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Astrid Oelpenich

Auf der Suche nach der Magie des Alltäglichen

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Andrzej Mirga | No title | Photographie | Polen | pho_00041 Rights held by: Andrzej Mirga | Licensed by: Andrzej Mirga | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Andrzej Mirga – Private Archive

Ich erinnere mich noch an die ersten Fotos von Sinti und Roma1, die ich in deutschen Massenmedien bewusst wahrgenommen habe. Es waren die Bilder von obdachlosen Familien im Görlitzer Park, die 2007 durch die Presse gingen. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits 24 Jahre alt. Solche Armutsbilder und exotisierende Fotografien dominieren das Bild von Sinti und Roma – mediale Bilder beeinflussen wiederum mentale Bilder und das Denken. Diese Bilder sind weiterhin präsent und prägen Sehgewohnheiten.

Es ist 2018. Ich habe als weiße Person zwei Jahre im Archivbereich Bilderpolitik des RomArchive gearbeitet. In dieser Zeit haben wir uns im Team viele Fragen gestellt und viel diskutiert. Wer fotografiert? Wer fotografiert wann und wen? Wer wird fotografiert? Wie wird fotografiert? Wer wird fotografisch exotisiert oder stigmatisiert? Welche Bilder dominieren die Medien und unsere Sehgewohnheiten? Wer wird komplex repräsentiert und wer wird ignoriert oder falsch und einseitig repräsentiert?

»Keine Aufnahme, die du machst, ist unschuldig«

Für komplexere und realistischere Bilder der vielfältigen Lebensrealitäten von Sinti und Roma müssen rassistische, diskriminierende und exotisierende Sehgewohnheiten hinterfragt werden. »Keine Aufnahme, die du machst, ist unschuldig«, sagt Vicente Rodríguez Fernández, stellvertretender Leiter des Programms Legacies of Empires an der University of Washington, in Anlehnung an Jean-Luc Godard. Alle Fotos entstehen in einem gesellschaftlichen Kontext. Insbesondere in Bezug auf Sinti und Roma ist dies ein Kontext der jahrhundertelangen Ausgrenzung, Stigmatisierung, Diskriminierung, Exotisierung und Verfolgung.

Diesen Kontext muss man – auch und gerade aus anderen Perspektiven – verstehen (wollen), was möglicherweise ein schmerzhafter Prozess ist. Denn er kann bedeuten, vermeintliches Wissen zu verlernen, sicher geglaubte Positionen und Meinungen zu verschieben und sich immer wieder mit gewaltvollen Mechanismen auseinanderzusetzen.

Wie ein Ver- und Neulernen2 funktionieren kann, erklärt Rodríguez Fernández im Interview3:

»Ich denke, die Leute meinen mit der ›Dekolonisierung von Bildern‹, dass wir lernen, die von der Macht gestalteten Bilder auf eine Weise zu verstehen – sie zu entschlüsseln –, die die Menschen ermächtigt und ihnen eine Stimme verleiht, die in den Bildern als passive Abgebildete erscheinen. Und das sind üblicherweise rassifizierte Menschen, Frauen, Minderheiten.«

Rodríguez Fernández

In unserer Arbeit haben wir uns gefragt, welche Bilder von Sinti und Roma in der Öffentlichkeit eigentlich fehlen, und uns auf die Suche danach gemacht. Es fehlen Alltagsbilder, Familienbilder, Bilder unter Freund_innen. Es fehlen Bilder von Arbeiter_innen, Künstler_innen, Akademiker_innen. Es fehlen Bilder, die nicht exotisieren, stigmatisieren oder in anderer Form gewaltvoll sind. Es fehlen Bilder, die von Roma oder Sinti aufgenommen wurden. Mir persönlich fehlen Bilder meiner Freund_innen oder Menschen, die ihnen ähnlich sind, die eben nicht in die Reportage über obdachlose Familien im Görlitzer Park passen. Diese Lücke zu füllen, kann dazu beitragen, unsere mentalen Bilder zu verschieben und Repräsentationen zu verändern.

Im Laufe unserer Suche nach den fehlenden Bildern, machte uns Anna Mirga-Kruszelnicka auf die Fotos ihres Vaters aufmerksam: Andrzej Mirga ist ein Rom aus Czarna Góra in Polen, der aktuell in Krakau lebt. Motiviert durch sein Studium der Ethnologie begann Mirga Ende der 1970er Jahre das eigene Familienleben, wichtige Ereignisse der Dorfgemeinschaften in Czarna Góra und Szaflary (Polen) sowie die dortige Begegnung mit der Theatergruppe Gardzienica fotografisch zu dokumentieren. Jahrelang lagen diese Fotos vergessen zwischen anderen Dokumenten, bis seine Tochter Anna sie zu Schulzeiten wiederentdeckte.

»Das ist Teil unserer Geschichte, unserer Familie.«

»Als junger Wissenschaftler ging es mir darum, Dinge über uns zu dokumentieren, als Familienleben. Es gibt ein paar Bilder von Zeremonien wie Beerdigungen, die sehr privat sind. Ich war mir sehr bewusst darüber, was ein Foto für einen archivarischen und historischen Wert hat.«, sagt Andrzej Mirga, als ich ihn nach seiner Motivation frage, diese Fotos aufzunehmen. »Sie zeigen eine Welt, die sich seitdem stark verändert hat«, bemerkt Anna Mirga-Kruszelnicka.

Was aber unterscheidet diese Bilder von anderen anthropologischen fotografischen Dokumentationen über Sinti und Roma? Mirga selbst verweist auf einen entscheidenden Unterschied zwischen seinem Blick, seinen Fotografien und anderen anthropologischen Bildern von Sinti und Roma:

»Nicht jedes Bild ist ein gutes Bild und nicht jedes Bild ist ein gutes Dokument. Aus der Vergangenheit schließe ich, dass es gut ist, ein paar Bilder zu haben, die von Roma aufgenommen wurden. So entsteht eine andere Perspektive, einschließlich unserer Gefühle. Denn wir kennen die Menschen, wir kennen die Situationen, in denen die Bilder aufgenommen wurden und haben bestimmte Empfindungen, die mit dieser Art von Bildern verknüpft sind. Das ist Teil unserer Geschichte, unserer Familie.«

Andrzej Mirga
  • Andrzej Mirga | No title | Photographie | Polen | pho_00038 Rights held by: Andrzej Mirga | Licensed by: Andrzej Mirga | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Andrzej Mirga – Private Archive
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  • Andrzej Mirga | No title | Photographie | Polen | pho_00041 Rights held by: Andrzej Mirga | Licensed by: Andrzej Mirga | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Andrzej Mirga – Private Archive

Genau dieser Perspektivenwechsel und die damit verbundenen Emotionen interessieren mich. Denn wenn ich die Emotionen zu einem Bild verstehe, kann ich es besser nachfühlen, mich einfühlen – wie in persönlichen Begegnungen. Das Vertrauen der Fotografierten, dem Fotografen Mirga – aber auch uns Betrachtenden – einen Einblick in ihren Alltag zu geben, ermöglicht uns eine mentale Reise zu ihnen nach Hause. Das Vertrauen ist ein politisches Statement, eine Aufforderung, hinter Klischees zu schauen und sich ein realistischeres Bild zu machen.

Wie ist es möglich, komplexe (Bild-)Geschichten über Sinti und Roma zu erzählen, ohne sie zu ethnisieren?

Als ich Mirgas Fotos Anna Daróczi zeige, der Koordinatorin des Freiwilligenprogramms Phiren Amenca in Budapest, fragt sie spontan: »Wollen die Leute das sehen? Interessiert sie das, wenn es nichts Exotisches gibt? Ich frage mich das bloß, weil die meisten Fotos Familienbilder sind, Alltagsbilder aus der Nachbarschaft. Woher weiß man dann, dass die Leute Roma sind? Ist das wichtig?« Daróczis Assoziationen und Fragen sind nicht nur für diese Bilder relevant, sondern haben unser Projekt über die vergangenen Jahre begleitet. Wie ist es möglich, komplexe (Bild-)Geschichten über Sinti und Roma zu erzählen, ohne sie zu ethnisieren? Vielleicht bergen diese Bilder ein Identifikationspotential – für Sinti und Roma, aber aufgrund ihrer Universalität vielleicht auch für alle anderen? Vielleicht können wir durch das Zeigen solcher Bilder Räume schaffen, in denen Sinti und Roma realistisch und differenziert abgebildet werden?

Anna Mirga-Kruszelnicka, Anthropologin, Aktivistin und Kuratorin im RomArchive, formuliert diesen Moment der Begegnung, der für sie die Fotos so besonders macht:

»Ich war sehr aufgeregt, als ich die Fotos fand. Mich traf damals die Intimität darin. Denn auf den Bildern sind viele Menschen abgebildet, die nicht einfach irgendwelche Leute sind, sondern Cousinen, Freunde, Familienmitglieder. Sie kennen meinen Vater. Und der Kontext, in dem er viele dieser Fotografien aufnahm entstand, als er mit diesem Theaterprojekt in die Siedlungen fuhr. Sie machten Theaterworkshops und es war irgendwie spielerisch, aber auch Lernen und Leute von außen reinholen [...]. Mir persönlich fällt einfach diese Art der Intimität auf, die in manchen Bildern zu sehen ist. Du kannst sie darin erkennen, wie manche der Abgebildeten gucken. Der Ausdruck ihrer Augen oder ihrer Gesichter zeigt, dass sie sich wirklich wohl fühlen und einfach nur Spaß haben. Das ist für mich also etwas, dass die Intimität rüberbringt und etwas, das wir nicht immer sehen. Diese Leute hier posieren, klar, aber sie fühlen sich sehr wohl dabei.«

Anna Mirga-Kruszelnicka

Die Alltagsszenen auf den Fotografien von Andrzej Mirga haben außerdem seine Nichte, die in Czarna Góra lebende Künstlerin Małgorzata Mirga-Tas zu einigen ihrer Gemälde inspiriert. »Ihre Malerei holen diesen magischen Realismus hervor, der hinter solchen Alltagsdingen versteckt ist.«, findet ihre Cousine Anna Mirga-Kruszelnicka. Und wenn wir genau hinschauen, finden wir auch in den Fotos den Zauber des Alltäglichen und Unsichtbaren.

Rights held by: Astrid Oelpenich | Licensed by: Astrid Oelpenich | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive