Es gibt keine besondere Erzählung zu Burt Glinns Fotografien von der Willkommensparade, die 1951 zu Ehren von General Douglas MacArthur in New York abgehalten wurde. Es ist leicht im Internet herauszufinden, dass die Veranstaltung eine der großen Konfettiparaden jener Zeit war, um einen zurückkehrenden Nationalhelden zu ehren. Die Bildauswahl auf der Webseite einer bedeutenden Foto-Agentur präsentiert die Parade im Einklang mit der damals gängigen dokumentarischen Darstellung von patriotischer Zurschaustellung. Es gibt jedoch ein Bild, dass die Grenzen dieser Bildserie sprengt. Wer sind diese Menschen? Warum waren sie da und was wollten sie erreichen? Die Fragen kommen vielleicht nicht in dieser Reihenfolge auf, aber eine Sache ist so offensichtlich, dass sie sofort ins Auge sticht: Wo sind die Männer?
Am Bildrand: The Loyal Americans
Um die Wahrheit des Bildes zu entschlüsseln, wollte ich Antworten finden – angefangen mit der ersten Frage: Wer waren diese Menschen? Als ich meine Recherche begann, hoffte ich, etwas zu finden, das mich den abgebildeten Personen näher bringen würde. Doch es gelang mir nicht, in Artikeln und anderen Onlinequellen viele Details zu finden, und es war mir nicht möglich, vor Ort zu recherchieren. Das inspirierte mich zu einer kontextuelleren Denkweise. Ich versuchte, mehr über mögliche Situationen herauszufinden und begann, meine Fragen aktiver auf die Umstände zu richten als auf die Personen: Was ist dort eigentlich zu sehen, was war da los?
Also suchte ich (nicht in dieser speziellen Reihenfolge) nach Informationen zu jener Zeit, zum Ort, zu Konfettiparaden und ihren Schauplätzen, zu Politikern, Militärs, Ortskommittees, Persönlichkeiten, Gruppen, Fotograf_innen. Ich recherchierte zu fotografischen Archiven und zu Einwanderung. Ich las Artikel zu Veranstaltungen und Bevölkerung, zu Kriegen und zum Einzug ins Militär, zur allgemeinen Wehrpflicht, zu Kleidung, Frisuren, Familienkonzepten, Kolonien, Minderheiten, Unsichtbarkeit, Oral History, industrieller Entwicklung, zur Emanzipation von Frauen und zur Bürgerrechtsbewegung.
Ich bin überzeugt, dass es immer mehrere Bildebenen gibt und dass ein Bild das Recht auf sie alle hat – oder zumindest auf so viele wie möglich. Jenseits der Bildunterschrift eines Fotos, die die Oberfläche und somit den Kontext beschreibt, gibt es hinter den Äußerlichkeiten, die auf den ersten Blick auffallen, immer weitere Ebenen zu erkunden. Wenn wir sie alle zusammenfassen, untersuchen wir unseren Blick, indem wir fragen: Was sehen wir?
Auf den ersten Blick sehe ich drei Frauen, die mit Schildern und Botschaften demonstrieren. Eine läuft in der Mitte, ein bisschen hinter den zwei Figuren vor ihr, mit einer Perlenhalskette und einem beliebten Haarschnitt der 50er Jahre – sie zieht sofort meine Aufmerksamkeit auf sich: Sie erscheint mir so mondän. Auf den zweiten Blick sehe ich drei weitere Frauen. Zwei halten Fahnen in den Händen, aber die eine, vorn mit dem Kopftuch und – sehe ich es richtig? – in einem Männermantel, ist nicht vollständig auf dem Bild zu sehen. Schließlich bemerke ich noch die linke Hand einer siebten, möglicherweise älteren, rundlichen Frau, der ich aber ein paar Tage später mehr Aufmerksamkeit schenken werde. Ich habe mittlerweile das Bild so oft betrachtet, dass ich beinahe sicher bin: Wenn ich bloß diese letzte Frau sehen könnte, dann wäre ich dem Wissen bedeutend näher, wer diese Frauen sind und warum sie dort sind.
Ich sehe auf dem Bild also sieben Frauen, die mit Schildern, Fahnen, einem Mantel und einer Botschaft demonstrieren, deren logische Formel wie folgt beschrieben werden kann:
WENN »We are Americans« [dt. Wir sind Amerikaner_innen!]
UND »The Gypsies are loyal Americans« [dt. Die Rom_nja sind loyale Amerikaner_innen!]
DANN sind wir, (amerikanische) Rom_nja, loyale Amerikaner_innen!
Die beiden ersten Sätze fühlen sich für mich nach einer starken Selbstbehauptung an, in der die Vergangenheit und die Gegenwart gleichzeitig aufscheinen. Wie sind sie zu interpretieren und warum ist ein einziger Satz – möglicherweise der dritte – dafür nicht ausreichend?
»We are Americans« bestärkt, dass wir am richtigen Ort sind und das Recht haben, dort zu sein. Ich komme nicht umhin, hier an Kilombas Raumpolitik zu denken, derzufolge »We are Americans« bedeutet, nicht außerhalb sondern innerhalb der Nation platziert zu werden. Es könnte auch eine Antwort auf den hinterfragenden Blick sein, mit dem Menschen oft konfrontiert werden, wenn sie für ›Ausländer‹ gehalten werden.
»The Gypsies are loyal Americans« erzählt von der Möglichkeit all der Jahrzehnte der Unsichtbarkeit, in denen die Dominanzgesellschaft Rom_nja nicht als loyale Bürger_innen – oder überhaupt als Bürger_innen – anerkannt oder sie überhaupt wahrgenommen hat.
Die einzelnen Worte der Sätze müssen in verschiedenen Farben geschrieben worden sein, wahrscheinlich rot und blau. Wenn wir die Worte, die in derselben Farbe geschrieben wurden, zusammen lesen, dann ergibt das folgende Botschaft: »The loyal Americans« und »We are Gypsies are Americans«. Hier tauchen zwei Identitäten parallel auf – in einer Beziehung, in der das Recht auf bürgerschaftliche Zugehörigkeit [citizenship] betont wird und sich ausdrücken muss.
Und doch wirkt die Präsenz der Frauenfiguren im Bild anders. Ihr Recht, dort zu sein, wurde in gewissem Sinne von den Männern gewährt – sowohl von weißen als auch von nicht-weißen, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Die gestattenden Autoritäten waren sicherlich die Organisatoren und Honoratioren der Stadt, die auf einem der anderen Bilder der Serie an der Spitze der Parade zu sehen sind, die Polizei, die im Hintergrund hinter den Frauen steht und den Zaun absichert, sowie symbolisch der Männermantel selbst, der von einer der Frauen getragen wird.
Aus der Perspektive von US-Amerikaner_innen der Mehrheitsgesellschaft waren die beliebten Konfettiparaden eine tolle Show, eine Gelegenheit, patriotische Hingabe zu demonstrieren. Es gab also eine riesige Veranstaltung anlässlich der Rückkehr eines Militärhelden zu organisieren, zu der verschiedene Gruppen auftraten. Nach dieser Bildserie gab es, neben Stabdrehen (Twirling), Marschkapellen und Majoretten (insbesondere Kinder), auch Native Americans in nachahmend traditioneller Kleidung und diese Frauengruppe als Teil der Show. Die Grundausrichtung der Veranstaltung legte offensichtlich den Akzent auf ein repräsentatives und doch politisch harmloses Ergebnis. In diesem Rahmen sehen wir dann eine Botschaft, die höchstwahrscheinlich nicht als Teil der Show eingeplant war – zumindest nicht von den Organisatoren: eine Botschaft, die an das Publikum, den zurückkehrenden General und nicht zuletzt an sie und uns alle gerichtet ist, die sie sehen.
Da das Gesicht der Frau in jenem Mantel nicht vollständig zu sehen ist, sieht man sie nur als Figur – und neigt dazu, die ganze Figur, einschließlich ihrer Kleidung, zu übersehen. Auf den ersten Blick war ich nicht sicher – und bin das tatsächlich noch immer nicht – um was für einen Mantel es sich handelt. Doch aufgrund seiner Form und der wahrscheinlichen Platzierung des Knopflochs, erinnerte er mich immer an eine Männerjacke: Im Kontext der Fahnen und der Parade für einen zurückkehrenden General hielt ich ihn sogar für eine Uniform.
Wenn ich ihn als Männermantel sehe, könnte er einer der wichtigsten Bestandteile des Bildes sein, da in ihm die lebende Anwesenheit von Männern liegt: eines Mannes, eines Sohnes, eines Vaters oder eines Bruders, der – an dieser Stelle in Unkenntnis von Details, es könnte weitere Alternativen geben – entweder in der Armee diente oder der dachte, dass das Befolgen der Regeln und Gesetze des Landes einem erlauben würde, als Bürger erachtet zu werden.
Das bleibt jedoch offen – und eine neue Frage kommt auf: Wo sind die Männer und warum trägt diese eine Frau hier einen Männermantel? Da es offenbar nicht kalt ist – die anderen Frauen tragen keine wärmende Kleidung – wage ich die Annahme, dass der Mantel eine symbolische Bedeutung trägt. Vielleicht ermöglicht er seinem Besitzer (der aus irgendeinem Grund daran gehindert wurde, an der Parade teilzunehmen), doch sichtbar zu sein; oder vielleicht repräsentiert er in diesem historischen Moment jemandes Mühen und Theorien. Da die Frau diesen Mantel vermutlich bewusst in der Öffentlichkeit trägt, muss sie sich seiner Anwesenheit sehr bewusst gewesen sein (sie hält ihn mit den Händen fest). Die anderen Frauen schenken dem Mantel keine besondere Aufmerksamkeit, über seine symbolische Aussage scheinen sich alle bewusst zu sein. Der Fotograf hingegen fokussierte vor allem auf die Aufschriften der Schilder und nahm diese Botschaft nur im Hintergrund auf.
Ich denke, die Frauen oder zumindest eine von ihnen muss zu jener Zeit eine öffentliche Figur in der Community gewesen sein, oder zumindest mit einer öffentlichen Figur verbunden gewesen sein. Verschiedene Quellen (sowohl Bilder als auch Texte) erwähnen Steve Kaslov – oder Lolya –, einen örtlichen Repräsentanten der Minderheit im New York der 1930er Jahre. Kaslovs Programm zielte auf Amerikanisierung und Wohlfahrt, er war Präsident der Roma Association (einem Verein in New Jersey) und nahm durch Kontakte zu Rom_nja und Nicht-Rom_nja Einfluss auf die Gemeinden. Auch seine Frau Pupa wird als Treuhänderin der genannten Organisation besprochen und in mehreren Fotografien abgebildet. Da Steve Kaslov eine öffentliche Figur war und einen gewissen öffentlichen Einfluss hatte, glaube ich, dass das Bild mit den Amerikanisierungsbemühungen zu tun hat, für die er stand.
Ich sage nicht, dass der Mantel zu ihm gehörte: Kaslov starb zwei Jahre, bevor das Bild aufgenommen wurde, und ich bezweifle ernsthaft, dass jemand die alte Jacke eines toten Mannes tragen würde. Wahrscheinlicher ist, dass der Mantel zu einer lebenden Person gehört, die ins Militär eingezogen wurde. Doch Kaslovs politisches und soziales Programm und die parallelen Tendenzen im New York jener späteren Zeit – wie die aufkeimende Schwarze Bürgerrechtsbewegung – könnten hier leitend gewesen sein und die Botschaft ermöglicht haben.
Den Protagonistinnen auf diesem Foto wurde also das Recht gewährt, öffentlich aufzutreten und sie nutzten die Aufmerksamkeit, die ihnen hier zuteil wurde. Diese Frauen traten für sich und ihre Familien ein, positionierten sich im politischen Klima ihrer Zeit und beanspruchten Gleichberechtigung und – nun auch in Azoulays Sinne – bürgerschaftliche Zugehörigkeit. Warum sind sie immer noch da, frage ich mich, ohne dass ihr Beitrag für die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung – damals wie heute – wahrgenommen wird?
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