Während das Bild der »exotischen, wilden und verführerischen Roma-Frau« Gegenstand des literarischen Imaginären Europas ist, wird eine Romni selbst selten mit dem Schreiben und Lesen von Büchern in Verbindung gebracht. Im öffentlichen und medialen Diskurs wird die Roma-Frau unter anderem als »doppelt diskriminiert«, »gefährdet«, »gefangen«, »unterdrückt«, »prostituiert« oder »abhängig« dargestellt. Wenn wir jedoch von Roma-Autorinnen sprechen, müssen wir einige sehr wichtige Fakten hervorheben, die all diesen Stereotypen widersprechen.
Das Bild der schreibenden Romni
Erstens agierten Frauen nicht im Schlepptau, sondern oft als beispielhafte Vorreiterinnen der Roma-Literatur einiger Länder (Polen, Rumänien, Schweden, Tschechoslowakei) oder bei bestimmten Themen (zum Beispiel beim Thema Holocaust). Obwohl es nicht genügend Informationen über die Echtheit von Gina Ranjičićs Poesie und über ihr Leben gibt, werden Verse, die ihr von Heinrich von Wlislocki zugeschrieben werden, von vielen Roma als die ersten originären poetischen Texte angesehen, die bereits im 19. Jahrhundert in Romanes geschaffen wurden.
Zudem stammt eine der ersten und berühmtesten Roma-Dichtungen der Welt von einer Frau – Bronisława Wajs – Papusza. Katarina Taikon wurde in den 1960er Jahren in Schweden und Luminiţa Cioabă in den 1990er Jahren in Rumänien zur jeweils ersten landesweit bekannten Autorin mit Roma-Herkunft. Die deutsche Sintizza Philomena Franz (siehe auch das Textbeispiel) und die österreichische Lovara-Romni Ceija Stojka gehörten zu den wegweisenden Pionierinnen von Roma-Opfern, die in Büchern vom Durch- und Überleben des Holocaust erzählen.
Zweitens unterscheidet sich – obwohl männliche Roma-Autoren zahlenmäßig die weiblichen übertreffen – die Geschlechterbalance in der Literatur der Roma nicht von den Geschlechterverhältnissen und Tenenzen in der Literatur des 20. Jahrhunderts (in dem Schriftstellerinnen zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Autor_innen ausmachten). In einigen Ländern jedoch sind die produktivsten und bekanntesten veröffentlichten Roma-Autor_innen heute Frauen, zum Beispiel Katarina Taikon in Schweden, Sali Ibrahim in Bulgarien und Luminiţa Cioabă in Rumänien. In der Tschechischen Republik sind Roma-Autorinnen den Autoren sogar zahlenmäßig überlegen.
Drittens ist festzustellen, dass – obwohl Roma-Mädchen auf Primar- und Sekundarschulebene ein niedrigeres Bildungsniveau besitzen – junge Romnja auf der Ebene des universitären Grund- und Hauptstudiums Roma zahlenmäßig leicht übertreffen (was ebenfalls eine charakteristische Tendenz in europäischen Mehrheitsgesellschaften ist). Einige Autorinnen zeigen ein starkes akademisches Forschungsinteresse. Zwei der Autorinnen, Lilyana Kovacheva und Hedina Tahirović Sijerčić, haben promoviert und sind Autorinnen akademischer Bücher.
Es ist kein Zufall, dass Roma-Frauen im Hinblick auf literarisches Schreiben in den Ländern mit einer kommunistischen Vergangenheit sowohl gebildeter als auch produktiver sind als in anderen Ländern. Die kommunistischen Staaten setzten sich nicht nur in ihren Propagandareden für die Gleichstellung der Geschlechter ein, sondern entwickelten tatsächlich spezifische Maßnahmen zur Emanzipation aller Frauen, einschließlich der Roma-Frauen. Infolgedessen waren Romnija im kommunistischen Osteuropa in der Regel besser ausgebildet und auf allen Ebenen des Sozialsystems integriert. In der Zeit zwischen den Weltkriegen, während der sowjetischen Initiative zur Veröffentlichung von Publikationen in Romanes gehörten Maria Polyakova und Olga Pankova zu den aktivsten Autor_innen und Übersetzer_innen von Publikationen aller Genres.
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