Erst viele Jahre später begriff ich seine Worte, und sie kamen mir wieder in den Sinn, als ich bei meinem Professor zur Besprechung meiner Diplomarbeit saß (»Literatur von und über Roma: Unterschiede und Gemeinsamkeiten« – dies war der Titel, welchen ich für das Studium Vergleichende Literaturwissenschaft 2012 an der Universität Wien einreichte).
Er fragte mich, ob ich mir denn sicher sei, dass ich trotz meiner Abstammung wissenschaftlich und objektiv arbeiten könne. Ich bejahte dies natürlich, ohne zu wissen, dass mich genau dieser Umstand während des Schreibens der Arbeit fast an meine Grenzen der Neutralität bringen würde: als Mensch, als Romni, als Frau.
Ein Typ der Beschreibung, der häufig in der Literatur von Nicht-Roma über Sinti und Roma vorkommt, ist »Die Zigeunerin als Verführerin« (siehe Bildende Kunst und Film Sektion). Meistens handelte es sich hierbei um ein junges, hübsches (vermeintliches) Roma-Mädchen, das einen Nicht-Rom in seinen Bann zieht. Eines der bekanntesten Beispiele ist Esmeralda in Victor Hugos »Der Glöckner von Notre-Dame« von 1831.
Die »Zigeunerin« nimmt hierbei eine ambivalente Haltung ein. Sie ist die Verführerin, die Exotin und somit die Versinnbildlichung der geheimen erotischen Wünsche des Bürgertums. Auf der anderen Seite bedeutet sie, eben durch ihre Anders- und Fremdartigkeit, immer auch eine Gefahr für die Moral und Religiosität der anderen.
Die Menschen fühlen sich durch das Geheimnisvolle gleichermaßen bedroht wie auch angezogen. Die Figur symbolisiert das Verbotene, das, eben weil es verboten ist, umso verlockender wirkt.
Daher sind diese Protagonistinnen häufig harten Sanktionen ausgesetzt, weil man hierbei nicht nur die Fremden bestraft, sondern auch die eigene Anziehung zu unterdrücken versucht und die Gefahr der Sünde somit im Keim erstickt.
Sintizze und Romnija werden in diesem Klischee zwar immer noch am Rande der Gesellschaft verortet, aber sie sind die Verführerinnen, sie sind mystisch und können jeden in ihren Bann ziehen. Sie werden Ausdruck für die geheimen Sehnsüchte und Wünsche der Gesellschaft. Werden sie zuvor in wissenschaftlichen Texten noch als hässlich beschrieben, so kann nun kein Mann der Schönheit der »geheimnisvollen Zigeunerin« widerstehen.
Natürlich erweckt dies bei vielen ein falsches Bild, und man ist gezwungen, sich zu rechtfertigen – und genau das ist der Punkt: Die Literatur war jahrhundertelang, bevor es Fernsehen, Radio und Internet gab, eines der wichtigsten Medien, um die Menschen in ihrem Denken und ihren Ansichten zu beeinflussen.
Die rassistischen Beschreibungen der Sinti und Roma in der Literatur förderten die Ausgrenzung, die Verfolgung und den Hass gegenüber der Minderheit und kreierten Vorurteile, die sich teilweise bis heute halten.
Diese Faktoren hatten wiederum großen Einfluss auf das Leben und die Entwicklung von Sinti und Roma – und das wiederum auf ihre eigene Literatur. Somit lässt sich – und dies versuchte ich in meiner Diplomarbeit nachzuempfinden – ein großer Zusammenhang, ein literarischer und soziologischer Kreislauf feststellen.
In der Literatur der Sinti und Roma lässt sich das besonders gut analysieren: Themen wie Aufarbeitung der Verfolgung, Ermordung und Diskriminierung und das Roma-Sein lassen sich sehr häufig finden. Die Literatur von Ceija Stojka, Mongo Stojka, Stefan Horvath, Ilija Jovanović, Tamás Jónás, Bert Pertrup, Nedjo Osman (siehe auch das Roma-Theater »Pralipe«) und vielen anderen legt Zeugnis davon ab.