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Juliane Strohschein

Bilderpolitik: Wie kann mit stereotypisierenden Fotografien umgegangen werden?

unknown | Ohne Titel | Photographie | Ungarn | 1972 | pho_00033 Rights held by: Tamás Urbán | Licensed by: Fortepan | Licensed under: CC-BY-SA 3.0 | Provided by: Fortepan

Menschen zu fotografieren, bedeutet ihnen Gewalt anzutun, schreibt Susan Sontag 1977 in »Über Fotografie«: Durch den Akt, sie abzubilden, wie sie sich selbst nicht sehen, werden aus Menschen Objekte, die symbolisch in Besitz genommen werden können. Mag auch nicht jedes Foto eine Gewalttat darstellen, so sind seit den ersten Fotografien in den 1820er Jahren viele Bilder entstanden, die von den sozialen und historischen Machtkontexten ihrer Entstehung durchdrungen sind. Deshalb stellt sich die Frage, wie mit solchen Fotografien umgegangen werden kann. Sie einfach wieder zeigen, um zu sehen, wie es war? Sie nicht zeigen, um die abgebildeten gewaltvollen Machtverhältnisse nicht aufs Neue zu reproduzieren?

»Das Vermächtnis der Vergangenheit und dessen Wirkungsweise sind in das gesellschaftliche Gedächtnis der Gegenwart eingeschrieben. Diese Vergangenheit sichtbar zu machen, ist eine Voraussetzung, um in der Gegenwart intervenieren zu können« (Dietrich 2006, 29). Bilder haben Macht. Sei sie historisch aufgeladen oder gegenwärtig durch soziale Medien potenziert oder beides. In einer von Bildern und visuellen Reizen geprägten Welt ist es wichtig, zu fragen: Was macht (!) dieses Foto? Was ist seine Geschichte?

Der Beginn der Fotografie und der Massenmedien ist untrennbar verwoben mit der Instrumentalisierung von Fotografien als massenwirksame Vermittlung und Einschreibung bestimmter Sichtweisen in die visuelle Wahrnehmung (Wright 1999). Mit dem »wissenschaftlich« argumentierten Rassismus des 19. Jahrhunderts wurde die Markierung, Repräsentation und Wahrnehmung visueller Differenz systematisiert (Nagl 2004, 298). Bis heute funktionieren bestimmte Darstellungen, Perspektiven und Blicke als alltagsrassistische Reinszenierung (Kilomba 2008): Die einen werden zu Objekten herabgesetzt, während andere sich scheinbar unbemerkt in Abgrenzung von »den defizitären Anderen« heraufsetzen.

Zugleich zieht sich das Phänomen des 19. Jahrhunderts, der Fotografie Realismus zu bescheinigen, bis in gegenwärtige Vorstellungen, dass in der Fotografie eine abgebildete Wirklichkeit materiell verkörperlicht sei (Bredekamp 2004, 19). Bilder wurden und werden konstruiert und reproduziert, um ungerechte Machtverhältnisse mit scheinbarer visueller Evidenz zu belegen. Das ist die potenzielle Macht und Gewalt von Fotografien.

Wie kann also ein zeitgemäßer und angemessener Umgang mit gewaltbelasteten Fotografien gelingen? Ein erster zentraler Schritt ist, alle diese Fragen zu stellen: Wer? Wen? Wann? Wie? Warum? Welche Bedeutung? Was passiert mit den Protagonisten und Zuschauern? Eine gründliche Bildanalyse und Kontextualisierung ermöglicht eine angemessene Einbettung und eine Veränderung der Blickrichtung. Fotografische Repräsentationen werden als eine Praxis lesbar, die das Repräsentierte erst erschafft (Castro Varela und Dhawan 2003, 276).

Anschließend wird es in einem zweiten Schritt möglich, die im Inneren der Bilder wirkenden Imaginationen bewusst zu machen. Imaginationen sind als soziale Praxis zentral für alle Formen von Handlungen. Sie sind selbst ein sozialer Fakt (Appadurai 1990), nicht bloße Reflexion der Welt im Nachhinein, sondern ein konstitutiver Teil von Kultur, der wie Ökonomie und Materie Grundlage der Formung sozialer Subjekte und historischer Ereignisse ist (Hall 1997, 6). Das visuelle Artefakt ist dabei nur die halbe Geschichte. Was Stuart Hall »deeper meaning« – die tiefere Bedeutung – nennt, liegt darin, was nicht gesagt oder gezeigt wird, sondern imaginiert ist: das, was impliziert ist, aber nicht gezeigt werden kann (Hall 1997, 263).

Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, aber in der Gegenwart besteht insbesondere für die Mehrheitsgesellschaft die Aufgabe (dritter Schritt), den Wahrheitsgehalt tendenziöser alter (Bilder)Geschichten zu hinterfragen und zu Gunsten zeitgemäßerer, angemessener Darstellungen zu korrigieren.

Era Trammer | Reading Photography | Non Fiction | Österreich, Deutschland | 2018 | pho_00269 Rights held by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed by: André Raatzsch — Erika Trammer | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive The images cited in the film were kindly provided by: Fortepan (Kornál Umann / Tamás Urbán / Katalin Eindrei / Pál Schiffer) | Magnum Photos / Agentur Focus (Burt Glinn) | Nihad Nino Pušija

Rights held by: Juliane Strohschein | Licensed by: Juliane Strohschein | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive