Herausforderungen von Archiven

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André Raatzsch

Ein digitales Archiv der Sinti und Roma im Diskursraum von Archiven

Der vorliegende Text verhandelt den Kontext des Digitalen Archivs für Kunst und Kultur der Sinti und Roma1 sowie die komplexen Mechanismen des Archivs (und der Archivpraxis) ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Dabei berühren wir folgende, einander überschneidende Aspekte:

  1. ein werdendes Archiv im Diskursraum von Archiven
  2. ein Archiv der Sinti und Roma im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
  3. kuratorische Überlegungen zu Archivpraxis und Sammlungspolitik
  4. ein digitales Archiv der Sinti und Roma im Diskursraum von Archiven

Der Text nähert sich diesen Aspekten stets aus dem Blickwinkel unseres Teilbereichs der Bilderpolitik, wobei die kuratorische Stimme inhaltlich zur Geltung kommt. Wir hoffen, hiermit einen Diskurs zum Archiv und zur Archivpraxis anzuregen.

Ein werdendes Archiv im Diskursraum von Archiven

In der Planung eines Archivs ist die Durchführung mehrerer Untersuchungen unerlässlich, um ein möglichst genaues Wissen um die Bedingungen und das Umfeld zu erlangen, in denen sich das werdende Archiv positionieren kann. Es ist davon auszugehen, dass ein fotografisches Archiv – genauso wie eine Fotografie, wie Allan Sekula in seinem Essay ›On the Invention of Photographic Meaning‹ (1981) feststellt – sofort nach seinem Erscheinen Teil eines Diskurses wird. Darüber hinaus ist es »sehr wichtig, zu erkennen, dass die Vorstellung eines Diskurses gleichzeitig auch die Vorstellung einer Begrenzung ist« (Sekula 1981). Im Sinne von Sekulas Diskurstheorie stellt sich die Frage: Welche Risiken und Herausforderungen sind in diesem Genre zu bewältigen?

Schon der Begriff ›Archiv‹ ist mehrstimmig und daher in jedem einzelnen ›Archivfall‹ ganz genau zu definieren. Denn die moderne Archivlandschaft beschränkt sich nicht (oder nicht mehr) auf Archive mit einer statischen Sammlung, die sich in ihrem Streben nach Überleben und Vollständigkeit der Vergangenheit widmen. 2010 verabschiedete die Generalversammlung des International Council on Archives (ICA) in Oslo die ›Weltweite allgemeine Erklärung über Archive‹, die sich unter anderem zu »der Vielfalt der Archive und der Vielfalt der Archivaliengattungen in den Archiven« bekennt. Einer generellen Annäherung im Vorwort des Sammelbandes ›interarchive‹ (2002) zufolge kam dem Archiv besonders zum Ende des letzten Jahrhunderts eine besondere kulturpolitische Bedeutung zu – als Einrichtung sowie als Metapher. Betont wird hier, dass »zentrale gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Fragestellungen [...] in ihm aufeinander[treffen]« (Kunstraum der Universität Lüneburg 2002).

Ines Schaber zufolge hat das Archiv zudem in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, da die Reorganisation von Dokumenten und Archivmaterialen in digitale Datenbanken das Lesen und Evaluieren der Vergangenheit sowie den Zugang zu ihr beeinflusst hat. Heutzutage das Archiv – als Genre – vor anderen Distributions- und Publikationsformen zu begünstigen, entspringt einer ganzen Reihe diskursiver Möglichkeiten, die das Archiv bieten kann (Schaber 2011).

Sprechen wir von Strömungen im Archivdiskurs, so sollten wir keinesfalls jene Formen vergessen, die die »in und durch Archive installierte Herrschaftsmechanismen« auflösen wollten, um »Mehrstimmigkeit und Dynamik als Kennzeichen der Prozesse der Bedeutungskonstitution« in die Vorstellung des Archivs (wieder-)einzuführen.

Ein Archiv der Sinti und Roma im Spannungsfeld von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Die Archivlandschaft von heute ist also von einer bunten Palette aus Archivtypen geprägt: von der klassischen Sammlung über experimentelle Formen bis hin zu den aktiven Archiven. In einer derart vielfältigen Umgebung soll sich also demnächst ein werdendes Archiv positionieren, »ein digitales Archiv für Kunst von Sinti und Roma« – und das ohne Vorinstitute, als erstes Projekt dieser Art in seinem Bereich. Welchen Diskursraum eröffnen also der soziale Kontext und – in unserem Archivbereich – die Fotografie (und das damit einhergehende Lesen von Bildern), die im Fokus der Archivsparte stehen?

Bildarchive sind ohne den Einbezug des Diskurses zum dokumentarischen Bild nicht mehr vorstellbar, schreibt unter anderem Schaber, denn sie stecken den Rahmen, sie konditionieren das Lesen von Fotografie. So wird das Archiv zu einem Ort, der selbst auf das fotografische Bild einwirkt, es zum Sprechen bringt, es lesbar und lokalisierbar macht (Schaber 2011). Archive sind folglich nicht neutral, sondern hängen von den Machtmechanismen ab, die ihrem Aufbau und Inhalt zugrunde liegen. Um uns mit dem Diskurs um fotografische Bildarchive auseinanderzusetzen, stellen wir uns daher die Frage: Wie wirkt ein Archiv auf dessen Dokumente? Eine Kritik von Sekula an (Bild-)Archiven ist unter anderem deren Homogenisierungseffekt auf die Bilder – sie wirken nicht mehr für sich. Darüber hinaus bedeutet die Entscheidung für eine bestimmte Archivstruktur zugleich die Verwerfung einer anderen, argumentiert Schaber. Für welche Struktur haben wir uns entschieden?

Soll es ein klassisches Archiv sein, was im inhaltlichen Kontext einer nationalsozialistisch dokumentierten und verfolgten Bevölkerungsgruppe überaus problematisch ist? Oder ist es aufgeschlossen gegenüber experimentellen Archivstrukturen, die jene Momente des Ungeordneten, Nicht-Abgeschlossenen und in der Repräsentation bislang Ausgelassenen einbeziehen? Und wenn ja, inwiefern?

Auch die erhaltende Instanz des Archivs spielt eine entscheidende Rolle (nicht nur) für den Archivaufbau, denn »die Einheit eines Archivs hängt ab vom Besitzer und Betreiber. Archive sind nicht neutral«, schrieben wir 2013 in ›Getting Into Discourse‹:

»Die Art und Weise, wie sie ein bestimmtes Bewusstsein befördern, wird von der Macht kontrolliert, die die Praxis des Archivs, die Akkumulation, die Kollektion, das Horten von Fotos und nicht zuletzt das Verfassen von Legenden bestimmt.« (Raatzsch/Benkö 2013)

Inwiefern kann oder wird ein Archivgut die Archivstruktur noch beeinflussen und wie stark wird das Archivgut von der Archivstruktur geprägt?

Kuratorische Überlegungen zu Archivpraxis und Sammlungspolitik

Als Kurator muss ich hier zudem auf eine Reihe von Fragen zur (Un)Möglichkeit in der inhaltlichen Gliederung und im Auswahlverfahren des Sammlungsmaterials hinweisen: Wie detailliert muss der Klassifizierungs- und Gliederungsprozess der fotografischen Bilddokumente sein? Welche wissenschaftlichen und politischen Aspekte sollten darüber hinaus kritisch mitgedacht werden? Nach welchen Regeln und Verfahren soll ein verantwortungsbewusster Umgang mit der digitalen Archivierung und dem Klassifizierungsprozess stattfinden, wenn es kaum beispielhafte Initiativen für eine repräsentationskritische Sammlungspolitik gibt? Wie kann die Entstehung und Stärkung rassistischer Denk- und Handlungsmuster im Archiv(bereich) verhindert und eine emanzipatorische Dokumentation der Sinti und Roma ermöglicht werden?

Die größte Herausforderung liegt im Anerkennen und Verstehen, dass der Bereich der Bilderpolitik mit der Paradoxie konfrontiert ist, Bilder zu sammeln und zu präsentieren und diese zugleich emanzipativ auszuwählen und zu kontextualisieren, um ihrer hegemonialen Lesart in bestehenden Archivformen entgegenzuwirken. Diese Aufgabe erfordert ein kritisches Bewusstsein, um die wahren Aspekte und Ziele des Archivbereichs definieren zu können. In der Umbenennung des Bereichs von ›Fotografie‹ in ›Bilderpolitik‹ (bzw. ›Politics of Photography‹) wurde dieser Ansatz nominell bestätigt.

Aber was meine ich hier mit Paradoxie? Projektvorstellungen und Selbstdarstellungen ohne eine klare Kontextualisierung sowie die Feststellung, dass es sich hier um ein komplexes, vielfach nicht gegebenes oder akzeptiertes Ordnungs- und Verständigungssystem handelt, dessen Bestandteile miteinander oft in Paradoxie geraten und dennoch zu einander ergänzenden Strukturen werden sollen, führen zwangsweise zum Widerspruch. Die Analyse von Paradoxien kann jedoch zu einem tieferen Verständnis der Dokumente, Fotografien und Archivalien einer Minderheit führen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst. Neue inter- und transkulturelle Verständnisse und Erkenntnisse werden hervorgebracht, wo es sich um »gesamtgesellschaftliche Entwicklungen und Fragestellungen« handelt, wo Mitbürger_innen der Mehrheitsgesellschaft zu einem Teil der Erzählungen und Narrative der Minderheit werden. So kann mindestens die erneute (Selbst-/)Ghettoisierung oder das kulturelle und gesellschaftliche Exil vermieden werden.

Die Aufgabe des Archivbereichs Bilderpolitik ist vor allem die Anregung eines sammlungs- und gestaltungspolitischen Diskurses. Ziel ist die Bildung eines kritischen Bewusstseins und somit das Anstoßen einer noch immer ausstehenden, wesentlichen Veränderung der rassistischen gesellschaftlichen Haltung gegenüber und Darstellung von Sinti und Roma sowie des vielfach wiederholten ersten Schrittes der demokratischen Akzeptanz und rechtlichen Gleichstellung von staatlicher Seite. So muss ich als Kurator feststellen, dass ich meinen kritischen Blick nicht auf die Kunst und Kultur von Sinti und Roma wenden muss, sondern vielmehr auf das ›Warum?‹, auf den Kontext und die Instanz, die noch immer von mir eine ›Darstellung der Minderheit‹ verlangt.

Ein digitales Archiv der Sinti und Roma im Diskursraum von Archiven

»Archive, digitale zumal, überdauern nur, wenn sie ständig benutzt werden, wenn eine erhaltende Instanz sie stets neu kodifiziert, interpretiert und bewertet, sich ihre Dokumente handelnd aneignet, sie heraus gibt oder zu unterdrücken trachtet. Nur so überstehen digitale Archive die Jahrzehnte. Sie leben so lange, wie eine Macht sie trägt und ihren informationellen Stoffwechsel aufrecht erhält.« (Warnke 2002)

Was bedeutet die Anwendung einer institutionellen Datenbanksoftware, die für etablierte Museen, Archive und Bibliotheken entwickelt wurde, für ein Archiv, in dem die Kunst einer Minderheit – und damit die Minderheit – repräsentiert werden soll? Etabliert es sich hierdurch als ein international anerkanntes Archiv? Durch welche Mächte wird der informationelle Stoffwechsel des Archivs beeinflusst? Auswahl, Layout und Erscheinung der Software hinterlassen auf den ersten Blick den Eindruck, dass es sich hier um die Vernetzung in die Infrastrukturen international anerkannter Institutionen geht, was natürlich positiv wäre. Die Gefahr besteht jedoch darin, dass diese Software-Auswahl eine unvermeidliche Statik in der Archivstruktur zur Folge hat. Denn das System beruht auf klassischen Standards, die etablierte Einrichtungen leisten müssen – nämlich das Streben nach einer größtmöglichen Vollständigkeit und Anordnung, die den »einzigartige[n] Charakter von Archivgut als zuverlässiger Dokumentation administrativen, kulturellen und intellektuellen Handelns und Spiegel gesellschaftlicher Entwicklungen« (ICA 2010) allgemein und für immer aufbewahren soll.

Hier kommen wir nicht an der Gefahr des Genres vorbei und wir erinnern uns an Derrida, der das mal d'archive – das Archivübel – erwähnte:

»Was haben wir, könnte die Frage sein, wenn der virtuelle Deckel des Archivs über dem Bewahrten zuklappt: digitales ewiges Leben oder letzte Daten-Ruhestätte?« (Warnke 2002)

In der Konzeption eines Archivs geht es schließlich um das Erinnern und das Vergessen. Der Informationsgehalt eines typischen, menschlichen Langzeitgedächtnis wird in digitalem Wert auf einen Umfang zwischen 150 und 225 Megabyte geschätzt (Warnke 2002). Im Lichte dieser Realitäten stellt sich für mich bei der Sammlungs- und Bilderpolitik des Archivguts die Frage: Woran wollen wir uns erinnern? Woran können wir uns erinnern – im Spannungsfeld von universalisierenden Denkmodellen und Individualgeschichte? Wir wollen uns an das erinnern, was geschehen kann, an die Potenzialität unserer Handlungen und – in Anlehnung an Azoulay – an unsere Verantwortung den Fotografierten gegenüber. Denn durch sie wird in der Archivpraxis die Entwicklung, die Vernetzung sowie die Tiefe und Unendlichkeit der Selektionsmöglichkeiten, der »Mehrstimmigkeit und Dynamik« interessanter als das, was geschieht oder was geschehen ist (Azoulay 2008). Denn:

»Das Archiv ist kein Ort der Lagerung, sondern ein Ort der Produktion, ein Ort, wo sich unsere Beziehung zur Vergangenheit materialisiert und wo sich unsere Gegenwart in die Zukunft einschreibt.« (Schaber 2011)

Era Trammer | Die Herausforderungen des Archivs | Non Fiction | Österreich, Deutschland | 2018 | pho_00268 Rights held by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive The images cited in the film were kindly provided by: Diözesenarchiv St. Pölten | Fundación Sierra Pambley | János Sági / Museum of Ethnography – Budapest | Willi Sylvester Horvath | Era Trammer