Roma-Bewegung und Parteipolitik
In Spanien gelten ethnopolitische Parteien nicht als gangbare Strategie, um die Interessen von Minderheiten zu repräsentieren. Nach gegenwärtiger Gesetzeslage wären die Wahlchancen einer Roma-Partei sehr gering. Dennoch hat es in der Vergangenheit ethnisch basierte Parteigründungen der spanischen Rom_nja gegeben. Die Partido Nacionalista Caló (PNCA) wurde 1999 als politische Partei von nationaler Reichweite von Mariano Fernández gegründet. Bei den spanischen Parlamentswahlen 2000 und 2004 sowie bei den Kommunalwahlen 2007 und 2011 trat sie jeweils ohne Erfolg an. Eine weitere Roma-Partei, Partido Alianza Romaní (ARO), 2004 von Agustín Vega in Badajoz ins Leben gerufen, war ebenfalls auf nationaler Ebene aktiv.
Eine andere Strategie, die Interessen der Rom_nja politisch zu vertreten, setzt auf die Mainstream-Parteien, genauer gesagt auf Roma-Politiker_innen, die sich in diesen engagieren. Allerdings beschritten auch diesen Weg nur wenige. Es wird geschätzt, dass zwischen 1978 und 2003 insgesamt 40 Rom_nja in Spanien bei politischen Wahlen kandidierten, davon zwei bei Regionalwahlen, einer auf nationaler Ebene und die restlichen bei Kommunalwahlen. Nur eine Handvoll der Kandidat_innen trat erfolgreich an, und dies ausschließlich in kleineren Gemeinden.
2011 zog Silvia Heredia Martín für die konservative Partei Partido Popular (PP) als zweite Roma-Politikerin ins nationale Abgeordnetenhaus ein; sie hatte ihren Parlamentssitz bis 2015 inne und wurde 2016 erneut gewählt. Nur zwei weitere Roma-Kandidat_innen wurden in regionale Parlamente gewählt: Manuel Bustamante (PP) in Valencia (1999, 2003, 2007 und 2013) und Francisco Saavedra (PSOE) in Extremadura (2003 und 2007). Derzeit verbleibt nur Silvia Heredia Martín im Amt, es gibt keine weiteren Roma-Abgeordnete in den regionalen und nationalen Parlamenten Spaniens. Größere Erfolgschancen bieten sich ihnen bei Kommunalwahlen.
Der Wandel in der politischen Landschaft hat in den letzten Jahren auch für Roma-Kandidat_innen neue Möglichkeiten eröffnet – vor allem der Aufstieg von Gruppierungen wie Podemos oder kleinen lokalen Bündnissen, die das spanische Zwei-Parteien-System aufmischen. Bei den Kommunalwahlen 2015 traten mindestens 61 Rom_nja an, 26 von ihnen als Kandidat_innen neu gegründeter Parteien. Zehn der Kandidat_innen waren erfolgreich, davon sechs auf den Wahllisten von Parteien, die aus Bürgerbewegungen hervorgegangen sind.
Die Roma-Frauenbewegung
So wie im übrigen Europa ist auch in Spanien die Perspektive der Romnija nicht gesondert in die feministische Agenda aufgenommen worden, während zugleich die männlich dominierten Roma-Verbände es am nötigen Raum für Dialog, Engagement und Mitarbeit der Roma-Frauen fehlen ließen.
Aus diesem Grund haben die spanischen Romnija schrittweise begonnen, ihre eigene Bewegung aufzubauen, um ihre speziellen Bedürfnisse zur Geltung zu bringen und einen Schutzraum für Empowerment und Selbstorganisation zu schaffen. Zwar waren Romnija schon seit den 70er Jahren in Roma-Vereinen und anderen Sphären des bürgerschaftlichen und politischen Lebens aktiv gewesen, doch erst 1989 wurde der erste Roma-Frauenverein in Spanien gegründet – die Asociación de Mujeres Gitanas Romi in Granada, mit María Dolores Fernández Fernández als Präsidentin.
Ab 1991 richtete Romi jährliche Seminare in Granada aus, die eine große Zahl weiblicher und männlicher Rom_nja zusammenführten, um gemeinsam auf die Ermächtigung von Roma-Frauen hinzuarbeiten. Eine Folge dieser Treffen war die Schaffung weiterer Roma-Frauenorganisationen in ganz Spanien. So ist die Roma-Frauenbewegung seit den 1990ern überall im Land angewachsen. Heute existieren in allen autonomen Gemeinschaften Spaniens Roma-Frauenorganisationen, mit zahlreichen Föderationen und Netzwerken.
Das Aufkommen von Roma-Frauenorganisationen in Spanien und ihre dynamische Entwicklung waren etwas Neuartiges. Die ersten dieser Romnija-Verbände leisteten Pionierarbeit auch auf europäischer Ebene. Kamira, 1999 als erste nationale Föderation der Roma-Frauenorganisationen in Spanien gegründet, zählte zugleich zu den ersten derartigen Dachverbänden in ganz Europa.
Der Aktivismus der Romnija in Spanien wurde zur Inspiration für die aufkeimende Roma-Frauenbewegung in anderen Ländern. So legte beim Ersten Roma-Kongress der Europäischen Union 1994 in Sevilla eine Gruppe von 29 Romnija aus sieben Ländern, angeführt von Jovhana Bourguignon, Mary Moriarty und Carmen Carillo, ein gemeinsames Schlusswort zur den speziellen Problemen der Roma-Frauen und zu möglichen Lösungen vor.
Auch richteten spanische Romnija- und Pro-Romnija-Organisationen eine ganze Reihe wichtiger Veranstaltungen aus, die für Romnija aus ganz Europa Räume zum Erfahrungsaustausch und für die Zusammenarbeit boten. 2010 organisierte der Verein Drom Kotar Mestipen den 1. Internationalen Romnija-Kongress in Barcelona, der mehr als 300 Teilnehmerinnen zusammenbrachte. 2011 fand in Granada die Dritte internationale Roma-Frauenkonferenz und der Erste Weltkongress der Roma-Frauen statt.
Was die Sichtbarkeit betrifft, erobern die Romnija bedeutende Räume in der politischen Repräsentation von Rom_nja in Spanien. 2017 wurde Beatriz Carrillo de los Reyes, damalige Präsidentin der Romnija-Föderation FAKALI, als erste Romni zur Vizepräsidentin des Staatlichen Rates für die Rom_nja gewählt. Beim Städischen Roma-Rat in Barcelona hatten zuletzt zwei Frauen hintereinander den Vorsitz inne, Juana Fernández Córtez und María Rubio.
»Der Kult«: Die Bedeutung der evangelikalen Roma-Kirchen
Es ist unmöglich, die Entwicklung der organisierten Roma-Bewegung in Spanien zu beschreiben, ohne auf die wichtige Rolle der evangelikalen Kirchen (vornehmlich der Philadelphia-Pfingstlerkirche) einzugehen, die zur selben Zeit aufkamen. Die erste evangelikale Roma-Kirche wurde 1968 im katalanischen Balaguer gegründet, und in der Folgezeit breiteten sich evangelikale Gemeinden rasch über ganz Spanien aus.
Zu den führenden Köpfen bei diesem Prozess zählte Emiliano Jiménez Escudero, der in Frankreich zum evangelikalen Christentum konvertiert war und 1966 in Spanien zu predigen begann. Heute gibt es im ganzen Land über 1.300 evangelikale Roma-Kirchen und mehr als 6.500 evangelikale Roma-Pastor_innen.15 Diese Kirchen sind von unten entstanden, vor allem in marginalisierten Roma-Vierteln, und verbanden ihr missionarisches Anliegen mit handfester Gemeindearbeit. Damit spielten sie eine wesentliche Rolle beim Prozess der Revitalisierung der Roma-Gemeinschaften in ganz Spanien.
Mit der Zeit wurden zahlreiche religiöse Vereine auf lokaler Ebene gegründet – teils unter dem Dach der Roma-Kirchen, teils unabhängig von ihnen –, um die Roma-Gemeinden zu repräsentieren, auf öffentliche Mittel zur Förderung ihrer sozialen und kulturellen Aktivitäten zugreifen zu können und politischen Einfluss zu nehmen.
Seit 2001 begannen die Föderation der christlichen Kulturvereine in Andalusien (FACCA) und in Katalonien die FACCAT (später umbenannt in Agape), definiert als »pastoraler Arm« der evangelikalen Kirchen, die evangelikale Roma-Vereinsbewegung zu bündeln. Gerade die FACCA wurde, als Mitglied des Staatlichen Rats für die Rom_nja und des Plataforma Khetane, zur wichtigen Akteurin, was die Interessen der Rom_nja betraf. Das Gedeihen der evangelikalen Roma-Kirchen und -Vereine ist nicht zuletzt ein Resultat der ausgedehnten unabhängigen Netzwerke, durch die sie operieren und die ihnen den Austausch von Informationen, Wissen und Ideen erleichtern.
Die Roma-Bewegung heute
Die Zahl der Roma-Organisationen in Spanien ist heute schwer zu schätzen. Verlässliche Daten gibt es nicht, doch es besteht kein Zweifel daran, dass die Roma-Vereinsbewegung in den letzten Jahrzehnten exponentiell gewachsen ist. Dabei wurde der Bedarf an einer übergeordneten, unabhängigen Instanz, die in der Lage wäre, regionale Strukturen auf nationaler Ebene zu konsolidieren, immer deutlicher. Eine solche Organisation wurde im September 2012 ns Leben gerufen: das Plataforma Khetane, als gemeinsame Gründung regionaler Föderationen und Verbände. Es setzt sich derzeit aus 14 Mitgliedsorganisationen zusammen, repräsentiert aber in seinen föderalen Strukturen nach eigenen Angaben 110 Roma-Verbände in ganz Spanien.
Trotz aller Schwierigkeiten hinsichtlich politischer Einflussmöglichkeiten, Abhängigkeit vom Staat und begrenzter interner Gestaltungsräume entwickelt sich die organisierte Roma-Bewegung kontinuierlich weiter. In der Vergangenheit entstand die überwiegende Mehrzahl der Vereine und Verbände als »Stimmen der Gemeinschaft« ohne klare Agenda oder spezifisches Profil, eher aus dem allgemeinen Wunsch heraus, eine institutionelle Repräsentanz für lokale Roma-Gemeinschaften zu schaffen.
In jüngerer Zeit jedoch sind neue Arten von Roma-Organisationen hervorgetreten – spezialisierter und mit klarer umrissenen Zielen. Zum einen gibt es thematisch fokussierte Organisationen (etwa zum Schutz der Rechte von Straßenhändler_innen), zum anderen dezidiert politische (etwa die Aktionsplattform POLITIRROM, 2017 in Barcelona gegründet, oder Kale Amenge, ebenfalls 2017 angetreten, um die spanische Anti-Roma-Politik aus sechs Jahrhunderten aufzuarbeiten) – oder auch LGBTQI-Initiativen der Rom_nja, wie Ververipen.
Die Roma-Frauenorganisationen blühen und diversifizieren sich. Mittlerweile decken sie ein Spektrum von eher konservativ bis radikal-progressiv ab (etwa die Feministas Gitanas por la Diversidad). Gerade junge Rom_nja, vielfach mit Universitätsabschlüssen, spielen eine immer aktivere Rolle in der organisierten Roma-Bewegung.
Die internationalen Bande von Zusammenarbeit und wechselseitiger Unterstützung zwischen spanischen und ausländischen Roma-Organisationen sind stärker denn je.