Flamenco

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Gonzalo Montaño Peña

Joaquín »El de la Paula« und die Soleá de Alcalá

Oft wird das musikalische (und kulturelle) Erbe der Gitanos Flamencos nach ihrer Geburtsstadt benannt, sodass man meinen könnte, es gehöre zum lokalen populären Kulturgut. Doch das führt leicht in die Irre.

Ein Beispiel ist die sogenannte Soleá de Alcalá, ein Kompendium von Flamencomelodien, der einen wahren Schatz darstellt und von großem musikwissenschaftlichen und ethnografischen Wert ist. Die Bezeichnung verleitet uns jedoch dazu, zu glauben, diese Melodien und die damit einhergehenden Bräuche würden von der Bevölkerung praktiziert und seien Teil ihrer Identität und Kultur. Dabei wird diese Tradition – die Lieder zu singen und sich hierfür zu versammeln – bis heute fast ausschließlich von einer kleinen Gruppe spanischer Roma-Familien gepflegt, für die diese Cantes (Gesänge) gewissermaßen zum Grundwortschatz gehören.

Unter denen, die diese Gesänge in ihrer uns heute bekannten Form geschaffen haben, gibt es eine Schlüsselfigur: Joaquín Fernández Franco, genannt »Joaquín el de la Paula«. Das Genie und musikalische Talent dieses Gitanos sind der Quell, aus dem die Soleá de Alcalá hervorgegangen ist, und nicht nur Joaquín el de la Paula selbst hat sie mit seinen Beiträgen geprägt, sondern auch Verwandte von ihm wie Agustín Talega, Juan Talega oder La Roesna.

Portrait of the Roma singer Joaquín el de la Paula | Photographie | 1930 - 1940 | fla_00270 Licensed by: Gonzalo Montaño Peña (reproduction) I Licensed under: Rights of Use I Provided by: Gonzalo Montaño Peña – Private Archive

Geboren wurde Joaquín Fernández Franco 1875 in Alcalá de Guadaíra in der Nähe von Sevilla, in einer der Höhlenwohnungen unterhalb der Burg. In diesem Teil der Stadt lebten die örtlichen Rom_nja in größter Armut. Hinzu kam, dass Jahre zuvor in einige der Höhlen eine Reihe von Roma-Familien aus Triana, einem Stadtviertel Sevillas, gezogen waren; eine Nachbarschaft, die fundamental sein sollte für die Hervorbringung dieser Cantes aus Alcalá.

Joaquín el de la Paula machte den Gesang nicht zu seinem Beruf, aber er hatte die Kreativität und die Intuition eines professionellen Musikers. Und diese Fähigkeiten setzte er ein, um die musikalischen Elemente, die er in seiner Umgebung vorfand, zu verändern: Er nahm sich eine Art örtlicher Soleá (Andalusisches Klagelied) vor, die näher an der Folklore war und etwas Tanzbares hatte, und gab ihr eine persönliche Note. Indem er die Phrasen beim Singen ausschmückte, verlieh er ihnen Erhabenheit und Dramatik. Er verlangsamte den Rhythmus und fügte Details mancher Cantes Gitanos aus Triana hinzu, was eine ausgefeiltere Expressivität im Vortrag ermöglichte. Man kann sagen, dass er den Gesang uminterpretiert hat, um auf diese Weise eine praktisch neue Musik zu erschaffen: die Soleá von Joaquín el de la Paula.

Im Allgemeinen besteht ein Zyklus oder eine Reihe im Stil der Soleá aus drei Cantes: einer zur Eröffnung beziehungsweise Exposition, ein zweiter für den Übergang und ein dritter für die Auflösung, bei der man auf »tapfere« Art endet oder sich zu den höchsten Tönen aufschwingt.

Schauen wir uns an, wie Joaquín el de la Paula drei der Cantes, die ihm zugeschrieben werden, miteinander verbindet. Für sich allein genommen haben sie großen musikalischen Wert, doch erst zusammen erhalten sie ihre ganze Bedeutung:

Joaquín el de la Paulas erster melodischer Stil ist als Prototyp einer Melodie für den Beginn eines Cantes in den Flamenco eingegangen. Zwar gibt es auch andere Anfangsmelodien, aber diese ist zweifellos die meistgesungene. Feierlichkeit, Expressivität und Linearität erlauben dem Singenden, die Stimme auf die folgenden Melodien vorzubereiten.

A ¿A quién le contaré yo
B la fatiguita que estoy pasando
B fatiga que estoy pasando
B la fatiguillita que estoy pasando?
C se la voy a contar a la tierra
D cuando me estén enterrando
C se lo voy a contar a la tierra
D cuando me estén enterrando.

A Wem werde ich erzählen
B von der kleinen Müdigkeit, die ich verspüre
B Müdigkeit, die ich verspüre
B der klitzekleinen Müdigkeit, die ich verspüre?
C Ich erzähle es der Erde
D wenn sie mich begraben
C ich erzähle es der Erde
D wenn sie mich begraben.

Sodann käme der zweite Cante oder melodische Stil, mit einem plötzlichen Anstieg und einer emotionalen Steigerung, die noch nicht extrem ist, aber als Übergang hin zum Höhepunkt dient, der im dritten der Stile erreicht wird.

Hier noch einmal Juan Talega und neben Antonio Mairena derjenige, der diesen Cante am eifrigsten verbreitet hat:

A (Dices) que no me querías
B cuando delante tú me tienes
C el sentido te varía.

A (Du sagst,) du hast mich nicht geliebt
B wenn du mich vor dir hast
C ändert sich dir der Sinn.

Mit dem dritten melodischen Stil wird die Reihe der Soleares abgeschlossen, und so kann, normalerweise nach einem Gitarrensolo, mit einen neuen Zyklus begonnen werden. In diesem Stil zeigt sich die ganze emotionale Kraft, die in den beiden vorhergehenden noch kanalisiert war. Es ist ein schwer auszuführender Cante, denn um seine expressive Aussage wirklich zur Geltung zu bringen, muss er zuerst ansteigen und dann abfallen, sowohl in der Tonhöhe als auch in der Lautstärke, ohne dass der Gesang an Emotionalität verliert.

A Al rezarle al Cristo un credo y a re-
B -ezar al Cristo un credo
C por decir, »Creo en Dios padre«,
D dije, »Gitana te quiero«
C y por decir, »Creo en Dios padre«,
D dije, »Gitana te quiero«.

A Als ich zu Christus ein Credo betete, und als
B ich zu Christus ein Credo betete,
C um zu sagen, »Ich glaube an Gott Vater«,
D sagte ich, »Gitana, ich liebe dich«,
C und um zu sagen, »Ich glaube an Gott Vater«,
D sagte ich, »Gitana, ich liebe dich«.

Der Cante de Alcalá blieb jedoch nicht auf Joaquín el de la Paula beschränkt: In seiner Familie entstanden eine Reihe weiterer Melodien, die, ebenfalls miteinander verwandt, dieses musikalische Herzstück des Flamenco Gitano ausmachen.

Hervorzuheben ist Agustín Talega, Bruder von Joaquín el de la Paula und Vater von Juan Talega.

Juan Talega selbst schuf, ausgehend von den bekannten Elementen, einen weiteren Stil; die Ähnlichkeiten zu dem vorherigen, seinem Vater zugeschrieben Stil sind unverkennbar.

Die Cantes der Soleá de Alcalá sind als melodisches Repertoire eine der reichsten Quellen, aus denen sich die Flamencomusik speist. Die verschiedenen Stile waren aufgrund ihrer Eleganz, ihrer Emotionalität und ihrer unleugbaren Herkunft immer eine Orientierung für Sänger_innen – und das werden sie auch immer bleiben. Deswegen ist es wichtig, all jene, die diese Stile hervorgebracht haben, wie auch diejenigen, die diese Art des Ausdrucks bewahren, zu nennen – und ihr Andenken als Schöpfer des Cante Gitano y Flamenco zu ehren.

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