In den 1960er Jahren erscheinen in Finnlands erstmals Werke, in denen finnische Roma-Autor_innen über die eigene Kultur schreiben. Die Themen reichen von kultur-spezifischen Fragen bis zu den Problemen der Roma-Jugend. Obwohl sich die ersten Rom_nja in Finnland bereits im 16. Jahrhundert niederließen, wurden sie erst 1995 offiziell als nationale Minderheit anerkannt. Aus diesem Grund waren Fragen zu nationalem Recht und Bürgerschaft wiederkehrende Themen in der Literatur finnischer Rom_nja.
Bücher der Vögel: Roma-Literatur in Finnland
Veijo Baltzar (* 1942) ist ein Pionier der Roma-Literatur – nicht nur in Finnland, sondern auch im Ausland. Sein Werk umfasst zahlreiche literarische Gattungen wie Romane, Gedichte, Libretti und Theaterstücke. In den ersten Publikationen der 1960er Jahre schildert Baltzar versiert das mobile Leben von Rom_nja sowie ihre Sitten und Gebräuche. In »Verikihlat« (wörtlich ›Blutvergießen‹, 1969) thematisiert er beispielsweise die Blutfehde.
In »Polttava tie« (wörtlich ›Brennende Straße‹, 1968) widmet sich Baltzar der Teilnahme von Roma-Soldaten an den finnisch-sowjetischen Auseinandersetzungen während des Zweiten Weltkriegs, was er für ein Zeichen ihrer Bürgerschaft hält. Im Roman beschreibt ein alter Rom, wie seine Familie zu Hause mit Rassismus zu kämpfen hatte, während er an der Front für das gesamte finnische Volk sein Leben riskierte.
In »Musta tango« (wörtlich ›Schwarzer Tango‹, 1960) schildert er den städtischen Alltag einer ziellos dahintreibenden Roma-Jugend. Der Protagonist Elias, der im Waisenhaus aufwuchs, ist nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft ein Außenseiter, sondern auch in der eigenen Roma-Gemeinschaft. Der Autor behandelt die Frage einer authentischen Roma-Identität anhand der Hauptpersonen, die eine In-between-Position zwischen Mehrheits- und Minderheitskultur einnehmen (Kopsa-Schön 2002).
Der Stil von Baltzars Romanen ist meist realistisch, doch finden sich in ihnen auch melodramatische und poetische Elemente. Die Romane zeichnen sich auch durch eine große Kenntnis der Roma-Folklore aus wie beispielsweise in »Käärmeenkäräjäkivi« (1988). Auszüge dieser Detektivgeschichte über einen gestohlenen Stein, in der auch Fragen persönlicher und kollektiver Ethik aufgeworfen werden, liegen in einer englischen Übersetzung unter dem Titel »The Snake Trial Stone« vor.
Anfang des 21. Jahrhunderts wandte sich Baltzar von den Geschichten individueller Roma-Charaktere immer mehr hin zu epischen Schilderungen von Roma-Mythologien und verschwiegener Geschichte. In »Phuro« (2000) sind weder Ort noch Zeit der Handlung eindeutig zu bestimmen, wodurch die Universalität der Themen unterstrichen wird. Baltzar widmet sich hier dem Konflikt zwischen traditionellen Werten von Rom_nja und der umgebenden materialistischen Kultur.
Mit dem Roman »Sodassa ja rakkaudessa« (wörtlich ›Im Krieg und verliebt‹, 2008) will Baltzar den Opfern unter den Rom_nja während des Nazi-Regimes Ehre erweisen. Der Protagonist ist der Taschendieb Kastalo, ein Überlebender der Konzentrationslager:
»[...] Es bleibt zu hoffen, dass er [Kastalo] in den literaturwissenschaftlichen Forschungsarbeiten eines Tages in einer Reihe mit den jüdischen Opfern genannt werden wird.«
Baltzar weist in einer eigenen Studie unter dem Titel »Kokemuspohjainen filosofia« (2012; in Englisch »Towards Experiential Philosophy«, 2014) nach, dass sich in Europa im Umgang mit Minderheiten auch heute noch viele Spuren des Holocausts finden lassen.
Armas K. Baltzar untersucht in seinen Romanen »Sadeaika« (wörtlich ›Regenzeit‹, 2007) und »Katuhaukat« (wörtlich ›Straßenfalken‹, 2009) soziale Ausgrenzungsmechanismen. Doch handeln seine Werke nicht immer von Rom_nja und der Frage nach ihrer Identität. In »Sadeaika« geht es um die Liebe unter Behinderten, ein Thema, das in der finnischen Belletristik nur selten zur Darstellung kommt.
Kiba Lumberg (* 1956) begann ihre schriftstellerische Karriere Anfang der 2000er Jahre. Nacheinander veröffentlichte sie die Teile der 2011 in einem Band herausgegebenen Trilogie aus »Musta perhonen« (wörtlich ›Schwarzer Schmetterling‹, 2004), »Repaleiset siivet« (wörtlich ›Zerrissene Flügel‹, 2006) und »Samettiyö« (wörtlich ›Samtnacht‹, 2008). Aus der Perspektive des Mädchens Memesa wird hier das Schicksal einer armen Roma-Familie erzählt, die in den 1960er und 70er Jahren in Ostfinnland lebt.
Die Trilogie ist das literarische Porträt einer Künstlerin und ihrer Entwicklung. Memesa nahm bereits am Anfang ihrer Karriere an der Kunstbiennale in Venedig teil, wo sie die Unterdrückung der Frau mit Hilfe eines traditionellen Kleids der Romnja symbolisierte, das von Messern durchbohrt ist. Dieses Kunstwerk ließe sich leicht als fiktionale Umsetzung von Kiba Lumbergs eigener Teilnahme an der Biennale di Venezia im Jahre 2007 interpretieren. Ihre Beschreibung von Gewalt sowohl in den Romanen als auch in ihrer Kunst wurde von Leser_innen aus der eigenen Gruppe stark kritisiert. Obwohl die Trilogie die heterosexuellen Machtstrukturen, die »die Menschenrechte in der ganzen Welt unterdrücken«, infrage stellt, wurde die wichtige Rolle von Memesas lesbischer Identität zumeist übersehen (Lappalainen 2012, Gröndahl 2010). Traumsequenzen unterbrechen die realistische Grundhaltung der Trilogie mit Fantasy-Elementen.
(Auto-)Biografien
In seiner Biografie des Musikers Henry (Remu) Aaltonen (* 1948), die den einfachen Titel »Remu« (2016) trägt, benutzt Markku Salo ausführlich die von Aaltonen erfundene und nach ihm benannte »Remu-Sprache«. Die Biografie schildert Aaltonens Kindheit in Espoo, die von Armut geprägt war. Die Familie musste in einem Eisenbahnwagon leben. Zur Darstellung kommt aber auch seine erfolgreiche Karriere als »King of Finnish Rock ’n’ Roll«.
Armas Linds (1928–2017) autobiografischer Bericht »Caleb – romanipojan evakkotaipale« (wörtlich ›Caleb – die Flüchtlingsgeschichte eines Roma-Jungen‹, 2004) zählt zur finnischen und zur schwedisch-finnischen Literatur gleichzeitig. Auf ergreifende Weise wird hier vom Hunger und der grausamen Behandlung eines Roma-Kindes in Sortavala erzählt. Sortavala war in den 1930er und 1940er Jahren gewissermaßen die »Hauptstadt« der finnischen Rom_nja.
»Caleb« ist eine historische Darstellung der Roma-Kultur in der Region Karelien, die zwischen dem heutigen Finnland und Russland liegt und bisher kaum erforscht worden ist. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Finnland und der Sowjetunion (1939–44) verlor die karelische Roma-Gemeinschaft ihr soziales Netz und ihre Lebensgrundlage, zum Beispiel als Hufschmiede.
Riikka Tanners und Tuula Linds »Käheä-ääninen tyttö. Kaalengo tsaj« (wörtlich ›Das Mädchen mit der rauen Stimme‹, 2009) erzählt vom apartheid-ähnlichen Umgang mit den Rom_nja in den 1950er und 1960er Jahren. Linds Lebensgeschichte umfasst ihre traumatischen Erlebnisse im Kinderheim und wird zum Bekenntnis, wenn die Autorin von ihrem Leben als Diebin und Drogenabhängige berichtet, die schließlich im Gefängnis endet. Des Weiteren beschreibt sie das Erwachen des politischen Bewusstseins unter Rom_nja in den 1960er und 1970er Jahren.
Rainer Frimans (* 1958) Buch »Miehen tie« (wörtlich ›Gewohnheiten eines Mannes‹, 2008) verbindet scharfsichtige kulturelle und soziale Kritik mit Selbsterkundung. Das Werk stellt die Probleme jugendlicher Rom_nja zur Diskussion und kritisiert gleichzeitig den Romantizismus im Zusammenhang mit Roma-Kultur.
Kinderbücher
Veijo Baltzars Märchenbuch »Mustan Saaran kristallipallo« (wörtlich ›Die Kristallkugel der Schwarzen Saara«, 1978) erzählt die Geschichte der Suche nach Tugenden wie Weisheit, Empathie und Vergebung. Inga Angersaaris »Romaniukin satureppu« (wörtlich ›Romaniuks Märchentasche‹, 2001) handelt von der Übertragung der kulturellen Erinnerung auf die nächste Generation. Helena Blomerus’, Satu Blomerus’ und Helena Korpelas Werk »Rassako reevos. Yökettu« (wörtlich ›Nachtfuchs‹, 2017) ist realistisch und dialogisch erzählt und bietet zahlreiche Sprechrollen. Es gibt den Alltag des Roma-Mädchens Mira und ihrer Familie wieder, die sich harmonisch in die Mehrheitsgesellschaft integriert haben (Sinko 2010). Dies gibt zur Hoffnung Anlass, dass die finnische Gesellschaft in den 2010er Jahren zu einer größeren kulturellen Diversität gefunden hat.
Schlussfolgerung
Roma-Schriftsteller_innen in Finnland schildern furchtbare Armut, ihre Bücher beschreiben, wie Rom_nja aus allen gesellschaftlichen Sicherheitsnetzen fallen und welche Überlebensstrategien sie entwickeln. Sie zeigen, dass Roma-Identität sich aus der Beibehaltung ihrer Traditionen speist, andererseits machen sie auch deutlich, dass manche Rom_nja ihren Lebensstil verändern (Gröndahl & Rantonen 2013). Viele dieser Roma-Autor_innen thematisieren traumatische Erfahrungen von Roma-Kindern in Kinderheimen in den 1950er und 1960er Jahren. Die gemeinsame Geschichte von Rom_nja in Finnland, auch die unschätzbarwertvollen Zeugnisse bisher verschwiegener Geschichten des Holocausts und der Flüchtlingserfahrungen werden in der finnischen Roma-Literatur eindrücklich dargestellt und dokumentiert.
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