mit dem Ende des spanischen Erbfolgekriegs übernahm Philipp V. von den Habsburger_innen zunächst auch deren antiziganistische Politik. Doch weil er diese für wirkungslos hielt, berief er 1721 einen Ausschuss, die sogenannte Junta de Gitanos, um eine effektivere Strategie zu entwickeln. Zwei Jahre später kam die Junta zu dem Schluss, die bisherige Politik habe keinen Nutzen gebracht, weil sie den Rom_nja weder ihre Sitten ausgetrieben noch sie den Geboten der Kirche habe unterwerfen können.
Da die Junta eine Vertreibung der Rom_nja aus Spanien anstrebte, betrachtete sie den kirchlichen Schutz für die Minderheit als größtes Hindernis. Es folgten hartnäckige Verhandlungen mit dem Heiligen Stuhl, um den spanischen Rom_nja das Recht auf Kirchenasyl zu entziehen und sie somit auch gewaltsam aus Gotteshäusern, in denen sie Zuflucht nahmen, verschleppen zu können.
1748 stimmte Papst Benedikt XIV. diesem Ansinnen schließlich zu und erließ eine Bulle, der zufolge die Festnahme der in kirchliche Obhut Geflüchteten unter verschiedenen Bedingungen gestattet sei.
Mit dem Verlust des Asylrechts waren die spanischen Rom_nja nun völlig schutzlos. Auf Druck seines Vorsitzenden Gaspar Vázquez de Tablada beschloss daraufhin der Rat von Kastilien, sämtliche Rom_nja im Land verhaften zu lassen, um sie »aus Spanien hinauszubringen und sie in kleinen Gruppen in die amerikanischen Provinzen zu überführen, wo sie in den königlichen Manufakturen und Bergwerken nützliche Arbeit verrichten mögen«.
Als der Rat allerdings erfuhr, dass in Portugal eine derart geplante Vertreibung der dortigen Rom_nja gescheitert war, verwarf er die »Extraktion« der spanischen Rom_nja und kam stattdessen überein, ihre »Auslöschung« zu betreiben. Und so wurde im Juni 1749 eine spanienweite Razzia vorbereitet, bei der sämtliche Rom_nja aller Altersgruppen festgenommen werden sollten. Der Rat setzte dabei auf die Einwohnerlisten der Städte und Dörfer, die laut einem Erlass von 1745 erstellt und seither aktualisiert worden waren (sich später allerdings als unvollständig erwiesen).
»... bis keine Spur von Gitanos beiderlei Geschlechts« in Freiheit verbliebe.
Am 8. Juli 1749 waren die Planungen für die Große Razzia abgeschlossen. Der Marquis von Ensenada versendete die Anweisungen, welche die drei für die Koordination zuständigen Marinekommandeure zu befolgen hatten, nebst einer Liste der Orte, an denen die Operation durchzuführen sei, und der zuständigen Militärabteilungen. Mit Einsatzbefehlen und Listen der zu verhaftenden Personen versehen, sollten die Truppen die Razzia am 30. Juli 1749 um Mitternacht beginnen. Die Order lautete, sämtliche Rom_nja dingfest zu machen, aus ihren Häusern zu holen und sie, nach Geschlechtern getrennt, bis auf Weiteres an die für ihre Internierung vorgesehenen Orte abzuführen.
Für den Fall, dass Rom_nja in Kirchen Zuflucht suchten, sollten sie gemäß der im Büro des päpstlichen Nuntius ausgefertigten Genehmigung dort aufgegriffen werden. Und falls welche entkamen, sollten dieselben Verbände, die mit der Razzia betraut waren, den Aufenthaltsort dieser Flüchtigen ermitteln und sie verfolgen, bis »keine Spur von Gitanos beiderlei Geschlechts« in Freiheit verbliebe.
Die Häuser der Inhaftierten wurden nach der Razzia versiegelt und unter Bewachung gestellt, um Plünderungen zu verhindern. Gerichtsschreiber hatten ein Inventar »sämtlichen Grundbesitzes, Möbel oder Geld« anzulegen, damit diese Besitztümer später zur rückwirkenden Finanzierung der Operation versteigert werden konnten.
Auf Andalusien – traditionell die Region Spaniens mit dem höchsten Roma-Bevölkerungsanteil – entfiel die größte Zahl von Verhaftungen, besonders in Sevilla und Granada, während etwa in Málaga, Cádiz und Almería der Befehl noch nicht angekommen war. Dasselbe galt für Katalonien, sodass in diesen Gebieten die Razzia erst in der dritten beziehungsweise vierten Augustwoche durchgeführt werden konnte.
Insgesamt waren in den Monaten ab dem 31. Juli rund 9.000 Personen betroffen – das entspricht etwa drei Vierteln der damaligen Roma-Bevölkerung Spaniens, deren Gesamtzahl auf höchstens 12.000 geschätzt wird.
Zunächst wurden sie in den Gefängnissen oder auf öffentlichen Plätzen des jeweiligen Ortes festgesetzt. Von dort aus wurden sie später auf diverse Festungen verteilt, darunter Dénia, Alicante, die Alhambra von Granada und die Aljafería von Saragossa. Teils wurden sie auch in abgesperrten Straßenzügen untergebracht, so in Sevilla, Placencia und Málaga.
Obwohl die Sicherheitsbedingungen und hygienischen Zustände an diesen Orten katastrophal waren, hatte die schlechte Planung des Rats von Kastilien und speziell des Marquis’ von Ensenada zur Folge, dass sich der Aufenthalt der verhafteten Frauen in diesen improvisierten »Lagern« immer weiter in die Länge zog. Ihre Klagen, gepaart mit den Beschwerden von Rom_nja, die laut offiziellen Zertifikaten kastilische Bürger_innen waren, sowie die zunehmende Kritik seitens einflussreicher Persönlichkeiten und das Unbehagen des Monarchen selbst angesichts derart unverhältnismäßiger Maßnahmen führten dazu, das für den 7. September 1749 abermals die Junta de Gitanos zusammengerufen wurde.
Unter Leitung von Francisco Rávago, dem Beichtvater des Königs, bewertete die Junta in Madrid den Stand der Operation und suchte nach Alternativen für die umstrittensten Bestimmungen. Das Resultat kam einem schönfärberischen Neuanlauf für das Projekt »Auslöschung« gleich. Es bedeutete für fast 4.000 unschuldige Menschen Gefangenschaft, die in den schlimmsten Fällen 16 Jahre andauerte.
Die Junta wollte die Zwangsmaßnahmen auf Rom_nja beschränken, die gegen königliche Dekrete verstoßen hatten, und ordnete im Oktober 1749 die Freilassung all jener an, die ihre gute Lebensführung beweisen konnten. Wer das allerdings nicht vermochte, musste laut Abschnitt sechs der Anordnung in Haft bleiben: Das betraf die besonders Armen und alle, für deren Lebenswandel keine Verwandten oder einflussreichen Freund_innen bürgten. Selbst Gefängnisdirektoren, Wärter und zahlreiche andere Einbezogene übten heftige Kritik an diesem verfehlten und ungerechten Verfahren, das so viele Menschen dauerhaft ihrer Freiheit beraubte.
Auf diese Weise aller Bürgerrechte beraubt, wurden also fast 4.000 Personen an die vom Marquis von Ensenada zugewiesenen endgültigen Haftorte verschleppt: die Männer zur Zwangsarbeit, die Frauen in die sogenannten Häuser der Barmherzigkeit. Die Gelegenheit, den begangenen Irrtum zu korrigieren, war vertan.
Die Begnadigung kam viel zu spät, der Schaden war nicht wiedergutzumachen.
Damit beruhigte sich zwar vorübergehend das Gewissen des Königs. Doch 1754 erreichte der Herzog von Caylús, Oberbefehlshaber im Königreich Valencia, durch seine hartnäckigen Bitten um einen allgemeinen Straferlass, dass der Monarch eine Begnadigung der Gefangenen zusicherte. Weil es aber der Rat von Kastilien mit der Ausarbeitung der Modalitäten für die Umsetzung des Straferlasses nicht eilig hatte, verzögerte sich die Freilassung der Inhaftierten noch über Jahre. Im Sommer 1759 starben sowohl der König als auch der Herzog. Und erst 1765 kamen die Überlebenden endlich frei – nur knapp 300 waren verblieben.
Die Begnadigung kam also viel zu spät, der Schaden war nicht wiedergutzumachen. Eine tiefe Kluft hatte sich zwischen Rom_nja und Nicht- Rom_nja in Spanien aufgetan. Dies verstärkte nicht nur die Armut, sondern auch die Marginalisierung einer ethnischen Gruppe, die zuvor so gut wie vollständig sesshaft und gesellschaftlich integriert gewesen war.
Die Rom_nja, denen es 1749 gelang, der Verhaftung zu entgehen oder aus den provisorischen Lagern zu fliehen – insgesamt an die 500 Personen – mussten zumeist in Heimlichkeit leben, ihren Namen ändern und sich mit ihren Familien an Orten niederlassen, wo niemand sie kannte; ständig in Angst, dennoch wieder festgenommen zu werden.
Der Bevölkerungsrückgang unter den spanischen Rom_nja war erheblich. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts lag ihre Zahl – zwischen 10.000 und 11.000 – unter der von 1749. Die meisten von ihnen lebten in Andalusien, vor allem in den Provinzen Cádiz und Sevilla.
Sie waren verarmt, weil ihnen ihr Besitz zur Finanzierung der Razzia entzogen worden war, und sie übten weiter ihre traditionellen Handwerke aus. Diese waren zwar offiziell verboten, wurden aber toleriert, weil sich keine Nicht-Roma fanden, die diese mechanischen und marginalisierten Tätigkeiten auszuüben bereit waren.