Liszts Fehler
Liszts Beziehung zu den Roma und der Musik, die sie spielten, war jedoch kompliziert und kontrovers. Sein kompositorischer Stil war zu großen Teilen von Aspekten der Musik, die er von Roma-Ensembles und einzelnen Roma-Musiker_innen gehört hatte, inspiriert oder beeinflusst. [Siehe dazu den Beitrag zu den Ungarischen Rhapsodien] Liszts Vermächtnis ist unter anderem die wachsende Popularität von »Zigeuner-Elementen« in den Werken zahlreicher westlicher Komponisten (Hector Berlioz, Hermann A. Wollenhaupt, Jenő Hubay, Elemér Szentirmay und andere). Und doch haben seine Vorstellungen über »Zigeunermusik«, die er als einen nationalen ungarischen Stil sah, hitzige Debatten ausgelöst, die bis heute andauern.
Haben die Roma diese Musik geschaffen oder haben sie sie von beliebten ungarischen Gassenhauern und Arrangements übernommen? Waren beide dieser Stile unvergleichbar mit der »reinen« Musik der Untergruppe der Vlach-Roma, die keinen Einfluss auf jene Musik hatte, die klassische Komponisten beeinflusste? War Liszts Glorifizierung der Roma einfach ein kolossaler Fehler (wie Bartók später behauptete), der in einer grundlegenden Fehleinschätzung ungarischer Musikstile wurzelte? Diese Fragen muss die Wissenschaft erst vollständig beantworten.
Franz Liszts meistdiskutiertes Schriftstück ist »Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie«. Das Buch, dessen deutsche Ausgabe unter dem Titel »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« erschien, wird fast immer als eine höchst positive Darstellung der Roma und ihrer musikalischen Beiträge zur ungarischen Kultur interpretiert. Der ungarische Musikologe Bálint Sárosi schrieb dazu: »[Liszts] Buch dient bis heute all jenen als Beispiel und Referenzwerk, die den Zigeunern ein rosarotes Hochzeitstorten-Bild von sich selbst vermitteln wollen.«
Häufig gelesene Reaktionen auf Liszts »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« (an dem auch Carolyne Sayn-Wittgenstein mitwirkte) lassen sich sehr konstant in nur zwei Kategorien einordnen: Entweder sie loben Liszt für seine Erkenntnisse oder sie widersprechen ihm in einem bestimmten Punkt – darin, dass er den Roma ein echtes kreatives Potenzial zuschreibt. Béla Bartóks berühmte negative Einschätzung zu Liszts Abhandlung war nicht die erste Manifestation der letzteren Reaktion, doch sie wurde zu einer Art Prototyp für andere Kritiken zu Liszts Buch. Das heißt, Bartóks Argumentation – dass das, was in Ungarn als »Zigeunermusik« bekannt sei, nicht von Roma geschaffen worden sei, sondern diese nur die Werke »echter Ungarn« adaptiert (und »verunstaltet«) hätten und Liszt grundsätzlich falsch liege, wenn er ihnen die Musik zuschreibe – wird von Liszts »Gegnerseite« am häufigsten zitiert. So hat sich ein großer Teil der Literatur über die Kreativität der Sinti und Roma darauf reduziert, entweder Liszts oder Bartóks Ansichten zu wiederholen. Hinsichtlich rassistischer Sprache teilen die beiden Autoren jedoch einige wichtige Dogmen des europäischen Denkens.
Dank seines Buchs gilt Franz Liszt in der Vorstellung der Allgemeinheit und der akademischen Welt tendenziell als Freund und Verteidiger der Roma. Wenn dies in den positiven Bewertungen von Liszts Werk (z. B. Antonietto 1994) nicht ausreichend deutlich wird, so ist es in kritischen Äußerungen zu Liszts Ansichten über die jeweiligen musikalischen Verdienste von Rom_nja und Ungar_innen stark impliziert. Bartóks Berichtigung von Liszts »Irrtum« ist respektvoll, aber auch bestimmt. Er gibt den Tenor einer frühen Kritik von Samuel Brassai wieder, wenn er sich gegen Liszts Zuschreibung der »Zigeunermusik« zu den Roma ausspricht. Gleichzeitig entschuldigt er den angefochtenen Nationalhelden mit der Erklärung, Liszt sei einfach falschen Informationen zum Opfer gefallen, als er die Roma so sehr als Urheber_innen lobte. Die ungarische Bezeichnung »Zigeunermusik« nennt er einen »falschen Sprachgebrauch« (Bartók 1931; Bartók, jr. 1981). Man kann Liszt natürlich vorwerfen, stark übertrieben zu haben, als er behauptete, ungarische Roma seien die alleinigen Urheber_innen der Musik, die sie spielten, und dies sei die einzig echte »Nationalmusik«, die es in Ungarn gebe. Diese unrealistische Historiografie wurde von Bartók und anderen mit der Aussage überkompensiert, Sinti und Roma seien selten oder nie die Urheber_innen ihres Repertoires, dessen populären Großteil sie ungarischen Kunstmusikkomponist_innen zu verdanken hätten.
Bartók und Liszt scheinen also zwei Seiten der Debatte über die ethnisch definierten Beiträge – oder deren Fehlen – zur Musik in Ungarn und generell in Europa zu verkörpern. Doch stimmt das wirklich? Ist Liszt wirklich ein Verfechter der Kreativität der Rom_nja, zu dem ihn selbst seine schärfsten Kritiker wie Bartók und Sárosi erklären? »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« ist tatsächlich nicht ganz eindeutig, wenn es um die Frage musikalischer Ursprünge geht. Liszt nimmt sich viel Raum, um die Kreativität der Roma zu rühmen, und in seiner Argumentation zu diesem Thema ist er in einer Hinsicht vielen Musikethnolog_innen des 20. und sogar 21. Jahrhunderts voraus: Indem er seine eigene Identität als Künstler mit der des »Zigeuners« verschmilzt, gelangt er zu der (übertriebenen und vereinfachenden) Behauptung, »der Virtuose schafft [...] ebenso gut als der Komponist selber«. Er findet in »Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn« aber auch Wege, Ungar_innen und Roma gleichermaßen an der Entwicklung von »Zigeunermusik« zu beteiligen. So fragt er beispielsweise: