Klassische Musik

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Georges Bizets »Carmen« und die »liederliche Frau«

Sydnee Wagner

»Zigeuner« als hypersexueller Tropus

Eine der ersten Darstellungen einer Romni auf der europäischen Bühne findet sich in William Shakespeares »Antonius und Cleopatra« (1607). Die Assoziation von Ägypter_innen und Rom_nja in der frühen Moderne in Europa führte dazu, dass frühe moderne Autoren wie Shakespeare klassische ägyptische Figuren als Gypsies (»Zigeuner«) rekonfigurierten.

Die Sexualität von Sinti und Roma wird spezifisch rassifiziert und somit sowohl exotisiert als auch verunglimpft.

Indem er das Bild einer Romni evoziert, um Kleopatras Sinnlichkeit zu beschreiben, beleuchtet Shakespeare bekannte ethnisierte Ideen über promiskes, enigmatisches Begehren. Cleopatras sexuelle Leidenschaft, die als eine »gipsy’s lust« [Zigeunerin Wollust] beschrieben wird, wird zur überragenden Eigenschaft, die fantastische Vorstellungen der exotischen Erotik heraufbeschwört, die weiße europäische Männer zu verführen und verhexen droht, wie dies Cleopatras Geliebten Marcus Antonius widerfährt.

Die opernhafte »Carmen«

Der Tropus der hypersexuellen, weiße Männer verführenden Romni ist keineswegs mit der frühen Moderne gestorben, sondern wurde vielmehr im 17. und 18. Jahrhundert ständig reproduziert. George Bizets »Carmen« (1875) ist zweifelsohne das bekannteste Bühnenstück, das von einer Romni und ihrer Sexualität handelt. Die französische Oper, uraufgeführt an der Opéra Comique in Paris, schockierte das Publikum mit der Geschichte von Don José, einem spanischen Soldaten, der von der lüsternen Romni Carmen verführt und dann verlassen wird.

Der Tropus der hypersexuellen Romni und Sintiza, der immer noch in den massenmedialen Darstellungen von Sinti und Roma und in der Fantasie weißer Europäer weiterlebt, ermöglicht systematische sexuelle Übergriffe und Menschenhandel von Romnja und Sintize.

Zunächst widersteht José Carmen, wenn sie ihre Habanera »L’amour est un oiseau rebelle« singt. Aber als Carmen eine Frau mit einem Messer angreift (eine stereotypische Darstellung der angeblichen Kriminalität der Sinti und Roma), befiehlt der Gardeoffizier Zuniga dem Soldaten José, Carmens Hände zu fesseln, was es Carmen ermöglicht, José zu umgarnen und zu verführen. José lässt sein früheres Leben hinter sich, um Carmen zu besänftigen und sie bei ihren kriminellen Eskapaden zu begleiten, aber als Carmen von José gelangweilt ist und sie ihn für den Stierkämpfer Escamillo verlässt, bringt er sie in einem Eifersuchtsanfall um und singt dabei über seine leidenschaftliche, obsessive Liebe für sie.

Unterdrückte Sexualität und Roma-Transgressionen

Hinsichtlich der Verbindungen zum angeblichen Verbrechertum und der Sexualität von Sinti und Roma schreibt Sarah Houghton-Walker: »Die Faszination mit der Sexualität von Sinti und Roma ist indikativ für ein allgemeines Muster, nach dem viele Autor_innen, obwohl sie Ekel und Ablehnung artikulieren, sich nichtsdestotrotz von den Vagabund_innen, die sie ablehnen, angezogen fühlen.«1 Obwohl Houghton-Walker meint, dieses Muster lasse sich auf ein Begehren des weißen europäischen Mannes zurückführen, aus der Häuslichkeit auszubrechen, ignoriert diese Vorstellung, wie die Sexualität von Sinti und Roma spezifisch rassifiziert und somit sowohl exotisiert als auch verunglimpft wird.

In ihrer Studie der Figur der spanischen Gitana schreibt Lou Charnon-Deutsch: »In der großen Mehrzahl der Geschichten bestehen die unpassenden Paare aus einem Mann, auf vielerlei Art überlegen, aber oft unterdrückt, der sich von einer Frau angezogen fühlt, deren Sorglosigkeit und sinnliche Fähigkeiten im Vergleich aufgebauscht werden.«2 Der Tropus der »wollüstigen Romnia«, mit dem der männliche europäische Verehrer seine ansonsten unterdrückte Sexualität artikulieren kann, ermöglicht es ihm, die gesellschaftliche Verantwortung für diese Transgression den Sinti und Roma zuzuweisen.

Der Tropus der hypersexuellen Romnja ermöglicht systematische sexuelle Übergriffe und Menschenhandel von Romnja.

Zwar sind diese Darstellungen fiktional, hatten aber über Jahrhunderte ganz reale Konsequenzen für Romnja. Der Tropus der hypersexuellen Romnja, der immer noch in den massenmedialen Darstellungen von Roma und Sinti und in der Fantasie weißer Europäer weiterlebt, ermöglicht systematische sexuelle Übergriffe und Menschenhandel (zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung) von Romnja. Bizets »Carmen« ist eine Oper, die sowohl die obsessive Fantasie der sexualisierten Romnja als auch die von weißen Männern ausgeübte Gewalt gegen Romnja zur Schau stellt – eine Gewalt, die leider immer realer bleiben wird, als dies die karikaturhafte Carmen ist oder je sein wird.

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