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Vicente Rodríguez Fernández

Kale Thai Shukar (Zu »Roma« fürs Familienalbum)

Über die Ethik von Fotografie und Bild im Kontext von Sinti und Roma – Eine Geschichte aus der Familie Rodriguez, eine persönliche Reise zur Rückgewinnung unseres Selbstbildes

Ich erinnere mich daran, wie ich als Kind alte Familienfotoalben durchblätterte und meine eigenen Verwandten mit fremden Augen betrachtete. Sie sahen außerordentlich gut angezogen aus, lächelten und posierten in Restaurants oder auf öffentlichen Plätzenfern von der extremen Armut und Verfolgung, mit der wir ständig lebten. Am Anfang dachte ich, dass niemand Schwierigkeiten oder Verzweiflung im Familienalbum abbilden wollte, dass alle ihre präsentabelsten, glücklichsten Bilder für diese Alben ausgesucht hatten. Doch ich begriff schnell, dass mehr dahinter steckte.

Als ich aufwuchs, hörte ich Geschichten von extremer Armut und Verfolgung. Und mit extremer Armut meine ich hier nicht, ohne elektrisches Licht oder fließend Wasser zu leben − das hatte ich selbst zeitweise nicht. Extreme Armut zehn Jahre vor meiner Geburt hieß in diesem Kontext, in den ersten 30 Jahren deines Lebens niemals Schinken oder Joghurt gegessen zu haben und bis in deine 20er ohne Toilette zu leben. Mein Onkel Luis erzählte mir tatsächlich einmal scherzend und schamvoll zugleich, dass er 14 Jahre alt war, als er die erste Toilette mit Spülung sah und dass er buchstäblich nicht wusste, was er damit anfangen sollte.

Versuche mal für bloße zehn Sekunden, dir eine Nachbarschaft vorzustellen, die – ähnlich wie Madagaskar – für Jahrhunderte abgesondert existierte, weitgehend ohne Umgang mit Nicht-Roma (natürlich abgesehen von der ständigen Verfolgung und den regelmäßigen Progromen). Dieses Niveau der strukturellen Armut ist das Ergebnis von Jahrhunderten des Rassismus und sehr schwierig zu erklären und zu verstehen.

Besonders meine Mutter erzählte mir davon, wie sie (buchstäblich abgehängt) am Abhang eines kleinen Berges lebte, ohne Zugang zu öffentlicher Versorgung und Diensten, ohne Geburtsurkunden oder Ausweispapiere, etc. Doch die wenigen Bilder, die sie aus dieser Zeit aufhebt, zeigen sie perfekt gekleidet mit einer perfekt lächelnden Familie... Interessant.

Eines Tages leuchtete es mir ein. Ich hatte einen befreundeten Nicht-Rom mit nach Hause gebracht, um ein paar Familiengeschichten auszutauschen und ich realisierte schnell, dass das ganze Haus umgestaltet war. Meine Eltern waren wie die englische Königsfamilie gekleidet und alle Spuren und Beweise von Armut und Schwierigkeiten waren gelöscht.

Am selben Tag, als ich meinem Freund ein altes Album zeigte, fiel ein Bild zu Boden. Es war ein Familienfoto in schwarz-weiß, doch hatte es dieses Bild irgendwie nicht in die ›finale Version‹ der Familiengeschichte geschafft.

Rechts im Bild trägt mein Großvater Alltagskleidung und irgendwelche alten Sandalen. Meine Großmutter sieht schön aus in ihrer gepunkteten Schürze. Mein Vater, der ›blondere‹ Junge, sieht ebenso unpräsentabel aus wie sein Cousin, der ihn umarmt. In der Ecke zeigt meine Tante Bienvenida ihre schöne schwarze Mähne, sie trägt ihre goldenen Korallenohrringe (ein typisches Accessoire an spanischen Romnja). Schließlich ist oben links in der Bildecke mein Onkel Miguel mit seiner Gitarre und seinen dunkleren Gesichtszügen zu sehen.

unknown | No Title | Photographie | Spanien | 1968 | pho_00251 Licensed by: Vicente Rodriguez Fernandez | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Vicente Rodriguez Fernandez – Private Archive

Ich verstand in aller Klarheit, dass dieses Bild zensiert worden war. Aus Angst hatte meine Familie das Bild von einem Leben konstruiert, dass sie nie gelebt hat; ein Leben, das sie in den seltenen Momenten vorzeigten, wenn sie Nicht-Roma begegneten oder mit ihnen sprachen; ein Leben, dass sie sich selbst zeigten, um ihre eigenen Sorgen zu beruhigen.

Auf Nachfrage bei meinen Eltern und Verwandten fand ich viele Bilder wie dieses. Einige waren älter, andere aktuell, aber alle waren in irgendeine dunkle Schublade verbannt.

Warum hatten meine Eltern solche Befürchtungen, ihre echten Familienfotos zu zeigen? Das kann ich sofort erklären: Sie hatten schreckliche Angst, so auszusehen, wie alle es von Rom_nja erwarteten.

Denn bis heute gehören Rom_nja ihr eigenes Bild nicht. Publikationen und Zeitungen bombardieren uns weiterhin mit Bildern der Armut von dunkelhäutigen Menschen, während sie diese Bilder mit Kriminalität, Scheitern und Verdammnis verknüpfen.

Beim Durchsehen meiner eigenen Familienfotos verstand ich, dass eine Ethik nicht innerhalb der Bilder gefunden werden muss; das wahre Gift liegt üblicherweise in der Botschaft, die mit den Bildern einhergeht.

Tatsächlich braucht an diesem Punkt in der Geschichte ein Bild von gar keiner Botschaft mehr begleitet zu sein, da die Narrative längst zur europäischen Folklore und Popkultur gehören. Wenn beispielsweise ein blondes Nicht-Roma-Kind auf einem Familienfoto zu sehen ist, wird die Gesellschaft es als spielendes Kind lesen. Wenn es sich jedoch um ein Roma-Kind handelt, wird angenommen, dass es von den Eltern vernachlässigt wird. Das kann auf quasi jede Vorstellung übertragen werden, die mit Rom_nja verknüpft wird, während Nicht-Roma vor diesem spezifischen Blick geschützt sind. Rom_nja werden sofort mit den schlimmsten Menschheitsverbrechen in Verbindung gebracht, wenn sie es wagen, ein Bild zu zeigen, das sie auf bestimmte Weise zeigt... Also, was tun?

Ein ethischer Ansatz an Fotografie und Bilder im Kontext von Rom_nja beruht wahrscheinlich auf dem Wert der Selbstrepräsentation und in der historischen Aufarbeitung durch Rom_nja, d.h. einer Neuinterpretation der historischen Aufzeichnung. Das umfasst eine Anfechtung der konventionellen Ansichten von Nicht-Roma-Expert_innen aller Disziplinen.

Es ist mir gelungen, Hunderte unbearbeiteter Familienfotos von den Rodriguez zu sammeln. Ich habe mich entschieden, stolz auf unsere Geschichte und Umstände zu sein, mit dem Guten und Schlechten darin. Und ich liebe meine Familie und erinnere sie immer daran, dass ihr Leben und Überleben kein Grund ist, sich zu schämen. Ganz im Gegenteil, wie schon die Afroamerikaner_innen sagten: Black and Beautiful, Kale Thai Shukar!

Era Trammer | Reading Photography | Non Fiction | Österreich, Deutschland | 2018 | pho_00269 Rights held by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive The images cited in the film were kindly provided by: Fortepan (Kornál Umann / Tamás Urbán / Katalin Eindrei / Pál Schiffer) | Magnum Photos / Agentur Focus (Burt Glinn) | Nihad Nino Pušija

Rights held by: Vicente Rodriguez Fernández (text) — Jennifer Sophia Theodor (translation) | Licensed by: Vicente Rodriguez Fernández (text) — Jennifer Sophia Theodor (translation) | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive