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Interview mit Marcel Loeffler, Manouche-Akkordeonist 8. November 2013

Von Siv B. Lie

Siv B. Lie | Photo of Marcel Loeffler | Fotografie | Frankreich | 26. März 2014 | mus_00200 Rights held by: Siv B. Lie | Licensed by: Siv B. Lie | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Siv B. Lie – Private Archive

»Das ist etwas sehr Positives für uns Manouches – zu wissen, dass diese Musik nun auf der ganzen Welt existiert. Nicht nur in Frankreich, nicht nur im Elsass, sondern überall auf der Welt.«

Marcel Loeffler

SL: Was bedeutet der Begriff »Jazz Manouche« für Sie?

Tatsächlich bedeutet [Jazz Manouche] an sich nicht viel. Aber für uns [Manouches] ist es umso besser, dass dieses Wort nun existiert.

ML: Das Wort Jazz Manouche gibt es interessanterweise noch gar nicht so lange. Zu Django Reinhardts Zeit existierte der Begriff nicht. Er kam erst viel später auf, in den 1990er Jahren. Davor war es auf jeden Fall eine Form von Jazz, denn Django Reinhardt spielte mit einer Reihe von Amerikanern zusammen. Er griff auf viele amerikanische Standards zurück. Dann entwickelte er diesen Stil, der mehr dem entsprach, was er eigentlich machen wollte. Wenn er einen amerikanischen Standard spielte, wusste er daraus etwas ganz Eigenes zu machen, als wäre es seine eigene Musik. Ich glaube, er [war] einer der wenigen Musiker des letzten Jahrhunderts, die es verstanden, sich in Bezug auf den amerikanischen Jazz abzugrenzen. [...]

Wenn es heute diese Musik [Jazz Manouche] gibt, dann nur dank ihm. Bevor man von Jazz Manouche sprach, wurde diese Art von Musik als »französischer Jazz« bezeichnet. Tatsächlich bedeutet [Jazz Manouche] an sich nicht viel. Aber für uns [Manouches] ist es umso besser, dass dieses Wort nun existiert. [...] Wenn wir diese Form von Jazz spielen, würde ich allerdings eher von »französischem Jazz« sprechen. Das ist die einzige Bedeutung, die man heute verwenden kann, um sich von amerikanischer Musik abzugrenzen. Es gibt heute so viele, die diese Musik machen. Hier herrscht wirklich eine Sättigung. Da sind so viele Leute, auch in den USA und in England.

SL: Ja, natürlich. Sie haben sicher gesehen – auch auf Ihren Touren –, dass sich sehr viele Menschen für diese Musik interessieren.

ML: Ja, es ist enorm. Dazu muss man wissen, dass Django auch in den USA war. Er spielte damals mit Duke Ellington in der Carnegie Hall. Die große Karriere wurde daraus aber nicht. Er kam nämlich zu spät in die Carnegie Hall, was Duke Ellington nicht so gut fand. [...] Django hatte seinen Freund Michel Cerdan [französischer Boxer] getroffen, und sie spielten Billard. Darüber vergaß er seinen Termin in der Carnegie Hall.

[...]

SL: Wie sind Sie zu dieser Art von Musik gekommen?

ML: Ich fing mit fünf Jahren an, Akkordeon zu spielen.

SL: Ziemlich früh!

ML: Ja. Mein Vater unterrichtete mich. Ich hatte nie einen richtigen Lehrer. Mein Vater brachte mir einfach Lieder bei, das war’s.

SL: War er auch Akkordeonist?

ML: Nein, er war Gitarrist. Aber er kannte sich auf dem Akkordeon ein wenig aus. Er zeigte mir einfach Lieder, französische Chansons, Musettes und so weiter. Später, mit ungefähr zehn Jahren, spielte ich mit meinem Vater bei Tanzveranstaltungen. Damals fing mein Vater auch an, mir Platten von Akkordeonisten wie Gus Viseur, Jo Privat oder Marcel Azzola zu kaufen. Ich setzte mich vor den Plattenspieler und versuchte, die Stücke nachzuspielen, einfach so, nach Gehör. Viele Tage und Nächte verbrachte ich so. Und irgendwann bemerkte ich, dass in mir noch mehr steckte. Ich nahm mir also immer schwierigere Lieder vor und spielte sie nach. Es fiel mir immer leichter. Mein Vater kaufte mir daraufhin immer mehr Platten – Aufnahmen von Gus Viseur, Marcel Azzola und Jo Privat, die damals sehr berühmt waren. Von da an widmete ich mich dieser Musik. Man kann sagen, dass ich mit zehn Jahren begann, diese Musik zu spielen.

»Ich bin dafür geschaffen, Konzerte zu spielen.«

Doch ich spielte auch weiterhin mit meinem Vater auf Tanzveranstaltungen. Dort konnte ich nicht wirklich das spielen, was ich wollte, denn das wäre für die Leute nicht tanzbar gewesen. Es wäre Musik zum Zuhören gewesen. Das ärgerte mich, und manchmal, wenn ich nach Hause kam, sagte ich mir: »Das ist nicht das, was ich machen will. Es ist zwar schön, wenn die Leute tanzen, aber für mich – ich bin dafür nicht geschaffen. Ich bin dafür geschaffen, Konzerte zu spielen.« Ich konnte allerdings nicht einfach aufhören, Tanzmusik zu machen. Ich war ja noch jung, und es lag nicht an mir, das zu entscheiden. Wenn mein Vater sagte: »Nächsten Samstag spielen wir auf dieser und am Freitag auf jener Veranstaltung«, dann hatte ich das zu akzeptieren.

Das ging so weiter, bis ich 18 war. Dann hörte ich auf mit der Tanzmusik und fing an, Jazzensembles zu gründen. Ich hatte eine Menge Musikerfreunde, die dasselbe hörten wie ich. Also begann ich, Gruppen zusammenzustellen, um auf großen Jazzfestivals zu spielen. So fing das alles an. Seither mache ich diese Musik.

SL: Und Sie feierten damit große Erfolge.

ML: Ja, in den 1980ern. Wir tourten durch Europa und spielten auf allen großen Jazzfestivals – mit meinem Freund Mandino Reinhardt an der Gitarre. Wir gründeten Gruppen und machten uns auf nach Italien, England, Norwegen, Russland, Polen. So wurde ich berühmt.

SL: Das war mit der Gruppe Sweet Chorus. Ich besitze eine Sweet-Chorus-Platte, die ich oft gehört habe, und ich finde, sie klingt nicht nach dem Jazz Manouche, den man sonst so kennt. Sie ist wirklich anders.

ML: Ja, es war die erste Gruppe, mit der ich damals auf Tour war und Jazz Manouche spielte – allerdings mit einem Vibrafon dabei.

SL: Das macht klanglich einen Riesenunterschied.

ML: Ja. Wir hatten ein Vibrafon und drei Gitarren – mit Mandinos Bruder und noch einem Rhythmusgitarristen, Patrick Andresz.

SL: Kommen wir zurück zum Begriff »Jazz Manouche«: Wie ist er entstanden und wo liegt der Unterschied zum französischen Jazz? Vielleicht darin, wessen Musik es ist?

ML: Wenn man heute von »Jazz Manouche« spricht, könnte man meinen, diese Musik gehöre nur uns [Manouches] – nicht den Franzosen, nicht jedermann, sondern nur den Manouches. Das stimmt so natürlich nicht, denn im Grunde kann jeder diese Musik spielen. Allerdings klingt es bei Nicht-Manouches etwas anders, man hört einen Unterschied. Das liegt an unserem kulturellen Hintergrund. Wir sind mit dieser Musik aufgewachsen, niemand ist so in diese Musik eingetaucht wie wir. Sicher gibt es auch andere, die sich intensiv damit beschäftigt haben. Aber ein Manouche spielt diese Musik immer noch anders als ein Gadžo [Nicht-Manouche].

SL: Können Sie diesen Unterschied beschreiben? Oder muss man ihn einfach hören?

ML: Natürlich ist es eine Frage des Hörens. Es gibt nicht wirklich eine theoretische Erklärung. Wenn ein Manouche diese Musik spielt, hört man die Seele der Musik, die natürlich auf Django zurückgeht, der ja auch Manouche war. Wir versuchen heute, die Musik möglichst so wiederzugeben, wie Django sie komponiert hat. Doch nicht jeder hat das so im Blut, heißt es bei uns, wie wir Manouches. Sicher gibt es auch andere Leute, die diese Musik sehr gut spielen – rein technisch gesehen. Aber wenn es ums Gefühl geht, sollte man sich diese Musik eher von Manouches anhören. Das ist meine Meinung. Andere sehen das vielleicht anders. Aber ich empfinde es so. [...]

SL: Was ist in Ihren Augen ein echter Manouche? Unter welchen Voraussetzungen kann man sich als solcher bezeichnen?

ML: Man muss zunächst einmal das Leben [einer Manouche-]Familie miterlebt haben, sprich, man muss Feste erlebt haben. Denn bei uns wurde früher immer viel gefeiert. Wenn es einen Geburtstag oder eine Hochzeit gab – oder auch, wenn es keinen besonderen Anlass gab –, wurde in meiner Familie jedes Wochenende mindestens zwei Tage gefeiert: Freitag und Samstag. Alle kamen zusammen, wir holten unsere Instrumente hervor, und dann wurde gemeinsam mit meinen Onkeln und Großeltern gespielt. Alle spielten Gitarre oder Geige – nur ich Akkordeon. Ich war der Einzige. Ansonsten gab es nur Gitarren und Geigen, manchmal noch einen Kontrabass. Gitarre und Geige waren eindeutig die beliebtesten Instrumente. Wir spielten also mindestens zweimal die Woche. Es wurde Alkohol gekauft – Bier und so weiter – und die Leute spielten und sangen. Wir spielten natürlich Djangos Musik, aber auch sehr viel »Zigeunermusik«, also traditionelle Musik aus Osteuropa. Unsere Älteren hörten eher diese Musik aus dem Osten als Django, der ihnen damals viel zu modern war. Erst etwas später hörte man Django, um 1970/1975. Aber bis dahin gab es hauptsächlich »Zigeunermusik« aus dem Osten: von großen Geigern wie Yoska Nemeth oder Georges Boulanger. Man spielte Csárdás, »Schwarze Augen«, Geigenmusik, die zu Tränen rührte. Sie sagten, Django gefiele ihnen, aber wir wussten, es war nicht ihre Lieblingsmusik. »Zigeunermusik« war für sie damals Musik, die aus Ungarn kam. Ich weiß noch, dass mein Großvater Geige spielte und alle meine Onkel Gitarre. Sie waren es, die mir damals all diese Musik aus dem Osten beibrachten. Es war die Musik, die sie hörten und somit auch weitergaben. [...]

Wer also von sich behaupten will, Manouche zu sein, muss diese Sprache sprechen. Er muss all das miterlebt haben: die Feste, die Musik, die Kultur. Außerdem waren wir damals arm, wir hatten nicht viel Geld. Aber auch das war damals Teil unserer Kultur. Meine Mutter und mein Vater mussten Gebrauchtwaren verkaufen. Mein Vater verkaufte Altmetall, das heißt, unsere Lebensverhältnisse waren ziemlich prekär. Später wurde es dann besser: Wir machten immer mehr Musik, und mein Vater arbeitete auch auf dem Bau.

»Es viele Leute, die behaupten, sie kämen aus einer Kultur mit Manouche-Wurzeln. Wenn ich das höre, muss ich lachen, denn es klingt wie eine Art Werbeslogan.«

Um Manouche zu sein, genügt es nicht, einfach zu sagen: »Ich bin Manouche«. Leider gibt es viele Leute, die behaupten, sie kämen aus einer Kultur mit Manouche-Wurzeln. Wenn ich das höre, muss ich lachen, denn es klingt wie eine Art Werbeslogan. Diese Leute wollen sich verkaufen. Sie gründen eine Band und versuchen, Djangos Musik zu spielen und sich auf diese Weise besser zu verkaufen. Wenn man heutzutage eine »normale« Jazzband (Klavier, Bass, Schlagzeug) gründet, hat man einen schweren Stand, weil es so viele davon gibt. Wenn man hingegen eine Band mit Gitarren, Geige und Akkordeon gründet und im Namen das Wort »Gypsy« auftaucht, verkauft sich das viel besser. Aber das heißt noch lange nicht, dass die Musiker in diesen Bands Manouches sind. Dennoch nutzen viele [das Etikett »Manouche«], um [sich] zu verkaufen. Das finde ich persönlich nicht gut. [...]

Es gibt heute auch viele sehr gute Manouche-Musiker, die kaum noch spielen, weil so viele andere nachgerückt sind, die zwar keine Manouches sind, sich aber unter dem Begriff »Gypsy« verkaufen. Diese Leute sind natürlich billiger als wir. Und darauf fallen viele herein.

[...]

SL: Haben Sie jemals in einem Wohnwagen gelebt?

ML: Nein. Aber meine ganze Familie, meine Großeltern – sie alle zogen noch umher [d. h. sie lebten in Wohnwagen]. Früher reiste meine ganze Familie in Roulottes [traditionelle Holzwohnwagen]. Damals wurden sie verfolgt und konnten nie sehr lange auf einem Terrain [Stellplatz für Wohnwagen] bleiben. Sie reisten durch das Elsass, aber nie darüber hinaus. Während des Krieges wurden sie dann in Internierungslager gesperrt, und als sie ins Elsass zurückkehrten, wurden sie sesshaft. Sie lebten also nur vor dem Krieg nomadisch. Danach suchte man sich Arbeit, kaufte sich ein Haus und wurde sesshaft.

[...]

SL: Wie kommen Manouches und Gadže im Elsass miteinander zurecht?

ML: Rassismus ist nach wie vor ein Thema. Es gibt rassistische Leute und gute Leute. Es gibt wirklich diese beiden Gruppen. Ich persönlich hatte nicht so viele Probleme [wie einige andere Manouches], aber auch ich litt unter rassistischen Vorurteilen, als ich jünger war. Aufgrund meiner Bekanntheit sehen mich die Leute heute als einen Star. [...] Wenn Menschen, die sich einem Volk gegenüber rassistisch verhalten, eine berühmte Person aus diesem Volk sehen, sind sie dieser Person gegenüber plötzlich nicht mehr rassistisch eingestellt. Einfach, weil diese Person bekannt ist und in den Medien zitiert wird. Sobald sie jedoch nicht mehr berühmt ist, bekommt sie den Rassismus wieder zu spüren. Ein Musiker sagte einmal: »Wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich ein berühmter Musiker, aber sobald ich die Bühne verlasse, bin ich wieder ein Zigeuner

SL: Ja. Ich glaube, das war Angelo Debarre [Manouche-Gitarrist]. Denken Sie, dass die Popularität des Jazz Manouche in der letzten Zeit in Sachen Rassismus etwas verändert hat?

»Wenn ich auf der Bühne stehe, bin ich ein berühmter Musiker, aber sobald ich die Bühne verlasse, bin ich wieder ein ›Zigeuner‹.«

ML: Ich denke schon, ja. [...] Konzerte, auf denen Jazz Manouche gespielt wird, sind immer sehr gut besucht. Die Leute lieben diese Musik. Es ist die zugänglichste Jazzform, sie spricht ein breites Publikum an. Auf einem »intellektuellen« Jazzkonzert langweilen sich die Leute viel schneller. [...] Es gibt einige sehr berühmte Musiker wie meinen Cousin Biréli Lagrène [Manouche-Gitarrist], Angelo Debarre oder auch mich – und jeder von uns hat etwas in diese Kultur mitgebracht. Das hat die Sicht der Menschen auf uns verändert. Und zwar zum Positiven. Doch mittlerweile ist der große Hype [um den Jazz Manouche] vorüber, und wir wissen nicht, ob er wiederkehren wird. Ich persönlich glaube es nicht. Auch wenn diese Art von Musik immer irgendwie funktionieren wird. Aber der Grund, warum wir vor zehn Jahren alle ständig auf Tour waren und diese Musik so erfolgreich war, war der 50. Todestag von Django. Und dann kam sein 100. Geburtstag. Von diesem Trend haben alle profitiert, alle haben Aufnahmen gemacht und sich gut verkauft – das läuft heute nicht mehr so. Ich glaube, der Trend ist vorüber.

Aber die Musik ist immer noch genauso gut, auch wenn der Hype zu Ende ist. Diese Musik ist so schön, dass sie über jeden Trend erhaben ist. Und im kommerziellen Bereich können alle gut davon leben. [...] Auf der ganzen Welt wurden zahlreiche Gruppen gegründet, die weder professionell noch Manouches sind. Ich war 2007 in Japan und habe dort japanische Gruppen diese Musik spielen gesehen, das war imponierend. In den USA ist es dasselbe. Wir waren wirklich beeindruckt. Das ist etwas sehr Positives für uns Manouches – zu wissen, dass diese Musik nun auf der ganzen Welt existiert. Nicht nur in Frankreich, nicht nur im Elsass, sondern überall auf der Welt. Das ist für uns eine sehr schöne Sache.

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