Wissen um internationale »Roma-Literaturen« zu bündeln ist vorrangiges Ziel dieses Archivbereichs. Die reiche Vielfalt an Textproduktionen ist bislang kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Daher werden Leben und Werk von zahlreichen Roma-Schriftsteller_innen aus ganz Europa und einigen außereuropäischen Ländern sowie Textbeispiele jenischer Autor_innen präsentiert. Inhaltliche Schwerpunkte liegen auf der Selbstrepräsentation, auf Identitätskonstruktionen und dem kulturellen Gedächtnis von Sinti und Roma.
Kuratiert von Beate Eder-Jordan
Neben schriftlichen literarischen Texten werden auch mündlich überlieferte Texte in verschiedenen Varianten des Romanes aus dem Bestand des Phonogrammarchivs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie literarische Lesungen, Vorträge und Interviews mit Schriftsteller_innen vorgestellt. Ein eigenes Kapitel widmet sich der Darstellung von Sinti und Roma in Büchern für Kinder und Jugendliche. Artikel zu aktuellen oder kontroversen Themen runden die Präsentation ab – wie zum Beispiel »Roma, ein schriftloses ›Volk‹?« oder »Roma-Autor_innen ›going digital‹«.
Der Konzeptentwurf des Archivbereichs Literatur ist inspiriert von einer persönlichen Begegnung der Kuratorin Beate Eder-Jordan im Jahr 1990 mit dem bekannten Schriftsteller und Wissenschaftler Leksa Manush. Im Rahmen eines langen Gesprächs beim Vierten Internationalen Roma-Kongress in Polen gab er der damaligen Studentin einen Überblick über die Geschichte der russischen und sowjetischen Roma-Literatur des 20. Jahrhunderts.
Dem kuratorischen Konzept entsprechend wird die Entwicklung der Roma-Literaturen in diversen Ländern und Regionen von Expertinnen und Experten im Überblick und anhand ausgewählter literarischer Beispiele nachgezeichnet.
Die Anfänge der Roma-Literaturen reicht in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurück. Frühe Entwicklungen gab es vor allem in der damaligen Sowjetunion und in Rumänien; diese kamen aufgrund politischer Zwangsmaßnahmen zu einem vorläufigen Stillstand, der heute längst überholt ist. Im letzten Jahrzehnt ist darüber hinaus die Geburt einer »Romani-Literaturwissenschaft« zu konstatieren (vgl. Eder-Jordan 2015a; externer Link).
Die Frage nach der Bezeichnung
Die Bezeichnung »Roma-Literatur« ist ein Konstrukt. Das, was wir unter Literatur verstehen, verändert sich im Laufe der Zeit und offenbart, wie der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton (1983) betont, die enge Beziehung zu den Ideologien von Gesellschaften. Wenn Ideologien bestimmen, was als Literatur anzusehen ist, so gilt das verstärkt für das Phänomen »Roma-Literaturen«. Hier spielt noch die komplexe Frage nach der ethnischen Identität mit hinein (vgl. Eder-Jordan 2015b: S. 59f.; externer Link).
Die Bezeichnung »Roma-Literatur« ist ein Konstrukt.
Die Bezeichnung Roma-Literaturen entzieht sich einer klaren Definition. Es können darunter Texte in Romanes und den zahllosen anderen Sprachen verstanden werden, die Menschen produzieren, die sich selbst (unter anderem) als Roma bezeichnen oder die (unter anderem) als Roma bezeichnet werden. Literarische Texte auf Romanes können dazugezählt werden, ganz unabhängig von einer sogenannten »ethnischen Zugehörigkeit« der Verfasser_innen. Wie bei der Definition von Literatur, so üben auch bei der Definition von Roma-Literaturen Menschen und Gruppen Macht auf andere Menschen und Gruppen aus – daher ist der Akt einer Definition problematisch. Wer hat das Recht, zu bestimmen, was »Roma-Literaturen« sind?
Die Zuordnung von Werken zu »Roma-Literaturen« ist eine mögliche unter zahlreichen anderen, sie stößt bei Autor_innen sowohl auf Zustimmung als auch auf Ablehnung. Diskussionen um Vor- und Nachteile einer Verwendung dieser Bezeichnung werden Gegenstand zukünftiger Forschungen und Aushandlungsprozesse sein, der Archivbereich Literatur möchte auch dazu Input liefern.
Beate Eder-Jordan