Als Gypsy Jazz, Jazz Manouche oder Sinti-Jazz wird ein Genre bezeichnet, das weitgehend auf den Aufnahmen des Gitarristen Django Reinhardt (1910–1953) basiert. Reinhardt gehörte als Manouche einer Roma-Subgruppe an, die eng mit den westeuropäischen Sinti verbunden ist. Von Kindheit an lernte er mehrere Instrumente und ließ bereits früh ein großes musikalisches Potenzial erkennen.
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Im Alter von 18 Jahren kam es jedoch zur Katastrophe: Bei einem Brand seines Wohnwagens erlitt Reinhardt schwere Verbrennungen, die bleibende Verletzungen an seiner linken Hand hinterließen und ihn zwangen, mit dem Spielen aufzuhören. Nach und nach gelang es ihm jedoch, seine Behinderung zu überwinden, indem er eine neue Technik des Gitarrenspiels entwickelte, die den Gypsy Jazz nachhaltig beeinflusste.
Als Leiter des Quintette du Hot Club de France erlangte Reinhardt Mitte der 1930er Jahre erstmals internationale Berühmtheit. Mit dem Quintette und anderen Ensembles sowie als Solist spielte Reinhardt im Lauf seines Lebens nahezu 1.000 Aufnahmen ein. Er wurde zu einer tragenden Säule der Pariser Jazzszene – selbst während der NS-Besatzung – und tourte durch Europa und die USA. 1953 starb er an einer Gehirnblutung, wodurch seine bereits erfolgreiche Karriere im Alter von nur 43 Jahren ein jähes Ende fand.
Reinhardt hat Gitarrist_innen auf der ganzen Welt maßgeblich beeinflusst, und sein Vermächtnis reicht weit über die Grenzen des Gypsy Jazz hinaus. Er war Wegbereiter neuer Improvisationstechniken für Sologitarre und gilt als einer der größten Jazzgitarrist_innen der Geschichte. Als Komponist schuf er eine Reihe von Stücken, die zu Standards des Gypsy Jazz wurden, darunter »Minor Swing« oder »Nuages« sowie ein weniger bekanntes, unvollendetes Werk für Orchester.
Das Genre des Gypsy Jazz kristallisierte sich in den 1950ern heraus, als Musiker, mit denen Reinhardt gearbeitet hatte, seine Musik weiterspielten. Die Bezeichnung »Gypsy Jazz« (mit ihren Entsprechungen in anderen Sprachen) wurde jedoch erst in den 1970ern gebräuchlich, nachdem die Sinti-Mitglieder des deutschen Kollektivs »Musik Deutscher Zigeuner« Reinhardts Musik wieder aufleben ließen. Eine Reihe von Sinti- und Manouche-Gruppen übernahmen Reinhardts Musik als ethnisch repräsentative Praxis, aber auch Nicht-Roma spielten einen ähnlichen Musikstil. Gypsy Jazz hat sich seither zu einer weltweit florierenden Nischenbranche entwickelt, deren Popularität jedoch nach wie vor in Westeuropa am größten ist.
Wesentliche Merkmale des Gypsy Jazz sind die Bezugnahme auf Reinhardts Musik, die auf Gitarre und Saiteninstrumente fokussierte Besetzung, ein Repertoire, das überwiegend aus Swingstücken der 1930er und 1940er Jahre besteht – darunter Reinhardts bekannteste Kompositionen –, Improvisationen in kleinen Gruppen, spezifische Gitarrentechniken und die Verwendung eines speziellen Gitarrentyps, der sogenannten »Selmer«- oder »Selmer-Maccaferri«-Gitarre. Einige Gypsy -Jazz-Repertoires beinhalten Lieder auf Romanes. Reinhardts Musik lässt sich allerdings nicht zwangsläufig als Gypsy Jazz kategorisieren, da dieses Genre erst nach seinem Tod aufkam. Er selbst hätte seine Musik wahrscheinlich als eine von seinen ethnischen Wurzeln unabhängige Form des Jazz gesehen.
Die meisten heutigen Gypsy-Jazz-Musiker_innen wissen um Reinhardts Abstammung, doch die Zuordnung zwischen Ethnie und Genre bleibt problematisch. Während Gypsy Jazz allgemein mit Roma-Communitys und speziell mit den Manouches und Sinti in Verbindung gebracht wird, ist er nicht zwangsläufig repräsentativ für die Spiel- und Hörgewohnheiten dieser Communitys. Die ethnische Zuordnung des Genres macht es auch zu einem Träger für Stereotype über Sinti und Roma, denen man ein naturgegebenes Musik- und Improvisationstalent zuschreibt. Dennoch bleibt Gypsy Jazz für viele Manouche- und Sinti-Gruppen ein wichtiges Symbol kultureller Identität, das sie mit Stolz und Freude erfüllt und ihnen ein Einkommen ermöglicht. Gypsy Jazz gilt auch als »Brücke« zwischen Roma- und Nicht-Roma-Gruppen, zumal letztere stark in dessen Produktion und Konsum involviert sind.
Siv B. Lie
Übersetzung: Claudia Fuchs