Zunächst widersteht José Carmen, wenn sie ihre Habanera »L’amour est un oiseau rebelle« singt. Aber als Carmen eine Frau mit einem Messer angreift (eine stereotypische Darstellung der angeblichen Kriminalität der Sinti und Roma), befiehlt der Gardeoffizier Zuniga dem Soldaten José, Carmens Hände zu fesseln, was es Carmen ermöglicht, José zu umgarnen und zu verführen. José lässt sein früheres Leben hinter sich, um Carmen zu besänftigen und sie bei ihren kriminellen Eskapaden zu begleiten, aber als Carmen von José gelangweilt ist und sie ihn für den Stierkämpfer Escamillo verlässt, bringt er sie in einem Eifersuchtsanfall um und singt dabei über seine leidenschaftliche, obsessive Liebe für sie.
Unterdrückte Sexualität und Roma-Transgressionen
Hinsichtlich der Verbindungen zum angeblichen Verbrechertum und der Sexualität von Sinti und Roma schreibt Sarah Houghton-Walker: »Die Faszination mit der Sexualität von Sinti und Roma ist indikativ für ein allgemeines Muster, nach dem viele Autor_innen, obwohl sie Ekel und Ablehnung artikulieren, sich nichtsdestotrotz von den Vagabund_innen, die sie ablehnen, angezogen fühlen.« Obwohl Houghton-Walker meint, dieses Muster lasse sich auf ein Begehren des weißen europäischen Mannes zurückführen, aus der Häuslichkeit auszubrechen, ignoriert diese Vorstellung, wie die Sexualität von Sinti und Roma spezifisch rassifiziert und somit sowohl exotisiert als auch verunglimpft wird.
In ihrer Studie der Figur der spanischen Gitana schreibt Lou Charnon-Deutsch: »In der großen Mehrzahl der Geschichten bestehen die unpassenden Paare aus einem Mann, auf vielerlei Art überlegen, aber oft unterdrückt, der sich von einer Frau angezogen fühlt, deren Sorglosigkeit und sinnliche Fähigkeiten im Vergleich aufgebauscht werden.« Der Tropus der »wollüstigen Romnia«, mit dem der männliche europäische Verehrer seine ansonsten unterdrückte Sexualität artikulieren kann, ermöglicht es ihm, die gesellschaftliche Verantwortung für diese Transgression den Sinti und Roma zuzuweisen.
Der Tropus der hypersexuellen Romnja ermöglicht systematische sexuelle Übergriffe und Menschenhandel von Romnja.
Zwar sind diese Darstellungen fiktional, hatten aber über Jahrhunderte ganz reale Konsequenzen für Romnja. Der Tropus der hypersexuellen Romnja, der immer noch in den massenmedialen Darstellungen von Roma und Sinti und in der Fantasie weißer Europäer weiterlebt, ermöglicht systematische sexuelle Übergriffe und Menschenhandel (zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung) von Romnja. Bizets »Carmen« ist eine Oper, die sowohl die obsessive Fantasie der sexualisierten Romnja als auch die von weißen Männern ausgeübte Gewalt gegen Romnja zur Schau stellt – eine Gewalt, die leider immer realer bleiben wird, als dies die karikaturhafte Carmen ist oder je sein wird.