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Petra Gelbart

Die Roma-Hymne als Mikrokosmos der Vielfalt

Offizielle Symbole

Das Lied mit dem Titel »Gelem, gelem« (auch »Dželem, dželem« oder ähnlich) wurde 1971 auf dem ersten Internationalen Roma-Weltkongress als National- oder Internationalhymne der Sinti und Roma institutionalisiert. Bis 1971 war das Lied einer großen Zahl von Rom_nja, vornehmlich auf dem Balkan, bereits als Volkslied bekannt.

»Ganz ehrlich glaube ich nicht, dass wir eines Tages unser eigenes Land haben werden, aber wir müssen trotzdem nach vorne schauen, um zumindest etwas Selbstachtung und Unabhängigkeit als Minderheit zu erreichen.«

Fred Hofman, Sinto-Aktivist

Nach dem Kongress begann man schließlich, das Lied als internationale, zuweilen im politischen Sinn »offizielle« Hymne zu verbreiten. Die dritte und vierte Strophe wurde auf dem Kongress der International Roma Union mehr oder weniger neu konzipiert – zusammen mit der Flagge, die die Hymne üblicherweise in politischen Zusammenhängen begleitet.

Die Annahme dieser beiden Symbole, wie auch die organisierten Veranstaltungen und Strukturen, die dies erst ermöglicht haben, setzten einen sichtbaren, hörbaren, in Worten proklamierten und fortdauernden Prozess in Gang, der kollektiv als »Roma-Nationalismus« bekannt ist.

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Opre Roma – Steht auf, Roma

Der genaue Text der Roma-Hymne unterscheidet sich je nach Subgruppen und einzelnen Personen, was auch für die Meinungen zur Bedeutsamkeit des Liedes gilt. Federico »Fred« Hoffman, der von Deutschland nach Costa Rica ausgewandert war, schrieb:

»Indem wir unsere Symbole schaffen (Hymne und Flagge), reagieren wir – um zu zeigen, dass wir nicht länger gewillt sind, die Rolle der Unterdrückten und Ausgestoßenen zu akzeptieren. Es handelt sich nur um eine Reaktion auf das Handeln der Nicht-Roma, die uns früher wie heute als eine Art besonderer menschlicher Spezies behandeln. Ganz ehrlich glaube ich nicht, dass wir eines Tages unser eigenes Land haben werden, aber wir müssen trotzdem nach vorne schauen, um zumindest etwas Selbstachtung und Unabhängigkeit als Minderheit zu erreichen. Ich bin mir sicher, dass uns eine weltweite Vereinigung helfen wird.«

Margaret Moon, eine amerikanische Romni, merkte an: »Es ist die Nationalhymne eines Volkes, dessen ethnische Nation keine Grenzen hat. Ich meine, die Sinti und Roma haben sich schon lange an den zweifachen Begriff einer Art Patriotismus gewöhnt.«

Es gibt immer noch Sinti und Roma auf der Welt, die »Gelem, gelem« nie gehört haben oder nicht als ihre Hymne erachten. Roma in Ungarn haben beispielsweise ihre eigene Hymne. Sinti, deren Identität in vielen Fällen stark von der der Roma unabhängig ist, haben vielleicht das Gefühl, dass die internationale Hymne ihnen nicht gilt. So schrieb ein Diskussionsteilnehmer: »Wir haben an einer Roma-Hymne kein Interesse, denn wir gehören nicht zum selben Volk.«

Der kürzlich verstorbene russisch-israelische Roma-Aktivist Valery Novoselsky fasste die Bedeutung von »Gelem, gelem« wie folgt zusammen: »Die Nationalhymne der Sinti und Roma ist nicht nur für unsere Politiker_innen und unsere Repräsentation wichtig, sondern auch für gewöhnliche Leute. Wenn Nicht-Roma sie hören, können sie mehr davon verstehen, wer wir sind.«

Musikalische Vielfalt spiegelt Roma-Vielfalt wieder

Der Grund für die weite Verbreitung der Hymne liegt zum Teil in der Anpassungsfähigkeit des Liedes an die Bandbreite der Musikstile, die bei Interpret_innen und dem Publikum der Roma beliebt sind. Das mannigfache Dasein der Hymne in einer Vielzahl von Tempi und Textfassungen wie auch mit verschiedenartigen Verzierungen scheint den ästhetischen Bedürfnissen unterschiedlicher Gruppen sehr entgegenzukommen.

In der Tat weist die Balkan-Stil-Darbietung von »Gelem, gelem« des »Königs der Roma-Musik«, Šaban Bajramović, eine Führung der Singstimme auf, die die motivische Variation auf die Spitze treibt. Die Hymne ist zwar strenger festgeschrieben als die meisten Roma-Lieder, doch der relative Mangel an Standardisierung dient als Identitätskennzeichen der Sinti und Roma – denn der weite Spielraum für Improvisation wird nicht nur in Darbietungen von »Gelem, gelem« gewährt, sondern auch in der kulturellen Produktion der Sinti und Roma im Allgemeinen.

Als Hymne kommt bei »Gelem, gelem« die kulturelle Einzigartigkeit der Sinti und Roma auf musikalischer wie auch auf sprachlicher und thematischer Ebene zum Ausdruck. Zuhörer_innen bekommen das, was sie von Roma-Musik erwarten – und eben nicht das, was sie sich unter einer Nationalhymne der Art vorstellen, wie man sie bei den Olympischen Spielen hört.

Birgit Glaner umreißt die ästhetischen Prozesse, in denen die meisten nichteuropäischen Nationen bei der Komposition ihrer Nationalhymnen ihre »einheimischen Musiktraditionen« zugunsten der »Fortschrittlichkeit« aufgegeben haben, die die von den Kolonialmächten verbreiteten Stile suggerierten. Doch die Roma-Hymne entspricht diesen Kriterien nicht. Es gibt praktisch keine kunstmusikalischen Chor- oder Orchesterarrangements von »Gelem, gelem«.

Vielmehr wären sich viele Sinti und Roma darüber einig, dass eine angemessene gesangliche Darbietung des Liedes nicht von irgendeiner festen Norm abhängt, sondern von der großzügigen Ausstaffierung mit Klangfarben, Gesten, Gesichtsausdrücken, Vibrato und anderen Elementen, die in der Darbietung als hoch emotional gelesen werden. Durch die besonderen textlichen, musikalischen und affektiven Ausprägungen, die die Hymne tatsächlich definieren, anstatt bloß zweitrangig zu sein, setzt »Gelem, gelem« einen ganz entschiedenen Akzent der Sinti und Roma in der Klangwelt der Hymnen in Europa und darüber hinaus.

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