Liszt ließ sich zu neuen Techniken im Klavierspiel durch die anerkannte Virtuosität von Roma-Musikern auf anderen Instrumenten inspirieren.
Liszts »Ungarische Rhapsodie Nr. 2« in cis-Moll und der ungarische Stil in der Klaviermusik
Von Tänzen zu »Hochkunst«
Liszts berühmte Auseinandersetzung mit Roma-Musik und seine Schriften zu diesem Thema bilden den Inhalt einer anderen Narration.
An dieser Stelle können wir einen näheren und analytischeren Blick auf sein wohl berühmtestes Stück im »ungarischen Stil« werfen, das auch insgesamt zu seinen bekanntesten zählt: die »Ungarische Rhapsodie Nr. 2«.
Das Stück ist in einer typischen Csárdás-Form angelegt, wobei der Verbunkos-Stil weiter ausgefeilt wird. Der Csárdás ist ursprünglich ein ungarischer Volkstanz mit einem langsamen, würdevollen ersten Teil (lassú oder lassan), in dem die Spannung allmählich gesteigert und der Vorwärtsdrang erhöht wird. Ihm folgt ein Teil, der mit komplizierter Beinarbeit zu schnellen Tempi (friska oder friss) getanzt wird. Die vorliegende Rhapsodie wurde in den späten 1840er Jahren geschrieben und zeigt den Komponisten auf einer Gratwanderung zwischen virtuoser Effekthascherei und dem kompositorischen Ehrgeiz, die von deutschen Nationalist_innen und Avantgardist_innen in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgestellten Kriterien für »Hochkunst« anzuwenden.
Siehe »Ungarische Tanzsammlung«
Lassan
Aus kompositorischer Sicht zeigt diese Art der Wechselbeziehungen, wie sehr Liszt der thematischen Arbeit verpflichtet war, auf die in deutschen Landen so großen Wert gelegt wurde: die Schaffung »organischer« Verbindungen zwischen den Themen eines Stücks und beständige Transformation dieser Themen.
Das Stück beginnt mit einer Einleitung, die nahezu ohne hörbares Taktmaß erklingen soll, doch stark punktierte Rhythmen enthält. Man beachte die kleine siebte Stufe der Skala (das h), die bereits im zweiten Takt hervorsticht und im Kontext westlicher Moll-Tonalität exotische oder modale Anklänge erzeugt.
Danach, in Takt 9, beginnt der Lassan-Teil. Er ist langsam, ungleichförmig und baut sich nur schleppend auf, obwohl die ersten virtuosen Läufe bereits in Takt 24 erscheinen. Der erste Abschnitt des Themas schreitet zum Mollakkord der fünften Stufe (gis-Moll) voran. Ab Takt 27 wendet sich eine Variante des Lassan-Themas nach Dur (E-Dur, die Parallele der Grundtonart) und öffnet ein höheres Register. Bald darauf (ab Takt 35) wird bereits das spätere Hauptthema des Friska-Teils angedeutet.
Aus kompositorischer Sicht zeigt diese Art der Wechselbeziehungen, wie sehr Liszt der thematischen Arbeit verpflichtet war, auf die in deutschen Landen so großen Wert gelegt wurde: die Schaffung »organischer« Verbindungen zwischen den Themen eines Stücks und beständige Transformation dieser Themen. (Zur Jahrhundertmitte erachteten deutsche Komponisten wie auch solche, die unter ihrem Einfluss standen, zunehmend Beethoven als den Weiterentwickler einer nationalen Tradition, in der Themen konstruiert und über gesamte Stücke durch motivisches Spiel miteinander verwoben werden.)
Danach, ab Takt 51, beginnt das Stück, sich zu steigern und beträchtlich zu beschleunigen, bis es einen großen Pianolauf erreicht, der auf eine Kadenz in der Durtonika (Cis-Dur) zusteuert. Die Steigerung wird von einem Echo der langsamen Einleitung unterbrochen (Takt 62), und das Hauptthema des Lassan-Teils kehrt mit Verzierungen wieder. Schließlich ertönt die Einleitung ein letztes Mal in abgewandelter Form (Takt 110).
Friska
All dies hat auf den rasanten Friska-Teil vorbereitet, der sich nun (ab Takt 118) stürmisch entfaltet. Mit einem Tempowechsel beginnend, beschleunigt er ab Takt 158 noch weiter. Man achte insbesondere in den Takten 166 bis 177 auf die drei Oktavlagen um den Daumen als Achse. Dieser pianistische Trick war insofern typisch für Liszt, als er die Grenzen dessen, was an Virtuosität möglich erschien, weiter verschob (hier machte sich der Komponist seine großen Hände und seine außerordentliche Technik zunutze).
Das Stück macht einer improvisierten Kadenz Platz, die für Liszt die Vorstellung eines »authentischen«, spontanen Roma-Elements erweckt haben muss.
Doch gleichzeitig ließ sich Liszt zu neuen Techniken im Klavierspiel durch die anerkannte Virtuosität von Roma-Musikern auf anderen Instrumenten inspirieren: Im vorliegenden Fall soll das beständige Hämmern auf einem Ton in verschiedenen Oktaven auch das Zymbal imitieren, ein mit Klöppeln geschlagenes Hackbrett, das in ungarischen Roma-Kapellen gespielt wird.
Von hier bis zum Ende wird immer wieder thematisches Material eingeschoben, um die Energie zu steigern. Ein neues Thema, weniger rubato, sondern in gleichmäßigerem Tempo, wird in Takt 178 eingeführt. Ein weiteres neues Thema, diesmal im Bass, wird in Takt 218 hinzugefügt. (Dieses Thema wird in hoher Lage ab Takt 274 wiederkehren, und wenn es ab Takt 361 erneut erklingt, zur Erzeugung eines Höhepunktes beitragen, der einen Tonartwechsel nach A-Dur mit sich bringt.)
Zu guter Letzt (Takt 409) verlangsamt sich das Stück mit einer erneuten thematischen Wendung und macht einer improvisierten Kadenz (cadenza ad libitum) Platz, die für Liszt die Vorstellung eines »authentischen«, spontanen Roma-Elements erweckt haben muss, bevor die Prestissimo-Coda ab Takt 421 das Stück beschließt.
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