Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

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Anna Mirga-Kruszelnicka

Eine Geschichte der organisierten Roma-Bewegung in Spanien

Historischer Hintergrund

Die Geschichte der Rom_nja in Spanien reicht fast 600 Jahre zurück und ist geprägt von jahrhundertelangen Verfolgungen. Zwar erhielten die Rom_nja bei ihrer Ankunft im frühen 15. Jahrhundert Geleitbriefe;1 mit der Wende zum 16. Jahrhundert aber fielen die Rom_nja unter die exklusionistische Politik der Katholischen Könige.2

1499 erließ das Herrscherpaar seine erste Pragmática und befahl darin sämtlichen Rom_nja, ihre nomadische Lebensweise aufzugeben, ein Handwerk zu erlernen und einem örtlichen Herrn zu dienen. Bis 1783 wurden dann über 250 Anti-Roma-Dekrete erlassen, die alle darauf abzielten, die Rom_nja als eigenständige ethnische Gruppe aufzulösen. In dieser Phase wurden Rom_nja auch massenhaft interniert – im Rahmen der Gran Redada, der sogenannten »großen Zigeuner-Razzia« von 1749 – und gewaltsam außer Landes gezwungen. Der Gebrauch ihrer Sprache Romanes (Rromani-chib) und ihre traditionellen Kleider und Gewerbe wurden offiziell verboten.3

Die letzte Pragmática von Karl III., König Spaniens und der spanischen Indien (1759–1788), gewährte den Rom_nja zwar die spanische Staatsbürgerschaft, zielte aber auf ihre komplette Assimilierung ab, indem sie ihnen ihre eigene Kultur und Traditionen verbot.4 Unter anderem untersagte sie die Verwendung des Begriffs Gitano in allen Zusammenhängen. Dieses Gesetz blieb bis Ende des 19. Jahrhunderts in Kraft.

Das Schicksal der Rom_nja im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) ist bisher kaum erforscht. Bekannt sind vor allem individuelle Fallbeispiele auf beiden Seiten des Konflikts. Helios Gómez etwa – Dichter, Maler, Revolutionär und Anarchosyndikalist – kämpfte an der Front gegen die Franquisten. Und Ceferino Giménez Malla, genannt El Pelé, war ein römisch-katholischer Katechist und Märtyrer, 1936 von republikanischen Milizionär_innen getötet und am 4. Mai 1997 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.

In den Jahrzehnten der Franco-Diktatur (1939–1975) setzten sich die politischen Repressionen gegen die Rom_nja fort. Unter anderem war der Gebrauch des Caló (der Sprache, die die Rom_nja in Spanien nach dem Verbot des Romani entwickelt hatten) untersagt, und ab 1943 hatte die Guardia Civil strikte Order, in den Roma-Gemeinden Patrouille zu gehen, sie zu überwachen und unter Kontrolle zu halten.

Die Transición und die Geburt der organisierten Roma-Bewegung

Der Wendepunkt, was die politische Mobilisierung betraf, war für die Rom_nja in Spanien die Phase des demokratischen Übergangs nach 1975. Der nach dem Tod des Diktators Francisco Franco Bahamonde eingeleitete Prozess der schrittweisen Demokratisierung eröffnete den Rom_nja neuartige Möglichkeiten, aktive politische Subjekte zu werden und sich die Potenziale der Ethnopolitik zu erschließen.

Die Demokratie verlieh den Rom_nja erstmals den vollständigen, gesetzlich abgesicherten Status spanischer Staatsbürger_innen und garantierte »das Recht der Bürger_innen, sich zu Vereinen zusammenzuschließen«.5

Die Anfänge einer echten organisierten Roma-Bewegung in Spanien sind eng verbunden mit der philanthropischen Arbeit der katholischen Kirche – und mit der Etablierung der evangelikalen Kirchen. Kirchlich geförderte Pro-Roma-Organisationen bahnten den Weg für die Roma-Vereinsbewegung.6

Die ersten unabhängigen und säkularen Roma-Vereine lassen sich bis in die späten 1960er Jahre zurückverfolgen. In Madrid wurde 1968 die Asociación Desarrollo Gitano gegründet (formell registriert wurde sie allerdings erst 1972).
In den 70er Jahren, im Kontext eines allgemeinen gesellschaftlichen Erwachens, traten diverse Roma-Organisationen hervor, darunter eine Reihe von Verbänden mit Aktivitäten von nationaler Reichweite, etwa die 1972 ins Leben gerufene (und 1979 formell registrierte) Asociación Nacional Presencia Gitana. Als erste Roma-Organisation in Katalonien wurde 1978 das Centro Cultural Gitano de la Mina gegründet.

unknown | Press conference of Unión de Centro Democratico political party, 1977 | Fotografie | Spanien | 1977 | rom_10117 Licensed by: Uníon Romaní - Uníon del Pueblo Gitano | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Uníon Romaní / Juan de Dios Ramirez Heredia

Im Anschluss an die Transición wurde das Wohl der Roma-Staatsbürger_innen als Verantwortlichkeit der Regierung anerkannt. Die Rolle von Roma-Intellektuellen, -Künstler_innen und -Politiker_innen war entscheidend bei der Schaffung eines gesteigerten Bewusstseins für die Lage der Rom_nja – und für die Mobilisierung institutioneller Antworten.

Ein gutes Beispiel bietet die Theater-Performance »Camelamos naquerar« (Caló für »Wir wollen sprechen«), geschrieben von José Heredia Maya und choreografiert von Mario Maya, die 1976 in Granada Premiere hatte.7 Im selben Jahr veröffentlichte der Flamenco-Sänger El Lebrijano (Juan Peña Fernández) sein Meisterwerk »Persecución« mit Texten des Dichters Felix Grande, das die Geschichte der spanischen Rom_nja erzählt.

Mit der Transición eröffnete sich den Rom_nja auch die Möglichkeit, in die Politik zu gehen. Bei den ersten demokratischen Wahlen 1977 zog Juan de Dios Ramírez-Heredia über die Liste der sozialdemokratischen Partei Partido Socialista Obrero Español (PSOE) als erster spanischer Rom ins nationale Parlament ein. Als leidenschaftlicher und eloquenter Rhetoriker brachte Juan de Dios zum Beispiel bei seiner berühmten Rede vom 7. Juni 1978 das Leid der Roma-Gemeinschaften zur Sprache. Auch die spanische Verfassung, 1978 ausgearbeitet und ratifiziert, trägt die Unterschrift dieses Vertreters der spanischen Rom_nja.

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Speech of Juan de Dios Ramirez Heredia in the Spanish parliament in 1978 (part 1) | Spoken word | Spanien | 7. Juni 1978 | rom_10004
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Speech of Juan de Dios Ramirez Heredia in the Spanish parliament in 1978 (part 2) | Spoken word | Spanien | 7. Juni 1978 | rom_10005

Die 1980er Jahre: Entwicklung der Roma-Politik und der »Faktor Juan de Dios«

Die schwierige sozioökonomische Situation der Roma-Gemeinden in Spanien verlangte nach einer politischen Lösung. 1979 berief die spanische Regierung eine ministeriumsübergreifende Sonderkommission ein, um die speziellen Probleme der Rom_nja zu untersuchen. 1985 wurde der Nationale Plan für die Entwicklung der Rom_nja verabschiedet. Auf eine flammende Rede von Ramírez-Heredia hin wurde 1986 ein spezieller Posten im Staatshaushalt für Roma-Maßnahmen geschaffen, und 1989 bekam der Plan sein eigenes Budget.

Die Präsenz von Juan de Dios Ramírez-Heredia im Parlament und die Sichtbarkeit von Roma-Themen im öffentlichen Diskurs trugen zur Ausprägung von Roma-bezogener politischen Maßnahmen bei. Ramírez-Heredia war auch selbst an der Entwicklung der Roma-Vereinsbewegung beteiligt. Als Delegierter beim Roma-Weltkongress 1971 in London und Gründungsmitglied der International Romani Union (IRU) ermutigte er andere, Roma-Vereine auf lokaler Ebene zu gründen. 1986 rief er die Unión Romaní Española (UR) ins Leben, den ersten spanischen Roma-Dachverband, und begann die einzige zweiwöchentlich erscheinende Roma-Zeitschrift Nevipens Romaní herauszugeben.

Im selben Jahr wurde Juan de Dios als erster Rom Abgeordneter des Europaparlaments. Von 1986 bis 1999 vertrat er in dieser Funktion die Interessen der Rom_nja vor der Europäischen Union, setzte sich für ihre Rechte ein und organisierte in Spanien zwei historische internationale Konferenzen – den Ersten Roma-Kongress der Europäischen Union 1994 in Sevilla und den Ersten Europäischen Kongress der Roma-Jugend 1997 in Barcelona.

unknown | Gelem gelem memorabilia dedicated to Juan De Dios and signed by Jarko Jovanovic | Erinnerungsstücke | unbekannt | 1978 | rom_10116 Licensed by: Uníon Romaní - Uníon del Pueblo Gitano | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Uníon Romaní / Juan de Dios Ramirez Heredia

Die 1990er und 2000er Jahre: »Vereinsboom« und interne Konsolidierung

In den 1990er Jahren – mit dem allmählichen Ausbau Roma-bezogener politischer Maßnahmen und mit einem wachsenden Bewusstsein für die Vorteile des Aktivismus unter den Rom_nja – dehnte sich die Roma-Vereinsbewegung rasch aus; es wird geschätzt, dass die Zahl der Vereine zwischen 1997 und 2004 von 200 auf rund 400 anstieg.8

Dieses rasche Wachstum erforderte einen entsprechenden Prozess der internen Konsolidierung. Die Entscheidung, eher regionale als nationale Verbände zu bilden, was politisch logisch – Spanien ist ein relativ dezentralisiertes Land, in dem 17 »autonome Gemeinschaften« unterschiedliche Grade der Selbstverwaltung genießen. Ermutigt von den regionalen Behörden begannen Roma-Organisationen, sich zu Föderationen zusammenzuschließen, um größere Repräsentativität zu erlangen und die Kommunikationskanäle mit der Politik zu bündeln.

Als erste Regional-Föderation wurde 1988 die Föderation des andalusischen Roma-Verbands (FARA) gebildet; im Jahr darauf folgte das Centro Sociocultural Gitano in Granada und die Föderation der Roma-Vereine in der Autonomen Gemeinschaft Valencia (FAGA). In Katalonien wurde 1991 die Föderation der Roma-Vereine von Katalonien (FAGIC) gegründet, die heute mit über 90 Mitgliedsvereinen als eine der mächtigsten Roma-Organisationen Spaniens gilt.9

Einen wesentlichen Schritt hin zur Konsolidierung von Roma-Organisationen auf nationaler Ebene bedeutete die aktive staatliche Förderung. Den Anfang machte das sogenannte Forum, organisiert vom Ministerium für Arbeit und Soziales. Diverse Akteur_innen – Roma- und Pro-Roma-Verbände sowie regionale und nationale Verbände – entschieden dort zusammen über einen Etat und seine Zuteilung.10 Später wurde das Forum umgewandelt in den Staatlichen Rat für Rom_nja in Spanien, gemäß königlichem Dekret 891/2005 vom 22. Juli 2005.11

Ein weiterer Versuch, Roma-Akteur_innen auf nationaler Ebene zu stärken, war die Schaffung von Podien zu speziellen Forderungen und Anliegen. 2000 wurde die Plattform für das Statut der Rom_nja (Romipen) gegründet. Sie legte eine Reihe von Manifesten vor, insbesondere das »Toledo-Manifest«, mit dem Ziel, ein »Statut für die Rom_nja in Spanien« auf staatlicher Ebene zu formulieren. Diese Initiative erwies sich allerdings nicht als dauerhaft erfolgreich und das Statut kam nicht zustande.

Doch das Wachstum der Roma-Zivilgesellschaft, gefördert durch Engagement und Lobbyarbeit der Rom_nja selbst, aber auch durch politischen Willen staatlicherseits und öffentliche Unterstützung, brachte zahlreiche Verbesserungen mit sich. Zum einen wurden seit den späten 1990ern, vor allem aber im folgenden Jahrzehnt, die Regionalregierungen bestärkt, ihre eigenen Strategien zu entwickeln und lokale Gremien zu schaffen, die den Dialog mit den Rom_nja sicherstellten; diese Gremien gediehen in ganz Spanien.

Den Anfang machte auch in diesem Fall Andalusien, wo die meisten spanischen Rom_nja lebten. In Sevilla wurde bereits 1984 ein städtischer Roma-Rat gegründet, und der erste Andalusische Plan für die Roma-Gemeinschaft wurde 1987 verabschiedet. In Barcelona wurde 1998 der Städtische Rat gegründet, und Katalonien verabschiedete seinen Regionalplan für die Rom_nja im Jahr 2001.12

Auf der anderen Seite gelang es Roma-Organisationen, institutionelle und symbolische Akte der Anerkennung für die Rom_nja hervorzurufen, obwohl die Rom_nja in Spanien bis heute keinen formell-offiziellen Status als nationale Minderheit genießen. 1996 ernannte das andalusische Parlament den 22. November zum »Tag der andalusischen Rom_nja«. 2001 verabschiedete das katalanische Parlament eine Resolution, die Rom_nja als Identität und Wert anerkannte, und im erneuerten katalanischen Autonomiestatut von 2006 forderte Artikel 42.7 von der Regierung, die Kultur der Rom_nja zu bewahren.

Auf nationaler Ebene verabschiedete das Abgeordnetenhaus 2005 einen Antrag, laut dem die Regierung Kultur, Geschichte, Identität und Sprache der Rom_nja zu fördern hat. 2007 wurde in Madrid das Institut der Roma-Kultur gegründet. Am Internationalen Roma-Tag, der in Spanien erstmals 2002 begangen wurde, nehmen politische Institutionen in immer größerem Maß teil.

Roma-Bewegung und Parteipolitik

In Spanien gelten ethnopolitische Parteien nicht als gangbare Strategie, um die Interessen von Minderheiten zu repräsentieren. Nach gegenwärtiger Gesetzeslage wären die Wahlchancen einer Roma-Partei sehr gering. Dennoch hat es in der Vergangenheit ethnisch basierte Parteigründungen der spanischen Rom_nja gegeben. Die Partido Nacionalista Caló (PNCA) wurde 1999 als politische Partei von nationaler Reichweite von Mariano Fernández gegründet. Bei den spanischen Parlamentswahlen 2000 und 2004 sowie bei den Kommunalwahlen 2007 und 2011 trat sie jeweils ohne Erfolg an. Eine weitere Roma-Partei, Partido Alianza Romaní (ARO), 2004 von Agustín Vega in Badajoz ins Leben gerufen, war ebenfalls auf nationaler Ebene aktiv.

Eine andere Strategie, die Interessen der Rom_nja politisch zu vertreten, setzt auf die Mainstream-Parteien, genauer gesagt auf Roma-Politiker_innen, die sich in diesen engagieren. Allerdings beschritten auch diesen Weg nur wenige. Es wird geschätzt, dass zwischen 1978 und 2003 insgesamt 40 Rom_nja in Spanien bei politischen Wahlen kandidierten, davon zwei bei Regionalwahlen, einer auf nationaler Ebene und die restlichen bei Kommunalwahlen.13 Nur eine Handvoll der Kandidat_innen trat erfolgreich an, und dies ausschließlich in kleineren Gemeinden.

2011 zog Silvia Heredia Martín für die konservative Partei Partido Popular (PP) als zweite Roma-Politikerin ins nationale Abgeordnetenhaus ein; sie hatte ihren Parlamentssitz bis 2015 inne und wurde 2016 erneut gewählt. Nur zwei weitere Roma-Kandidat_innen wurden in regionale Parlamente gewählt: Manuel Bustamante (PP) in Valencia (1999, 2003, 2007 und 2013) und Francisco Saavedra (PSOE) in Extremadura (2003 und 2007). Derzeit verbleibt nur Silvia Heredia Martín im Amt, es gibt keine weiteren Roma-Abgeordnete in den regionalen und nationalen Parlamenten Spaniens. Größere Erfolgschancen bieten sich ihnen bei Kommunalwahlen.

Der Wandel in der politischen Landschaft hat in den letzten Jahren auch für Roma-Kandidat_innen neue Möglichkeiten eröffnet – vor allem der Aufstieg von Gruppierungen wie Podemos oder kleinen lokalen Bündnissen, die das spanische Zwei-Parteien-System aufmischen. Bei den Kommunalwahlen 2015 traten mindestens 61 Rom_nja an, 26 von ihnen als Kandidat_innen neu gegründeter Parteien. Zehn der Kandidat_innen waren erfolgreich, davon sechs auf den Wahllisten von Parteien, die aus Bürgerbewegungen hervorgegangen sind.

Die Roma-Frauenbewegung

So wie im übrigen Europa ist auch in Spanien die Perspektive der Romnija nicht gesondert in die feministische Agenda aufgenommen worden, während zugleich die männlich dominierten Roma-Verbände es am nötigen Raum für Dialog, Engagement und Mitarbeit der Roma-Frauen fehlen ließen.

Aus diesem Grund haben die spanischen Romnija schrittweise begonnen, ihre eigene Bewegung aufzubauen, um ihre speziellen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen und einen Schutzraum für Empowerment und Selbstorganisation zu schaffen. Zwar waren Romnija schon seit den 70er Jahren in Roma-Vereinen und anderen Sphären des bürgerschaftlichen und politischen Lebens aktiv gewesen, doch erst 1989 wurde der erste Roma-Frauenverein in Spanien gegründet – die Asociación de Mujeres Gitanas Romi in Granada, mit María Dolores Fernández Fernández als Präsidentin.

Ab 1991 richtete Romi jährliche Seminare in Granada aus, die eine große Zahl weiblicher und männlicher Rom_nja zusammenführten, um gemeinsam auf die Ermächtigung von Roma-Frauen hinzuarbeiten. Eine Folge dieser Treffen war die Schaffung weiterer Roma-Frauenorganisationen in ganz Spanien. So ist die Roma-Frauenbewegung seit den 1990ern überall im Land angewachsen. Heute existieren in allen autonomen Gemeinschaften Spaniens Roma-Frauenorganisationen, mit zahlreichen Föderationen und Netzwerken.

Das Aufkommen von Roma-Frauenorganisationen in Spanien und ihre dynamische Entwicklung waren etwas Neuartiges. Die ersten dieser Romnija-Verbände leisteten Pionierarbeit auch auf europäischer Ebene. Kamira, 1999 als erste nationale Föderation der Roma-Frauenorganisationen in Spanien gegründet, zählte zugleich zu den ersten derartigen Dachverbänden in ganz Europa.

Der Aktivismus der Romnija in Spanien wurde zur Inspiration für die aufkeimende Roma-Frauenbewegung in anderen Ländern. So legte beim Ersten Roma-Kongress der Europäischen Union 1994 in Sevilla eine Gruppe von 29 Romnija aus sieben Ländern, angeführt von Jovhana Bourguignon, Mary Moriarty und Carmen Carillo, ein gemeinsames Schlusswort zur den speziellen Problemen der Roma-Frauen und zu möglichen Lösungen vor.

Auch richteten spanische Romnija- und Pro-Romnija-Organisationen eine ganze Reihe wichtiger Veranstaltungen aus, die für Romnija aus ganz Europa Räume zum Erfahrungsaustausch und für die Zusammenarbeit boten. 2010 organisierte der Verein Drom Kotar Mestipen den 1. Internationalen Romnija-Kongress in Barcelona, der mehr als 300 Teilnehmerinnen zusammenbrachte. 2011 fand in Granada die Dritte internationale Roma-Frauenkonferenz und der Erste Weltkongress der Roma-Frauen statt.

Was die Sichtbarkeit betrifft, erobern die Romnija bedeutende Räume in der politischen Repräsentation von Rom_nja in Spanien. 2017 wurde Beatriz Carrillo de los Reyes, damalige Präsidentin der Romnija-Föderation FAKALI, als erste Romni zur Vizepräsidentin des Staatlichen Rates für die Rom_nja gewählt. Beim Städischen Roma-Rat in Barcelona hatten zuletzt zwei Frauen hintereinander den Vorsitz inne, Juana Fernández Córtez und María Rubio.

»Der Kult«: Die Bedeutung der evangelikalen Roma-Kirchen

Es ist unmöglich, die Entwicklung der organisierten Roma-Bewegung in Spanien zu beschreiben, ohne auf die wichtige Rolle der evangelikalen Kirchen (vornehmlich der Philadelphia-Pfingstlerkirche) einzugehen, die zur selben Zeit aufkamen. Die erste evangelikale Roma-Kirche wurde 1968 im katalanischen Balaguer gegründet, und in der Folgezeit breiteten sich evangelikale Gemeinden rasch über ganz Spanien aus.14

Zu den führenden Köpfen bei diesem Prozess zählte Emiliano Jiménez Escudero, der in Frankreich zum evangelikalen Christentum konvertiert war und 1966 in Spanien zu predigen begann. Heute gibt es im ganzen Land über 1.300 evangelikale Roma-Kirchen und mehr als 6.500 evangelikale Roma-Pastor_innen.15 Diese Kirchen sind von unten entstanden, vor allem in marginalisierten Roma-Vierteln, und verbanden ihr missionarisches Anliegen mit handfester Gemeindearbeit. Damit spielten sie eine wesentliche Rolle beim Prozess der Revitalisierung der Roma-Gemeinschaften in ganz Spanien.

Mit der Zeit wurden zahlreiche religiöse Vereine auf lokaler Ebene gegründet – teils unter dem Dach der Roma-Kirchen, teils unabhängig von ihnen –, um die Roma-Gemeinden zu repräsentieren, auf öffentliche Mittel zur Förderung ihrer sozialen und kulturellen Aktivitäten zugreifen zu können und politischen Einfluss zu nehmen.

Seit 2001 begannen die Föderation der christlichen Kulturvereine in Andalusien (FACCA) und in Katalonien die FACCAT (später umbenannt in Agape), definiert als »pastoraler Arm« der evangelikalen Kirchen, die evangelikale Roma-Vereinsbewegung zu bündeln. Gerade die FACCA wurde, als Mitglied des Staatlichen Rats für die Rom_nja und des Plataforma Khetane, zur wichtigen Akteurin, was die Interessen der Rom_nja betraf. Das Gedeihen der evangelikalen Roma-Kirchen und -Vereine ist nicht zuletzt ein Resultat der ausgedehnten unabhängigen Netzwerke, durch die sie operieren und die ihnen den Austausch von Informationen, Wissen und Ideen erleichtern.

Die Roma-Bewegung heute

Die Zahl der Roma-Organisationen in Spanien ist heute schwer zu schätzen. Verlässliche Daten gibt es nicht, doch es besteht kein Zweifel daran, dass die Roma-Vereinsbewegung in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen ist.16 Dabei wurde der Bedarf an einer übergeordneten, unabhängigen Instanz, die in der Lage wäre, regionale Strukturen auf nationaler Ebene zu konsolidieren, immer deutlicher. Eine solche Organisation wurde im September 2012 ns Leben gerufen: das Plataforma Khetane, als gemeinsame Gründung regionaler Föderationen und Verbände. Es setzt sich derzeit aus 14 Mitgliedsorganisationen zusammen, repräsentiert aber in seinen föderalen Strukturen nach eigenen Angaben 110 Roma-Verbände in ganz Spanien.

Trotz aller Schwierigkeiten hinsichtlich politischer Einflussmöglichkeiten, Abhängigkeit vom Staat und begrenzter interner Gestaltungsräume entwickelt sich die organisierte Roma-Bewegung kontinuierlich weiter. In der Vergangenheit entstand die überwiegende Mehrzahl der Vereine und Verbände als »Stimmen der Gemeinschaft« ohne klare Agenda oder spezifisches Profil, eher aus dem allgemeinen Wunsch heraus, eine institutionelle Repräsentanz für lokale Roma-Gemeinschaften zu schaffen.

In jüngerer Zeit jedoch sind neue Arten von Roma-Organisationen hervorgetreten – spezialisierter und mit klarer umrissenen Zielen. Zum einen gibt es thematisch fokussierte Organisationen (etwa zum Schutz der Rechte von Straßenhändler_innen), zum anderen dezidiert politische (etwa die Aktionsplattform POLITIRROM, 2017 in Barcelona gegründet, oder Kale Amenge, ebenfalls 2017 angetreten, um die spanische Anti-Roma-Politik aus sechs Jahrhunderten aufzuarbeiten) – oder auch LGBTQI-Initiativen der Rom_nja, wie Ververipen.

Die Roma-Frauenorganisationen blühen und diversifizieren sich. Mittlerweile decken sie ein Spektrum von eher konservativ bis radikal-progressiv ab (etwa die Feministas Gitanas por la Diversidad). Gerade junge Rom_nja, vielfach mit Universitätsabschlüssen, spielen eine immer aktivere Rolle in der organisierten Roma-Bewegung.

Die internationalen Bande von Zusammenarbeit und wechselseitiger Unterstützung zwischen spanischen und ausländischen Roma-Organisationen sind stärker denn je.

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