Es gibt Menschen, die in die Geschichte eingegangen sind als Inbegriff des Genialen, des Unerwarteten, des Originären; Menschen, die die Fähigkeit besitzen, Gefühle auszudrücken, die die Seele in ihrer reinsten Form zum Vorschein bringen. Solchen Fällen begegnen wir in allen Bereichen des Lebens: Isaac Newton, Pablo Picasso, John Coltrane ... In diese Kategorie könnten wir auch Manuel Soto Loreto einordnen: »Manuel Torre«.
Manuel Torre
Geboren wurde er 1878 im andalusischen Jerez de la Frontera, im Roma-Viertel San Miguel – eine einfache Umgebung, in der jeder Tag ein Kampf gegen Entbehrung und Armut bedeutete, wo es jedoch Zugang zu einer einzigartigen Ausdrucksform gab: den Flamenco.
Jerez, eines der wichtigsten kreativen Zentren des Flamencos, erlebt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine goldene Zeit. Großartige Musiker des Flamenco Gitano wie Loco Mateo, Antonio Frijones, Diego El Marrurro oder Paco la Luz wohnen in jenen Jahren hier in nächster Nachbarschaft.
Siehe auch: »Das Genie aus Jerez de la Frontera: ›Frijones‹«
Schon bald entdeckt Manuel Torre seine Liebe zum Gesang, dank zweier Personen, die ihn von Kindheit an prägen; zum einen sein Vater (ein Cantaor, wenn auch nicht professionell) und sein Onkel Joaquín Lacherna, einer der größten Seguiriya-Sänger der Geschichte.
Schon als kleiner Junge schlägt sich Torre selber durch, arbeitet als Fischhändler und setzt zugleich seine Sangeskunst ein, um sich ein wenig Geld zu verdienen. Auf privaten Festen macht er auf sich aufmerksam, und bald singt er in die Cafés der Stadt, angekündigt als »El Niño de Jerez«.
Als er, längst ein Cantaor, beschließt, mit dem Singen auch seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, zieht er nach Sevilla, wo er auf den seit Anfang des 19. Jahrhunderts bestehenden Flamencobühnen zu arbeiten beginnt; ebenso tourt er mit verschiedenen Kompanien durch ganz Spanien, verdient sich allenthalben Achtung und Bewunderung und nimmt seinen Gesang auf Platten auf.
Der Flamenco war damals eine noch relativ junge Kunst, doch mit seiner Kommerzialisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts und der massiven Präsenz auf den verschiedenen Bühnen der cafés cantantes waren die Sänger_innen gezwungen, ihr Repertoire dem Geschmack eines immer größeren Publikums anzupassen. Die Cantes Gitanos waren nichts für ein Mehrheitspublikum, das diese Klänge nicht gewohnt war, und so blieben sie, bei privaten Zusammenkünften, den Aficionados (begeisterte Anhänger) vorbehalten (abgesehen vom Flamencomilieu der Roma, dem sie entstammten).
Manche Intellektuelle, vorneweg Manuel de Falla und Federico García Lorca, sahen die Gefahr einer solchen »Folklorisierung« des Flamencos und organisierten, um den Cante Jondo aufzuwerten und zu retten, 1922 einen Cante-Wettbewerb in Granada. Bedeutende Kunstschaffende und Intellektuelle der Zeit unterstützten das Treffen und fanden sich ein. Manuel Torre war als Gastkünstler eingeladen und wurde feierlich vorgestellt. Der Sänger aus Jerez stand für den Cantaor Gitano schlechthin, ein Musiker mit einem kostbaren künstlerischen Erbe im Gepäck.
Federico García Lorca selbst sollte später sagen, nie zuvor sei ihm jemand begegnet, der »mehr Kultur im Blut« habe.
Zu diesem Zeitpunkt war der Sänger der »schwarzen Klänge«, der »Spinner« oder der »König des Cante Gitano«, wie er auch genannt wurde, bereits ein Mythos seiner Zeit, und die Veranstalter rissen sich um ihn, um ihn für Aufführungen, die durch ganz Spanien tourten, auf den Plakaten an die erste Stelle zu setzen. Trotzdem starb er einige Jahre später, 1933, im schrecklichsten Elend. Vielleicht infolge der Philosophie der Gitanos Flamencos, aus spiritueller und nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit zu singen.
Manuel Torre revolutionierte den Flamenco mit seinen Interpretationen, Innovationen und auch eigenen Schöpfungen. Seine besondere Art, den Cante im Stil der Seguiriyas, Farrucas oder Tarantos zu interpretieren, und seine historische Flamencoversion des Lieds »Los campanilleros« sind beispielhaft geworden für die nachfolgenden Generationen. Seine ergreifende, mit natürlicher Stimme vorgetragene Art des Gesangs begründete eine Schule des Cante Gitano, die so großartige Sänger wie Tomás Pavón, Juan Talega oder Antonio Mairena geprägt hat und für immer bleiben wird.
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