Mariella Mehrs literarisches Werk sticht durch die Themenwahl und die Radikalität der Bearbeitung aus der Schweizer Literatur hervor. Als Angehörige der Jenischen und Betroffene der von der Schweizer Hilfsorganisation Pro Juventute durchgeführten Aktion »Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse« zeigt sie in ihrem Schreiben eine existenzielle Dringlichkeit, wie man sie in der Schweizer Literatur nicht häufig findet. Die Themen, die sie literarisch bearbeitet, sind bis heute gesellschaftspolitisch brisant und in keiner Weise definitiv aufgearbeitet. 1947 in Zürich geboren, erlangte Mariella Mehr in den 1980er Jahren internationale Bekanntheit durch ihr Engagement bei der Aufdeckung und Aufarbeitung der Aktion »Kinder der Landstrasse« – eines staatlich finanzierten Programms systematischer Wegnahme jenischer und Roma-Kinder von ihren Eltern und Adoption durch Familien der Schweizer Mehrheitsbevölkerung.
Für Mariella Mehr steht die Beschäftigung mit der jenischen Herkunft und der eigenen leidvollen Biografie am Ursprung ihrer journalistischen und schriftstellerischen Tätigkeit. In Reportagen (»Alptraum der Embryos«, 1975) und ausführlicher in ihrem ersten, unverkennbar autobiografischen Roman »Steinzeit« (1981) schildert sie ihre in einer Pflegefamilie und mehreren Heimen durchlittene Kindheit und Jugend. Bereits diese frühen Texte zeugen von Mariella Mehrs Suche nach einer adäquaten Sprache für die gewaltgeprägten Erlebnisse.
Mit der Pro-Juventute-Aktion befasste sie sich in vielen journalistischen Artikeln. Außerdem arrangierte sie die über sie angelegten Akten zu dem Dramentext »Akte M. Xenos ill. 1947 – C. Xenos ill. 1966: Ein Theaterstück«, der bei seiner Uraufführung 1986 in Bern große Reaktionen hervorrief und in Mariella Mehrs Dokumentation »Kinder der Landstrasse. Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen« (1987) in Buchform veröffentlicht wurde. Bis in die 1990er Jahre behandelt sie die Problematik der Fahrenden in der Schweiz in Artikeln, Kolumnen und offenen Leserbriefen.
In Mariella Mehrs literarischen Texten besetzen die Jenischen hingegen nur einen marginalen Platz. »Heimat im Wort« etwa ist ein liebevolles Porträt von ihrem Onkel, einem Korbflechter, der kurz vor dem Tod in den Wald zurückkehrt, um in Ruhe zu sterben. Zwei weitere Kurzprosatexte sind der leidvollen Familiengeschichte gewidmet: »von der unlust der sinnlichkeit am tontaubenschiessen oder von der wollust des habichts am töten des huhnes« (1987) sowie »Phralalen, Pejalen Mama. Quante Mamera. Liebe Mutter« (1996).