Es war schlichtweg nicht möglich, dass eine größere Menge Menschen ihren Wohnsitz fern von ihrem Geburtsort einnahm, ohne dass sich unter ihnen eine nennenswerte Zahl an Bewaffneten befand, die gut organisiert war und mit den Waffen auch umzugehen verstand.
Die frühen größeren Pilgergruppen im Heiligen Land zum Beispiel waren selten friedfertig. Als Rechtfertigung für ihre Aufrufe zum Kreuzzug diente den Päpsten dann unter anderem die Behauptung, den christlichen Pilger_innen werde der Zutritt ins Heilige Land von den muslimischen Invasoren Judäas und Palästinas verwehrt.
Später kam noch das Argument hinzu, die Kreuzfahrerstaaten würden von den »Sarazenen« (seldschukischen Türken) und den fatimidischen Kalifen bedrängt. Die Kreuzfahrer selbst waren große Armeen westeuropäischer (zumeist fränkischer) Christen, die auf ihrem Weg durch Anatolien, Syrien und Palästina byzantinisch-orthodoxe, jüdische und muslimische Gemeinden plünderten.
In der Levante gründeten sie Kolonialstaaten, die 192 Jahre lang bestanden (1099–1291).
Die späteren Eroberungen durch die europäischen Imperien des 18. Jahrhunderts waren ähnlich dauerhaft.
Indem sie ihr kriegerisches Vorgehen religiös rechtfertigten (der Schlachtruf der Kreuzfahrer war Deus vult!, »Gott will es!«), folgten sie dem Beispiel der antiken Makedonier (Feldzüge Alexanders des Großen gegen das »barbarische« Persien, das »zivilisierte« Griech_innen unterjoche), der imperialen Römer (die Juden/Jüdinnen und Christ_innen verfolgten), der Byzantiner (die gegen monophysitische Armenier_innen, häretische Manichäer_innen und die ursprünglichen »Atsingoi« aus Phrygien vorgingen) und der muslimischen Armeen, die zuvor jahrhundertelang die Region verwüstet hatten.
Diese muslimischen und christlichen Armeen waren imstande, Reiche und Staaten zu gründen, weil sie keine modernen, »professionellen« Armeen waren. Frühmittelalterliche Streitmächte waren »so reich an Menschen wie mittelgroße Städte, sie waren autarke Gesellschaften in Bewegung«.
Sie verfügten über Helfer_innen und Handwerker_innen mit den Fähigkeiten, schnell wehrhafte Siedlungen zu errichten, Waffen herzustellen und zu reparieren, Lager auf- und abzubauen, die Reiterei zu versorgen, Kühe, Ziegen, Schafe, Kamele und Pferde zu hüten, Kleidung und Uniformen anzufertigen und auszubessern, Bier zu brauen und Brot zu backen.
Und auch wenn der Handelsnomadismus in diesem Fall nicht der Migrationsgrund war, besaßen Handelsnomad_innen Fähigkeiten – als Schmied_innen und Schlosser_innen, Teppich- und Stoffhändler_innen, Pferdehändler_innen und -pflegerinnen, Tierärzt_innen, Musiker_innen und Unterhalter_innen, Tänzer_innen, Schuster_innen und Schneider_innen, Weber_innen und Filzer_innen, Kammmacher_innen und Tischler_innen –, die für mittelalterliche Armeen unabdingbar waren, aber nicht unbedingt in den Kompetenzbereich der kämpfenden Einheiten fielen.
Und sie alle, Soldaten und Gewerbetreibende, brauchten ihre Familien, um zu kochen, zu waschen, zu pflegen, zu hamstern, die Lasten zu tragen und um sich wohlfühlen zu können.
Falls nun ein Truppenkontingent aus dem Indusgebiet teilhatte an den militärischen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Staaten vor der osmanischen Eroberung Anatoliens und Rumeliens, so ist es wahrscheinlich, dass Angehörige der diversen handelsnomadischen Kasten, die bei den Banjara/Gor und anderen Ethnien des indischen Subkontinents bis heute existieren, mit dieser Armee zogen und ihre Gewerbe auch noch weiter ausübten, als das Truppenkontingent nicht mehr eigenständig aktiv war.
Ihre handwerklichen Fertigkeiten könnte die anhaltende technologische Überlegenheit der frühen Osman_innen gegenüber den europäischen Rival_innen beispielsweise in der Herstellung von Kanonenbronze begünstigt haben.
Und so ließe sich auch erklären, warum – obgleich die frühen Roma und Sinti nur minderheitlich Handelsnomad_innen waren – Sinti und Roma diese ökonomische Nische vielerorts dominierten, nachdem die Anfänge des nationalstaatlichen Kapitalismus die Dämonisierung von »Landstreicher_innen« mit sich gebracht und westeuropäische Staaten genozidale Gesetze gegen die »Zigeuner« erlassen hatten.
Die speziellen Fähigkeiten und die Lebenskultur nomadischer Gruppen können fortbestehen und weiterhin Anwendung finden, auch wenn die unmittelbaren ökonomischen Auslöser wegfallen.
Schauen wir etwa auf den Nomadismus der Reichen und Mächtigen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, so sehen wir Familien wie die Subkaste des Murdoch-Mediengeflechts oder die Subkaste des Trump-Immobilienkonglomerats, bei denen der Wohnnomadismus eine – wenn auch sehr geschätzte – ökonomische Notwendigkeit ist, damit die Familienmitglieder ihr Wirtschaftsimperium unter Kontrolle behalten können.
Für die britische Königsfamilie hingegen ist der mittelalterliche Imperativ, fortwährend durch ihr Reich zu reisen, um ihre Herrschaft zu festigen und ihren wichtigsten Landbesitzer_innen und Adligen Überschüsse abzuknöpfen, ein Ding der fernen Vergangenheit.
Dennoch verbleibt der Nomadismus als kultureller Restwert: Die regelmäßige Runde der Windsors durch ihre diversen Schlösser und Anwesen ist möglicherweise ausgiebiger als bei ihren feudalen Vorläufer_innen.
Ähnlich finden sich bei einer Minderheit unter den Sinti und Roma noch heute sowohl solche, die diskontinuierlichen ökonomischen Gelegenheiten nachjagen, als auch solche, deren nomadische Kultur wie bei der Königin von England, Schottland und Nordirland als Restbestand fortlebt.
Und so sehen wir, wie eine mittelalterliche Migration aus Indien und die komplexe Rolle eines handelsnomadischen Kulturerbes an der Wurzel einer ethnischen Identität gestanden haben könnten: einer Identität, entwickelt von jenen, die im 11. Jahrhundert die Romani-Sprache konsolidierten, und die, anders als die meisten europäischen ethnischen Identitäten der Neuzeit, nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden war.
Als die Osmanen nach 1453 ihre Macht festigten, wurden die militärischen Fähigkeiten von Roma-Sprechern weitgehend überflüssig (in den osmanischen Armeen traten sie noch als Musiker der Mehter, der Militärkapellen, in Erscheinung), da die rentablen Gewerben nachgehenden Roma-Subkasten andere Schutzherren fanden, Geschäfte und Zünfte gründeten oder Staatsbedienstete im Osmanischen Reich wurden.
In anderen Gebieten wurden sie versklavt – so in den christlichen Fürstentümern der Walachei, Moldawiens und auf den klösterlichen Besitztümern im serbischen Gebiet. Anders als in den muslimischen Kernländern des Osmanischen Reichs, wo auch der Sklavenstatus mit gewissen Rechten einherging, waren die Sklav_innen in den christlichen Randbereichen des Imperiums völlig rechtlos.
Aus diesen kriegszerrütteten Randzonen strebten Überreste einer militärisch organisierten Roma-Gemeinschaft Anfang des 15. Jahrhunderts ins westlichere Europa, um der Versklavung durch christliche Fürst_innen zu entgehen, der immer weitere Teile der Landbevölkerung zum Opfer fielen.
Teils präsentierten sie sich oder galten als Flüchtlinge vor den osmanischen Eroberungsfeldzügen, und ihre Anführer suchten das Bündnis mit örtlichen Feudalherren, von denen sie Hilfe gegen drohende Meuterei unter ihren Anhänger_innen erbaten.
In vielen anderen Fällen wurden die umherziehenden Sinti und Roma – in den Quellen meist »Zigeuner« genannt – mit großem Misstrauen behandelt, als Spion_innen, Deserteuren und unerwünschte Vagabund_innen.
Zeitgenössische westliche Beobachter_innen beschrieben eine strenge soziale Hierarchie in diesen Gruppen, was in krassem Gegensatz zu den Darstellungen seit dem 17. Jahrhundert steht. Von vereinzelten Spannungen abgesehen, war diese Migrationsstrategie im letzten, stürmischen Jahrhundert des christlichen Mittelalters relativ erfolgreich.
Sie scheiterte jedoch katastrophal, sobald der Nationalstaat, der Agrarkapitalismus und der Aufstieg des Bürgertums als politische Macht im 16. Jahrhundert die soziale Ordnung in Europa revolutionierten.
Fremdenfeindlichkeit wurde zum gesellschaftlichen Kitt, der die konkurrierenden Königreiche innerlich zusammenhielt. Alle ethnischen Minderheiten in Europa – Rom_nja, Sinti_ze, Juden/Jüdinnen, Araber_innen und Afrikaner_innen – erlitten Verfolgung, oftmals begründet mit religiöser Differenz.
Die etablierten Roma-Anführeren in Westeuropa wurden entweder getötet oder flohen zurück ins Osmanische Reich, während ihre Anhänger_innen versuchten, die genozidalen Maßnahmen zu überleben.
Im Osmanischen Reich und in Polen blieben die Rom_nja weiterhin als organisierte, steuerpflichtige Gemeinschaften anerkannt; anderswo wurden sie großenteils versklavt. Mancherorts versuchten nonkonformistische Minderheiten die ursprünglichen Werte des Christentums hochzuhalten – das institutionalisierte Christentum jedoch, als Staatsreligion, wurde zum Hauptverfechter von religiöser Verfolgung, Krieg und nationaler Aggression.
Im Europa der Nationalstaaten zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert beschränkte sich die Migration innerhalb Europas auf religiöse Flüchtlinge, wie die Hugenott_innen und einige politische Exilant_innen.
Zugleich richtete sich die ökonomisch bedingte europäische Migration nach außen – nach Asien, Afrika, Nord- und Südamerika und schließlich Australien. Es folgte die handelsmäßige Erschließung – zunächst durch Kolonist_innen, die aus religiösen Gründen geflüchtet waren, später durch militärischen Imperialismus.
Im Zuge dieser europäischen Migrationen des 17. und 18. Jahrhunderts wanderten auch Sinti und Roma nach Amerika und Australien aus. Einige von ihnen bildeten auf diesen Kontinenten dann wiederum erste Roma-Gemeinschaften, die trotz ihrer geringen Größe von erheblichem historischem Interesse sind.
Erst im 19. Jahrhundert jedoch wurde die massenhafte Migration erneut zum prägenden Faktor für den Wandel der Ökonomie und Identität von Roma-Gemeinschaften.
Der technologische Ursprung der ökonomischen Umwälzungen, die nicht nur die Situation der Sinti und Roma, sondern die ganze Weltlage einschneidend veränderten, war die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert. Zum einen lieferte sie die Energie für die Fabriken, die zur Verstädterung Europas führten und einen seit 250 Jahren anhaltenden Prozess der Landflucht auslösten.
Auch diente die Dampfmaschine zum Antrieb von Schiffen, die billige Agrargüter aus Amerika nach Europa bringen konnten. Dies bedeutete nicht nur das Ende für den ländlichen Handelsnomadismus, von dem westeuropäische Roma-Gemeinschaften gelebt hatten, sondern entzog auch der auf Sklaverei und Knechtschaft fußenden Wirtschaft Rumäniens – ähnlich wie jener der US-Südstaaten – die Grundlage.
Dieser ökonomische Wandel führte zu einer massiven Migration westwärts – vom östlichen ins westliche Europa und von Westeuropa nach Amerika und in die Kolonialgebiete Europas.
Wenngleich nur die britischen, spanischen, portugiesischen, deutschen, französischen, italienischen und niederländischen Gemeinschaften Kolonialstaaten gründeten, konnten noch Dutzende weitere europäische Nationalitäten etwa in den USA Gemeinschaften etablieren, die sich als »Weiße« den Ureinwohner_innen Amerikas überlegen wähnten und versklavte oder völlig abhängige Arbeiter_innen aus Afrika und Asien ins Land brachten.
So wie in Europa waren auch in Amerika die jüdischen und die Roma-Gemeinschaften uneindeutige, nur zweifelhaft rationalisierte Ausnahmen von den binär-rassistischen Unterscheidungen des imperialistischen Zeitalters. Sie standen zwischen »schwarz« und »weiß« – einer Dichotomie, die konzeptuell unangefochten blieb, bis Richard Henry Pratt 1902 den Begriff »Rassismus« prägte.
In Europa brachte die Überlagerung der Siedlungsmuster aus dem 16. Jahrhundert mit den Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts ein »Mosaik« der verschiedenen Roma-Gemeinschaften hervor. Diese wissen voneinander und sind an ihren Gemeinsamkeiten interessiert, fühlen sich aber nicht zwangsläufig solidarisch verbunden – außer als Reaktion auf den in Europa verbreiteten rassistischen Nationalismus.
Allerdings wächst unter den Sinti und Roma ein Bewusstsein dafür, dass ihre Geschichte mehr sein muss als das, was die Gadje dafür halten.
Dieses Mosaik wurde in Nord- und Südamerika reproduziert, denn Sinti und Roma aus allen Gemeinschaften suchten dort ein neues Leben. Zwischen 1870 und 1914 vollzog sich eine massive Auswanderungsbewegung britischer Romanichal nach Nordamerika, wie Silvanus Lovell bereits 1880 beobachtete. Übertroffen wurde ihre Zahl jedoch von den Vlach-Rom_nja, und auch Manouche, Kalé, Chorachane und noch weitere Gemeinschaften etablierten ihre Pendants in Amerika.