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Julia Blandfort

Die Literatur der Sinti und Roma Frankreichs: Von »nomadischen« Identitäten

Circa zwanzig Schriftsteller_innen, die sich als Rom oder Romni identifizieren, haben in Frankreich Prosa und Poesie veröffentlicht. Der erste Text, »Les Ursitory« von Matéo Maximoff, stammt aus dem Jahr 1938. Er wurde 1946 erstmals gedruckt. Bis 2018 wurden etwa dreißig Prosawerke und rund zwanzig Gedichtbände publiziert. Trotz der relativ großen Zeitspanne lassen sich in den Werken sowohl thematische als auch stilistische Parallelen aufzeigen, die für die Entwicklung eines Diaspora-Diskurses stehen. Der Diaspora-Begriff wird hier im Sinne Brubakers (2005, S. 12) als Sprache und Haltung gesehen, die vor allem dazu dienen, eine Weltsicht zu konstruieren. Als Teil dieses identitären Konstruktionsprozesses spielt die Literatur eine bedeutsame Rolle, wobei die Autor_innen zwar ihren individuellen Sichtweisen Ausdruck verleihen, dies jedoch mit einem dezidiert kollektiven Anspruch tun (weitergehend zur Verwendung des Begriffes »Diaspora« in Bezug auf Rom_nja vgl. Blandfort, 2015).

Mozes F. Heinschink | Matéo Maximoff, 1990 | Fotografie | Österreich | 1990-05 - 1990-06 | lit_00061 Rights held by: Mozes Friedrich Heinschink | Licensed by: Mozes Friedrich Heinschink | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Mozes Friedrich Heinschink – Private Archive

Exemplarisch kann dies hier am verbreiteten Bild der nomades aufgezeigt werden. In diesem Zusammenhang soll betont werden, dass es sich bei der Verwendung des Begriffs »nomadisch« nicht vorrangig um die Lebensweise als wandernde Gemeinschaft handelt, die stereotyp mit dem Leben von Sinti und Roma verbunden wird. Vielmehr wird er im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari (1980) als identitäres Merkmal begriffen.

Autor_innen der Sinti und Roma speisen ihre Darstellung folglich aus einer Geschichte realer Migration, deuten diese jedoch als Geisteshaltung metaphorisch um. Die Identifikation als nomades wird von ihnen als vereinheitlichendes Merkmal aller unterschiedlichen Gruppen der Sinti und Roma dargestellt und hat damit auch eine wichtige Bedeutung für den politischen Diskurs. In diesem Sinne ist auch der Titel dieses Textes zu verstehen.

Französische Autor_innen der Sinti und Roma entwickeln vorherrschend ein »nomadisches« Selbstbild in ihren Werken.

Französische Autor_innen der Sinti und Roma entwickeln vorherrschend ein »nomadisches« Selbstbild in ihren Werken. Figuren sowohl in der Poesie als auch in der Prosa werden als räumlich unabhängige Wanderer konstruiert, die damit häufig auch dem in der Mehrheitsgesellschaft verbreiteten Stereotyp entsprechen. Dies steht im krassen Gegensatz zu anderen Strömungen beispielsweise in Deutschland oder Tschechien, wo dieses Bild zugunsten der Sesshaftigkeit vehement abgelehnt wird. Über die soziokulturelle und historische Realität hinaus wird das Bild der »Nomad_innen« von den Autor_innen vielfältig als literarisches Mittel genutzt, um ihrem individuellen Selbstverständnis Ausdruck zu verleihen.

Dies ist nicht mit Nichtzugehörigkeit zu verwechseln; ganz im Gegenteil reklamieren französische Autor_innen der Sinti und Roma ebenso wie diejenigen anderer Länder Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft. Da diese Autor_innen jedoch primär die Frage bewegt, wodurch ihre Ethnie kulturell charakterisiert ist, bietet sich dieses verbreitete Bild an, um kulturelle Identität zu verhandeln.
Dieses Konzept betrifft auch einzelne andere Charakteristika, die von verschiedenen Autor_innen in Prosa und Poesie aufgegriffen und verdichtet werden und sich auf diese Weise zu »Erinnerungsfiguren« (Assmann 2007) von Sinti und Roma entwickeln. Neben dem Leben als Wandernde sind hier der Pilgerort Les Saintes-Maries-de-la-mer, der Swing-Gitarrist Django Reinhardt, der Holocaust und der Wiedergänger mulo zu nennen.

Letzterer ist eine beliebte Figur in Märchen und Anekdoten, wodurch ein weiteres Charakteristikum der Literatur deutlich wird. Die Texte sind häufig durch die mündliche Tradition inspiriert, wobei sich die Autor_innen jedoch nicht darauf beschränken, diese einfach aufzuzeichnen. Vielmehr sind ihre Texte durch die Mündlichkeit inspiriert und greifen diese kreativ auf.

Adressat_innen der Literatur sind vor allem Leser_innen aus der Mehrheitsgesellschaft, die dem schriftlichen Ausdruck von Sinti und Roma positiv gegenüberstehen. Die eigene Gemeinschaft hingegen ist dem gruppeneigenen schriftstellerischen Schaffen gegenüber kritisch eingestellt. Die Autor_innen sehen sich daher häufig marginalisiert und werden manchmal sogar als Verräter_innen an der eigenen Kultur beschuldigt.

»Nomadisches« Dasein steht hier als Metapher für Dynamik und Veränderung.

Aber auch in der Mehrheitsgesellschaft wird die Arbeit von Sinti und Roma als Autor_innen nur selten anerkannt. Der Autor Jean-Marie Kerwich nimmt dies zum Anlass, in seinem Prosa-Gedicht mit dem Titel »Les nomades« über das Dasein als Schriftsteller zu reflektieren (Kerwich 2005). Beispielhaft kann an diesem Gedicht gezeigt werden, wie die Denkfigur der »Nomad_innen« als Inspirationsquelle und Identifikationsfigur benutzt wird. Der Text beginnt mit den Zeilen: »Comme c’est étrange, une page blanche. Elle est vide de vie, et soudain les nomades de la pensée passent et ils allument un feu de phrases. Sont-ils poètes?« (›Wie wundersam, eine weiße Seite. Sie ist lebensleer und plötzlich ziehen die Gedankennomaden über sie hinweg und entzünden ein Feuer von Sätzen. Sind sie Dichter?‹).

»Nomadisches« Dasein steht hier als Metapher für Dynamik und Veränderung, welche auf die künstlerische Ebene übertragen wird. Der Autor verbindet dadurch eine traditionelle Lebensweise mit einer neuen künstlerischen Ausdrucksform, die er zugleich infrage stellt. Die damit ausgedrückte innere, künstlerische Migration ersetzt eine nicht mehr real gelebte Wanderschaft. Es wird also der Versuch unternommen, das schriftstellerische Schaffen, welches tendenziell negativ belegt ist, durch ein bekanntes Bild ins Positive zu kehren. Diese literarische Umsetzung des Motivs der Wanderschaft findet sich in zahlreichen weiteren Texten und verdeutlicht, wie die Literatur als Ort der Identitätsbildung genutzt wird (ausführliche Beispiele und Analyse in Blandfort 2015, S. 140–170).

Dies trifft ebenso auf andere französischsprachige Werke zu. So nimmt die Autorin Sandra Jayat das Bild der Wanderschaft programmatisch in den Titel ihres autobiografischen Romans »La longue route d’une zingarina« (1978) auf, in dem ihr Lebensweg eng an eine »nomadische« Identität geknüpft wird. Wie im Falle Kerwichs handelt es sich hier nicht um die Darstellung realer Wanderschaft, sondern um das Bild der Migration als Ursprung künstlerischer Schaffenskraft.

Andere Texte sind stärker durch einen dokumentarischen Charakter geprägt und thematisieren das migrierende Leben in seiner realen (historischen) Dimension, so die Familienchroniken von Lick Dubois »Sur les routes de Provence avec les Sinti piémontais 1935–45« (1998), »Il était une fois les bohémiens 1945–2000« (2003) und »Enfances tsiganes. Merles des bois, merles des parcs« (2007) sowie Joseph Doerr mit »Où vas-tu manouches?« (1982). Wie in diesen Werken wird auch von Matéo Maximoff das Leben auf der Wanderschaft als erstrebenswerter Zustand und kulturelle Eigenart von Sinti und Roma konstruiert, die im scharfen Gegensatz zur Lebensweise der Mehrheitsbevölkerung steht.

Für französische Autor_innen der Sinti und Roma zeigt sich, dass die fahrende Lebensweise identitätskonstitutiv ist und ihre Aufgabe daher auch als Identitätsverlust gesehen wird. Die Literatur spiegelt die Versuche, diese Lebensart festzuschreiben beziehungsweise metaphorisch umzudeuten.

Die von Jean-Marie Kerwich aufgeworfene Frage nach dem Recht, sich Dichter nennen zu dürfen, kann für Frankreichs Autor_innen der Sinti und Roma eindeutig positiv beantwortet werden. Ihre Werke sind facettenreich und bieten für Leser_innen (der Mehrheitsgesellschaft) nicht nur intime Einblicke in eine unbekannte Lebensweise, sondern auch interessante Denkanstöße. Das Bild der »nomadischen« Identität kann dabei als wegweisend für das Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften gelten.

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