Obwohl der Begriff »Balkan« im Diskurs über Europa manchmal wegen seiner »orientalisierenden« Konnotation für die europäische Vorstellungswelt abgelehnt wird, ist er heute sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs weithin akzeptiert. Um die Idee der Gemeinsamkeiten von linguistischen und kulturellen Merkmalen aller Gemeinschaften auszudrücken, sprechen wir von Balkan-Ethnokultur, Balkan-Sprachbund, Balkanmusik, Balkan-Diaspora und auch von Balkan-Roma-Gruppen.
Die Lebensweise und Kultur der Roma auf dem Balkan wurde stark durch das Osmanische Reich – also durch den Einfluss des Islam und der muslimischen Kultur – geprägt. Dies umfasst die Präsenz von Roma in fast allen alten bewohnten Orten; ein in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit und/oder Religionsgemeinschaften distinktes Leben in Vierteln, die Mahalla genannt werden (im Falle von Roma werden diese von der Mehrheit »Zigeuner-Mahalla« genannt); jahrhundertelange Koexistenz und ständige Interaktion der Roma mit allen anderen in Mahallas lebendenden (türkischen, christlichen, jüdischen, armenischen etc.) Gemeinschaften.
Als moderne, unabhängige Staaten haben die meisten Balkanländer mitsamt ihrer Roma-Gemeinschaften ähnliche Prozesse durchlaufen – ethnisch geprägte Nationalstaaten, die in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden; osteuropäischer Kommunismus mit sowjetisch beeinflusster Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; post-sozialistischer Übergang zur Demokratie; Kriegsflüchtlinge und Arbeitsmigration in den »Westen« sowie (Bestrebungen zur) EU-Integration.
Gut ausgebildete Roma-Autor_innen vom Balkan haben eine lange Tradition.
Die Mehrheit der Roma auf dem Balkan führt seit vielen Jahrhunderten ein sesshaftes Leben und nimmt an allen soziokulturellen Prozessen, historischen Ereignissen, dem institutionellen Leben ihrer Nationalstaaten usw. teil. Während der sozialistischen Periode erhielten viele Roma eine Ausbildung. Das ist ein Hauptunterschied zwischen den Balkan-Autor_innen (sowie allgemein den osteuropäischen) und Autor_innen aus dem Westen: Gut ausgebildete Roma-Autor_innen vom Balkan – viele von ihnen mit Universitätsabschluss – haben eine lange Tradition. Dennoch bleiben sie Teil einer bestimmten Roma-Gruppe. Die meisten von ihnen sind in einem von Roma bewohnten Mahalla aufgewachsen und teilen das Schicksal und die Werte ihrer Roma-Gemeinde.
Der Zeitraum dieses Überblicks reicht von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 2017. Die Länder, die detailliert betrachtet werden, sind Bosnien, Bulgarien, Kroatien, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien und alle anderen Staatsformen, in denen diese Länder historisch integriert waren (zum Beispiel das Osmanische Reich, Österreich-Ungarn, Jugoslawien).
Weder jung noch unentwickelt
Die tatsächliche Entwicklungsgeschichte der Roma-Publikationen aus dem Balkan widerspricht der gängigen Ansicht von Roma-Literatur als »junges«, »unterentwickeltes«, »verspätetes« oder beispielloses Phänomen. In der Tat erfolgte der Übergang der Romani-Sprachen von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit später als bei den meisten anderen europäischen Sprachen. Jedoch stellten Roma auf dem Balkan selbst solche Forderungen bereits im 19. Jahrhundert. Obwohl diese Forderungen weit davon entfernt waren, verwirklicht zu werden, sind sie ein Zeichen dafür, dass die Prozesse in den Eliten der Roma-Gemeinschaften stark von den allgemeinen Entwicklungen in jenen Regionen beeinflusst wurden, in denen diese Gemeinschaften lebten. Während dieser Zeit entstanden Bestrebungen nationaler Emanzipation, also der Bildung von Nationalstaaten für ethnische Gemeinschaften, die zu dieser Zeit auf dem Territorium des Osmanischen Reiches lebten und von ihren Eliten geführt wurden.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die ersten literarischen Texte der Balkan-Roma volkskundliches Material waren. Es wurde das im 19. Jahrhundert bekannte Muster ethno-nationaler Staaten in der Region Südosteuropa und Mitteleuropa angewandt. Gefolgt wurde dabei dem von Johann Gottfried Herder inspirierten Modell der Förderung nationaler Emanzipation durch die Sammlung und Veröffentlichung einer breiten Palette von volkskundlichem Material, Wörterbüchern, Erzählungen über Bräuche sowie traditioneller Lieder, die den Nationalgeist repräsentierten. In dieser Zeit erschienen – historisch bereits relativ früh und parallel zu Volkskundesammlungen der jeweiligen ethno-nationalen Staaten – Sammlungen von Roma-Volkstradition.
So wiederholt die Entwicklung der Roma-Literatur das Muster des Überganges europäischer Sprachen von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit.
Beispiele dafür sind die Roma-Geschichten, die Barbu Constantinescu im späten 19. Jahrhundert in Rumänien gesammelt und veröffentlicht hat, oder, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Naiden Sheitanovs Aufzeichnungen des Sofioter »Erli«-Dialekts in Bulgarien. Sehr oft haben dieselben Personen, wie zum Beispiel der Bosnier Rade Uhlik, nicht nur Roma-Folklore gesammelt und veröffentlicht, sondern auch Bibeltexte ins Romanes übersetzt. So wiederholt die Entwicklung der Literatur von Roma das Muster des Überganges europäischer Sprachen von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit. Die ersten Korpora geschriebener Texte waren Volksmärchen und -erzählungen; gesammelt und veröffentlicht wurden sie von Volkskundlern und von Übersetzern von Bibeltexten ins Romanes.
Die Entwicklung der Literatur von Roma auf dem Balkan kann im Vergleich mit den schriftlichen Traditionen jener Gemeinschaften und Sprachen, die bereits in einem Nationalstaat aufgegangen waren, allenfalls als »verspätet« bezeichnet werden. Verglichen mit der schriftlichen Kultur- und Literaturentwicklung aller anderen staatenlosen ethnischen und sprachlichen Gemeinschaften auf dem Balkan (wie zum Beispiel den sogenannten Aromunen oder Walachen oder den Istrorumänen usw.) oder in Europa (zum Beispiel Samen) zeigt sich, dass literarische Veröffentlichungen in den Sprachen der Roma relativ zeitgemäß und »normal« sind: Ähnlich wie bei Roma-Gruppen wurde die Volkstradition aller dieser Gemeinschaften im 19. und 20. Jahrhundert gesammelt, während die Produktion von fiktionaler Literatur erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Außerdem können wir sehen, wie reich und »überentwickelt« die Literatur der Roma im Vergleich zu den Literaturen anderer Balkan-Minderheiten ohne eigenen Nationalstaat ist.