Klassische Musik

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Petra Gelbart

Franz Liszt und die Entstehung von Legenden

Franz Liszt

Franz (Ferenc) Liszt (1811–1886) ist bis heute neben Béla Bartók der bekannteste ungarische Kunstmusikkomponist, aber auch als Klaviervirtuose berühmt. Obwohl er kein Rom war, verbrachte er viel Zeit in der Gesellschaft von Roma und identifizierte sich stark mit deren kreativem Schaffen. Liszt, der die niederen Weihen der Kirche empfangen hatte, schrieb einmal, er fühle sich »halb Zigeuner, halb Franziskaner«.

Liszts Fehler

Liszts Beziehung zu den Roma und der Musik, die sie spielten, war jedoch kompliziert und kontrovers. Sein kompositorischer Stil war zu großen Teilen von Aspekten der Musik, die er von Roma-Ensembles und einzelnen Roma-Musiker_innen gehört hatte, inspiriert oder beeinflusst. [Siehe dazu den Beitrag zu den Ungarischen Rhapsodien] Liszts Vermächtnis ist unter anderem die wachsende Popularität von »Zigeuner-Elementen« in den Werken zahlreicher westlicher Komponisten (Hector Berlioz, Hermann A. Wollenhaupt, Jenő Hubay, Elemér Szentirmay und andere). Und doch haben seine Vorstellungen über »Zigeunermusik«, die er als einen nationalen ungarischen Stil sah, hitzige Debatten ausgelöst, die bis heute andauern.

Haben die Roma diese Musik geschaffen oder haben sie sie von beliebten ungarischen Gassenhauern und Arrangements übernommen? Waren beide dieser Stile unvergleichbar mit der »reinen« Musik der Untergruppe der Vlach-Roma, die keinen Einfluss auf jene Musik hatte, die klassische Komponisten beeinflusste? War Liszts Glorifizierung der Roma einfach ein kolossaler Fehler (wie Bartók später behauptete), der in einer grundlegenden Fehleinschätzung ungarischer Musikstile wurzelte? Diese Fragen muss die Wissenschaft erst vollständig beantworten.

Franz Liszts meistdiskutiertes Schriftstück ist »Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie«. Das Buch, dessen deutsche Ausgabe unter dem Titel »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« erschien, wird fast immer als eine höchst positive Darstellung der Roma und ihrer musikalischen Beiträge zur ungarischen Kultur interpretiert. Der ungarische Musikologe Bálint Sárosi schrieb dazu: »[Liszts] Buch dient bis heute all jenen als Beispiel und Referenzwerk, die den Zigeunern ein rosarotes Hochzeitstorten-Bild von sich selbst vermitteln wollen.«

Häufig gelesene Reaktionen auf Liszts »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« (an dem auch Carolyne Sayn-Wittgenstein mitwirkte) lassen sich sehr konstant in nur zwei Kategorien einordnen: Entweder sie loben Liszt für seine Erkenntnisse oder sie widersprechen ihm in einem bestimmten Punkt – darin, dass er den Roma ein echtes kreatives Potenzial zuschreibt. Béla Bartóks berühmte negative Einschätzung zu Liszts Abhandlung war nicht die erste Manifestation der letzteren Reaktion, doch sie wurde zu einer Art Prototyp für andere Kritiken zu Liszts Buch. Das heißt, Bartóks Argumentation – dass das, was in Ungarn als »Zigeunermusik« bekannt sei, nicht von Roma geschaffen worden sei, sondern diese nur die Werke »echter Ungarn« adaptiert (und »verunstaltet«) hätten und Liszt grundsätzlich falsch liege, wenn er ihnen die Musik zuschreibe – wird von Liszts »Gegnerseite« am häufigsten zitiert. So hat sich ein großer Teil der Literatur über die Kreativität der Sinti und Roma darauf reduziert, entweder Liszts oder Bartóks Ansichten zu wiederholen. Hinsichtlich rassistischer Sprache teilen die beiden Autoren jedoch einige wichtige Dogmen des europäischen Denkens.

Dank seines Buchs gilt Franz Liszt in der Vorstellung der Allgemeinheit und der akademischen Welt tendenziell als Freund und Verteidiger der Roma. Wenn dies in den positiven Bewertungen von Liszts Werk (z. B. Antonietto 1994) nicht ausreichend deutlich wird, so ist es in kritischen Äußerungen zu Liszts Ansichten über die jeweiligen musikalischen Verdienste von Rom_nja und Ungar_innen stark impliziert. Bartóks Berichtigung von Liszts »Irrtum« ist respektvoll, aber auch bestimmt. Er gibt den Tenor einer frühen Kritik von Samuel Brassai wieder, wenn er sich gegen Liszts Zuschreibung der »Zigeunermusik« zu den Roma ausspricht. Gleichzeitig entschuldigt er den angefochtenen Nationalhelden mit der Erklärung, Liszt sei einfach falschen Informationen zum Opfer gefallen, als er die Roma so sehr als Urheber_innen lobte. Die ungarische Bezeichnung »Zigeunermusik« nennt er einen »falschen Sprachgebrauch« (Bartók 1931; Bartók, jr. 1981). Man kann Liszt natürlich vorwerfen, stark übertrieben zu haben, als er behauptete, ungarische Roma seien die alleinigen Urheber_innen der Musik, die sie spielten, und dies sei die einzig echte »Nationalmusik«, die es in Ungarn gebe. Diese unrealistische Historiografie wurde von Bartók und anderen mit der Aussage überkompensiert, Sinti und Roma seien selten oder nie die Urheber_innen ihres Repertoires, dessen populären Großteil sie ungarischen Kunstmusikkomponist_innen zu verdanken hätten.

Bartók und Liszt scheinen also zwei Seiten der Debatte über die ethnisch definierten Beiträge – oder deren Fehlen – zur Musik in Ungarn und generell in Europa zu verkörpern. Doch stimmt das wirklich? Ist Liszt wirklich ein Verfechter der Kreativität der Rom_nja, zu dem ihn selbst seine schärfsten Kritiker wie Bartók und Sárosi erklären? »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« ist tatsächlich nicht ganz eindeutig, wenn es um die Frage musikalischer Ursprünge geht. Liszt nimmt sich viel Raum, um die Kreativität der Roma zu rühmen, und in seiner Argumentation zu diesem Thema ist er in einer Hinsicht vielen Musikethnolog_innen des 20. und sogar 21. Jahrhunderts voraus: Indem er seine eigene Identität als Künstler mit der des »Zigeuners« verschmilzt, gelangt er zu der (übertriebenen und vereinfachenden) Behauptung, »der Virtuose schafft [...] ebenso gut als der Komponist selber«. Er findet in »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« aber auch Wege, Ungar_innen und Roma gleichermaßen an der Entwicklung von »Zigeunermusik« zu beteiligen. So fragt er beispielsweise:

»Wozu endlich sich darüber beunruhigen ob der erste Grund zu diesem gemeinschaftlichen Monument ob der erste Liebeskuß dieser Verbindung von Diesem oder von Jenem gegeben worden ist? Die Kunst besteht, und sie hätte weder ohne den Einen noch ohne den Andren wachsen, sich ausdehnen und leben können. [...] beide haben gleichen Anteil an der Ehre [...] Zigeunerkunst kann niemals von Ungarn getrennt werden, dessen Wappen sie für immer auf Siegel und Banner tragen muss.«

Liszt 1926: 274-5

Diese trügerische Vorstellung von grundlegenden Eigenschaften der Roma bleibt auch im 21. Jahrhundert weitverbreitet – mit ernsthaften politischen Auswirkungen.

Liszt betont, dass die »Zigeunermusik« ihre Entwicklung und gegenwärtige Existenz den erforderlichen günstigen Bedingungen verdanke, die man den Roma in Ungarn geboten habe, und beschönigt damit das Verhältnis zwischen Roma und Magyar_innen. So schreibt er beispielsweise: »Was wäre aber aus dem Zigeunerkünstler ohne die Ungarn geworden? Sind nicht sie die Einzigen welche den Zigeunern Ruhe gönnten [...]?« Die Rolle der Magyar_innen werden als gönnerhaft dargestellt, während das »Adoptivkind« namens »Zigeunermusik schwach und notleidend« gewesen sei und »wahrscheinlich vor Entkräftung umgekommen wäre«, hätte es nicht die elterliche Fürsorge des »kultivierten« Ungarns genossen. In Liszts Augen ist Roma-Musik also ganz und gar abhängig von den Magyar_innen, auch wenn sie nicht von ihnen stammen könne, da dies aus ethnischer Sicht unmöglich gewesen sei: »Die sogenannte Zigeunermusik enthält Elemente und drückt Gefühle aus, die viel zu wild sind, als dass sie von einem Volk hervorgebracht sein könnten, wie es die Magyaren immer waren.« Roma werden als »grundsätzlich« nomadisch beschrieben, während der sesshafte Charakter der Ungar_innen als »überaus schwerfällig« eingestuft wird. Diese trügerische Vorstellung von grundlegenden Eigenschaften der Roma bleibt auch im 21. Jahrhundert weitverbreitet – mit ernsthaften politischen Auswirkungen.

Liszt erhebt implizit die »Ergänzungen« der Roma in den Status der Komposition, auch wenn dieses Rohprodukt noch die feinfühlige Rezeption und Verfeinerung durch musikalisch gebildete Ungar_innen erfordere. Letztlich fällt die Bilanz von Liszts Analysen zugunsten einer »reinen Zigeunerkunst« aus – seine versöhnlichen Ausführungen zum Musikgeschmack und Talent der Magyar_innen können als ebenso zweifelhaft interpretiert werden wie seine Erläuterungen zum Charakter der Roma.

Die Natur der Roma

Doch es gibt noch eine andere, viel weniger diskutierte Seite der Geschichte: Liszts Charakterisierung des Musizierens der Roma steht bei aller poetischen Überschwänglichkeit grundsätzlich im Einklang mit seiner offensichtlichen Vorstellung, die Roma seien zwar hochbegabt, doch wenn auch nicht gerade Wilde, so zumindest kaum menschlich. Wie im Leben, erklärt der Komponist, würden die »Zigeuner« auch in der Musik keine Regeln oder Gesetze anerkennen: Ihr Spiel sei vollständig instinktiv und undiszipliniert. Neben dem Gefühl – dem allerwichtigsten Merkmal der Roma – sieht Liszt die Wurzel des »Zigeunergenies« in der »wilden und unbeschränkten Freiheit ihrer Rasse«. Müßiggang und Impulsivität, gepaart mit einem primitiven, vernunftlosen Charakter, sind Wesenszüge, die vor oder nach Liszts Ausführungen zu Roma-Musik immer wieder genannt werden. Interpretiert man sie zusammengenommen nicht als eine ästhetische Conditio sine qua non, sondern als ethnische Mängel, tauchen sie mit einer Häufigkeit von mehreren Negativpunkten pro musikalischem Positivpunkt auf, den der Komponist anführt. Hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten stellt das Buch »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« seine Untersuchungsobjekte als »dumme Inselbegabte mit umso beeindruckenderen musikalischen Fähigkeiten« dar. Vor diesem Hintergrund erscheint es seltsam, dass Liszt so häufig als Freund der Roma bezeichnet wird.

Der allgemeine Tonfall und Inhalt seines Lobs auf Roma-Musiker_innen in »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« wird in einem von Liszts Briefen wiedergegeben:

»Deine Zigeunervirtuosen hätten außerdem in mir einen geneigten und begierigen Zuhörer gefunden, zumal ich tief aus den Brunnen ihrer ungezähmten und packenden Harmonien getrunken habe. Die Zigeuner sind ein Thema, mit dem ich mich schon lange beschäftige, und ich habe sie früher ausführlich studiert und ihnen zugehört. [...] Ihre traurigen Rezitative, ihre natürliche und überschwängliche Anmut, ihre glühenden Rhythmen; – die kräftigen Doppelschläge und der unbezähmbare Impetus dieses markanten Stils; – ihre wilde Energie und provokative Koketterie; – diese plötzlichen Sprünge und verschwenderische Fantasie; diese triumphale und ungebändigte Ausdruckskraft; dieses freudige Gewieher und die sublimen Anklänge von Originalität, Launenhaftigkeit und manchmal Ironie. Die ganze Genialität, die Kunst letztlich ausmacht, wird von den Zigeunern verkörpert, die ihre Hüter sind (so wie die Israeliten die Hüter der Handelskunst sind), und alles, was man – kurz gesagt – fühlt, wenn man ihnen zuhört, viel mehr, als ich in Worte fassen könnte, findet man nirgends sonst als in ihren Lassans und Friskas, und die Adagios und Allegros unserer von den Salons entnervten Halb- und Viertelvirtuosen können niemals auch nur eine Vorstellung davon vermitteln – so wie die Truthähne in den Hinterhöfen, wenngleich sittsam und leicht verdaulich, niemals danach trachten können, Kondore zu sein.«

Suttoni 1984 [Liszt 1861]: 113

Die meisten Grundzutaten, aus denen »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« besteht, sind hier zu finden: Roma als unzivilisierte und doch künstlerisch edle Fremde in Gegenüberstellung zu den Magyar_innen oder Nicht-Roma im Allgemeinen und als vermeintlich bedeutsames Gegenstück für eine »höfliche« Spitze gegen die Juden. Der Brief entfernt sich jedoch leicht von dem im Buch dominierenden Thema des »Zigeunergefühls« – zugunsten einer differenzierteren Seite von Liszts Überlegungen zur Roma-Musik, wie die Schlagworte »traurig«, »natürliche Anmut«, »sublime Originalität« oder sogar »Ironie« zeigen. Das Buch beleuchtet eher die Kehrseite dessen, was Liszt und zahllose andere als angeborenes Talent der Roma bestimmt haben – kurz gesagt, die implizite Schlussfolgerung, dass solche Künstler_innen und ihresgleichen nicht als normale Mitglieder der Gesellschaft leben könnten.

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