Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

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Thomas Acton

Migration und die Sinti und Roma

Migration lässt sich definieren als dauerhafte Verlegung des menschlichen Wohnsitzes von einem Ort an einen anderen.

Ob es sich um eine proaktive Bewegung handelt, auf der Suche nach Beute, Handelsbeziehungen, neuem Land oder neuer Arbeit, oder aber um eine reaktive Flucht vor Armut oder militärischer Bedrohung: Immer durchbricht sie traditionelle Strukturen bürgerschaftlicher und politischer Rechte und erzwingt eine Neuausrichtung, eine Neuverhandlung der Grundsätze des menschlichen Status im jeweiligen Gebiet.

Darin unterscheidet sich die Migration vom Nomadismus, einer wiederkehrenden Verlegung des Wohnsitzes entsprechend ökonomischer Möglichkeiten, die diskontinuierlich in Raum und Zeit sind. Sowohl Migration als auch Nomadismus sind vom Ansatz her ökonomische Phänomene, haben aber kulturelle Konsequenzen.1

Bei den drei Hauptformen des Nomadismus – als Jäger_innen und Sammler_innen, als Hirt_innen und als Händler_innen – sind diese kulturellen Auswirkungen allerdings recht unterschiedlich. So entwickeln Hirtennomad_innen Fähigkeiten, die sich auch militärisch nutzen lassen, zudem haben sie in der feudalistischen Epoche und in der frühen Neuzeit oft bedeutende Staaten oder Konföderationen gebildet.

Handelsnomad_innen hingegen, die in den Städten gefertigte Waren oder auch Dienste auf dem Land anboten oder aber in den Städten spezialisierte ökonomische Nischen besetzten, reisten in kleinen, verwundbaren Gruppen und konnten in der Feudal- und Frühneuzeit nur existieren, wenn sie starke, bewaffnete Schutzherr_innen hatten (so wie die Bedu und Nawar oder Halebi).2

Die herkömmliche postfeudale Geschichtsschreibung in Europa allgemein und die Roma-Forschung (oder »Zigeunerkunde«) speziell haben all diese Konzepte vermengt. Sie modellierten ihre historische Deutung anhand der aufstrebenden Naturwissenschaften und neigten dazu, sowohl Migration als auch Nomadismus als rassisch bedingte Kulturformen zu betrachten.3

Auch projizierten die »Zigeunerkundler« eher moderne Konzepte zurück auf feudalistische Gesellschaften – etwa die relative Freiheit von körperlichem Zwang, die der kapitalistische Staat nicht nur seinen Bürger_innen gewährleistet, sondern auch manchen Ausländer_innen zugesteht.4

Diese Verwirrung prägte seit dem 17. Jahrhundert die von europäischen Akademiker_innen vorgenommene Theoretisierung der Roma-Geschichte. Die Erinnerung an die Genozide an Sinti und Roma im Westeuropa des 16. Jahrhunderts wurde dabei unter den Teppich gekehrt.

In der Folge wurde – den im 17. und 18. Jahrhundert vorherrschenden Haltungen zur »Landstreicherei« gemäß und später auch unter dem Einfluss des von Grellmann (1783)5 ingeführten rassistischen Paradigmas – der Nomadismus als kultureller oder »rassischer« Wesenszug betrachtet und galt als hinreichende Erklärung dafür, dass sich Sinti und Roma vom »Osten« her auf »Wanderschaft« begeben hatten.

Die Vorherrschaft der orientalistischen Ideologie6 erlaubte es, diese rassistische Charakterisierung auch auf die weitgehend sesshaften Roma-Gemeinschaften Südosteuropas – damals Teil des Osmanischen Reichs – zu übertragen.7

Als schließlich Historiker_innen aus den Reihen der Sinti und Roma selbst hervortraten, um die These von der »primitiven nomadischen Wanderung« infrage zu stellen, und dagegenhielten, die anhand linguistischer und historischer Indizien8 wahrscheinliche Migration aus Indien könnte durch Militäraktionen des muslimischen Ghaznawiden-Reichs (997–1040) ausgelöst worden sein, wurden sie als Fantast_innen verunglimpft, die danach strebten, ihre Herkunft durch eine erfundene kriegerische Vorgeschichte aufzuwerten.9

Wir können jedoch mit einiger Sicherheit annehmen, dass die um das Jahr 1000 einsetzende Migration der Vorfahren der Sinti und Roma aus Indien in der Tat militärischen Charakter hatte – denn alle Migrationsbewegungen in jener feudalistischen Epoche Eurasiens waren militärisch geprägt.

Ioana Constantinescu | Interview Jeremy Harte with Grattopn Puxon | Non Fiction | 2017 | rom_30048 Rights held by: Ionana Constantinescu / Thomas Acton | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive

Es war schlichtweg nicht möglich, dass eine größere Menge Menschen ihren Wohnsitz fern von ihrem Geburtsort einnahm, ohne dass sich unter ihnen eine nennenswerte Zahl an Bewaffneten befand, die gut organisiert war und mit den Waffen auch umzugehen verstand.

Die frühen größeren Pilgergruppen im Heiligen Land zum Beispiel waren selten friedfertig. Als Rechtfertigung für ihre Aufrufe zum Kreuzzug diente den Päpsten dann unter anderem die Behauptung, den christlichen Pilger_innen werde der Zutritt ins Heilige Land von den muslimischen Invasoren Judäas und Palästinas verwehrt.

Später kam noch das Argument hinzu, die Kreuzfahrerstaaten würden von den »Sarazenen« (seldschukischen Türken) und den fatimidischen Kalifen bedrängt.10 Die Kreuzfahrer selbst waren große Armeen westeuropäischer (zumeist fränkischer) Christen, die auf ihrem Weg durch Anatolien, Syrien und Palästina byzantinisch-orthodoxe, jüdische und muslimische Gemeinden plünderten.

In der Levante gründeten sie Kolonialstaaten, die 192 Jahre lang bestanden (1099–1291).

Die späteren Eroberungen durch die europäischen Imperien des 18. Jahrhunderts waren ähnlich dauerhaft.

Indem sie ihr kriegerisches Vorgehen religiös rechtfertigten (der Schlachtruf der Kreuzfahrer war Deus vult!, »Gott will es!«), folgten sie dem Beispiel der antiken Makedonier (Feldzüge Alexanders des Großen gegen das »barbarische« Persien, das »zivilisierte« Griech_innen unterjoche), der imperialen Römer (die Juden/Jüdinnen und Christ_innen verfolgten), der Byzantiner (die gegen monophysitische Armenier_innen, häretische Manichäer_innen und die ursprünglichen »Atsingoi« aus Phrygien vorgingen) und der muslimischen Armeen, die zuvor jahrhundertelang die Region verwüstet hatten.

Diese muslimischen und christlichen Armeen waren imstande, Reiche und Staaten zu gründen, weil sie keine modernen, »professionellen« Armeen waren. Frühmittelalterliche Streitmächte waren »so reich an Menschen wie mittelgroße Städte, sie waren autarke Gesellschaften in Bewegung«.11

Sie verfügten über Helfer_innen und Handwerker_innen mit den Fähigkeiten, schnell wehrhafte Siedlungen zu errichten, Waffen herzustellen und zu reparieren, Lager auf- und abzubauen, die Reiterei zu versorgen, Kühe, Ziegen, Schafe, Kamele und Pferde zu hüten, Kleidung und Uniformen anzufertigen und auszubessern, Bier zu brauen und Brot zu backen.

Und auch wenn der Handelsnomadismus in diesem Fall nicht der Migrationsgrund war, besaßen Handelsnomad_innen Fähigkeiten – als Schmied_innen und Schlosser_innen, Teppich- und Stoffhändler_innen, Pferdehändler_innen und -pflegerinnen, Tierärzt_innen, Musiker_innen und Unterhalter_innen, Tänzer_innen, Schuster_innen und Schneider_innen, Weber_innen und Filzer_innen, Kammmacher_innen und Tischler_innen –, die für mittelalterliche Armeen unabdingbar waren, aber nicht unbedingt in den Kompetenzbereich der kämpfenden Einheiten fielen.

Und sie alle, Soldaten und Gewerbetreibende, brauchten ihre Familien, um zu kochen, zu waschen, zu pflegen, zu hamstern, die Lasten zu tragen und um sich wohlfühlen zu können.

Falls nun ein Truppenkontingent aus dem Indusgebiet teilhatte an den militärischen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Staaten vor der osmanischen Eroberung Anatoliens und Rumeliens, so ist es wahrscheinlich, dass Angehörige der diversen handelsnomadischen Kasten, die bei den Banjara/Gor und anderen Ethnien des indischen Subkontinents bis heute existieren, mit dieser Armee zogen und ihre Gewerbe auch noch weiter ausübten, als das Truppenkontingent nicht mehr eigenständig aktiv war.

Ihre handwerklichen Fertigkeiten könnte die anhaltende technologische Überlegenheit der frühen Osman_innen gegenüber den europäischen Rival_innen beispielsweise in der Herstellung von Kanonenbronze begünstigt haben.

Und so ließe sich auch erklären, warum – obgleich die frühen Roma und Sinti nur minderheitlich Handelsnomad_innen waren – Sinti und Roma diese ökonomische Nische vielerorts dominierten, nachdem die Anfänge des nationalstaatlichen Kapitalismus die Dämonisierung von »Landstreicher_innen« mit sich gebracht und westeuropäische Staaten genozidale Gesetze gegen die »Zigeuner« erlassen hatten.

Die speziellen Fähigkeiten und die Lebenskultur nomadischer Gruppen können fortbestehen und weiterhin Anwendung finden, auch wenn die unmittelbaren ökonomischen Auslöser wegfallen.

Schauen wir etwa auf den Nomadismus der Reichen und Mächtigen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, so sehen wir Familien wie die Subkaste des Murdoch-Mediengeflechts oder die Subkaste des Trump-Immobilienkonglomerats, bei denen der Wohnnomadismus eine – wenn auch sehr geschätzte – ökonomische Notwendigkeit ist, damit die Familienmitglieder ihr Wirtschaftsimperium unter Kontrolle behalten können.

Für die britische Königsfamilie hingegen ist der mittelalterliche Imperativ, fortwährend durch ihr Reich zu reisen, um ihre Herrschaft zu festigen und ihren wichtigsten Landbesitzer_innen und Adligen Überschüsse abzuknöpfen, ein Ding der fernen Vergangenheit.

Dennoch verbleibt der Nomadismus als kultureller Restwert: Die regelmäßige Runde der Windsors durch ihre diversen Schlösser und Anwesen ist möglicherweise ausgiebiger als bei ihren feudalen Vorläufer_innen.

Ähnlich finden sich bei einer Minderheit unter den Sinti und Roma noch heute sowohl solche, die diskontinuierlichen ökonomischen Gelegenheiten nachjagen, als auch solche, deren nomadische Kultur wie bei der Königin von England, Schottland und Nordirland als Restbestand fortlebt.

Und so sehen wir, wie eine mittelalterliche Migration aus Indien und die komplexe Rolle eines handelsnomadischen Kulturerbes an der Wurzel einer ethnischen Identität gestanden haben könnten: einer Identität, entwickelt von jenen, die im 11. Jahrhundert die Romani-Sprache konsolidierten, und die, anders als die meisten europäischen ethnischen Identitäten der Neuzeit, nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden war.12

Als die Osmanen nach 1453 ihre Macht festigten, wurden die militärischen Fähigkeiten von Roma-Sprechern weitgehend überflüssig (in den osmanischen Armeen traten sie noch als Musiker der Mehter, der Militärkapellen, in Erscheinung), da die rentablen Gewerben nachgehenden Roma-Subkasten andere Schutzherren fanden, Geschäfte und Zünfte gründeten oder Staatsbedienstete im Osmanischen Reich wurden.13

In anderen Gebieten wurden sie versklavt – so in den christlichen Fürstentümern der Walachei, Moldawiens und auf den klösterlichen Besitztümern im serbischen Gebiet. Anders als in den muslimischen Kernländern des Osmanischen Reichs, wo auch der Sklavenstatus mit gewissen Rechten einherging, waren die Sklav_innen in den christlichen Randbereichen des Imperiums völlig rechtlos.

Aus diesen kriegszerrütteten Randzonen strebten Überreste einer militärisch organisierten Roma-Gemeinschaft Anfang des 15. Jahrhunderts ins westlichere Europa, um der Versklavung durch christliche Fürst_innen zu entgehen, der immer weitere Teile der Landbevölkerung zum Opfer fielen.

Teils präsentierten sie sich oder galten als Flüchtlinge vor den osmanischen Eroberungsfeldzügen, und ihre Anführer suchten das Bündnis mit örtlichen Feudalherren, von denen sie Hilfe gegen drohende Meuterei unter ihren Anhänger_innen erbaten.14

In vielen anderen Fällen wurden die umherziehenden Sinti und Roma – in den Quellen meist »Zigeuner« genannt – mit großem Misstrauen behandelt, als Spion_innen, Deserteuren und unerwünschte Vagabund_innen.15

Zeitgenössische westliche Beobachter_innen beschrieben eine strenge soziale Hierarchie in diesen Gruppen, was in krassem Gegensatz zu den Darstellungen seit dem 17. Jahrhundert steht. Von vereinzelten Spannungen abgesehen, war diese Migrationsstrategie im letzten, stürmischen Jahrhundert des christlichen Mittelalters relativ erfolgreich.

Sie scheiterte jedoch katastrophal, sobald der Nationalstaat, der Agrarkapitalismus und der Aufstieg des Bürgertums als politische Macht im 16. Jahrhundert die soziale Ordnung in Europa revolutionierten.

Fremdenfeindlichkeit wurde zum gesellschaftlichen Kitt, der die konkurrierenden Königreiche innerlich zusammenhielt. Alle ethnischen Minderheiten in Europa – Rom_nja, Sinti_ze, Juden/Jüdinnen, Araber_innen und Afrikaner_innen – erlitten Verfolgung, oftmals begründet mit religiöser Differenz.

Die etablierten Roma-Anführeren in Westeuropa wurden entweder getötet oder flohen zurück ins Osmanische Reich, während ihre Anhänger_innen versuchten, die genozidalen Maßnahmen zu überleben.

Im Osmanischen Reich und in Polen blieben die Rom_nja weiterhin als organisierte, steuerpflichtige Gemeinschaften anerkannt; anderswo wurden sie großenteils versklavt.16 Mancherorts versuchten nonkonformistische Minderheiten die ursprünglichen Werte des Christentums hochzuhalten – das institutionalisierte Christentum jedoch, als Staatsreligion, wurde zum Hauptverfechter von religiöser Verfolgung, Krieg und nationaler Aggression.

Im Europa der Nationalstaaten zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert beschränkte sich die Migration innerhalb Europas auf religiöse Flüchtlinge, wie die Hugenott_innen und einige politische Exilant_innen.

Zugleich richtete sich die ökonomisch bedingte europäische Migration nach außen – nach Asien, Afrika, Nord- und Südamerika und schließlich Australien. Es folgte die handelsmäßige Erschließung – zunächst durch Kolonist_innen, die aus religiösen Gründen geflüchtet waren, später durch militärischen Imperialismus.

Im Zuge dieser europäischen Migrationen des 17. und 18. Jahrhunderts wanderten auch Sinti und Roma nach Amerika und Australien aus. Einige von ihnen bildeten auf diesen Kontinenten dann wiederum erste Roma-Gemeinschaften, die trotz ihrer geringen Größe von erheblichem historischem Interesse sind.

Erst im 19. Jahrhundert jedoch wurde die massenhafte Migration erneut zum prägenden Faktor für den Wandel der Ökonomie und Identität von Roma-Gemeinschaften.

Der technologische Ursprung der ökonomischen Umwälzungen, die nicht nur die Situation der Sinti und Roma, sondern die ganze Weltlage einschneidend veränderten, war die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert. Zum einen lieferte sie die Energie für die Fabriken, die zur Verstädterung Europas führten und einen seit 250 Jahren anhaltenden Prozess der Landflucht auslösten.

Auch diente die Dampfmaschine zum Antrieb von Schiffen, die billige Agrargüter aus Amerika nach Europa bringen konnten. Dies bedeutete nicht nur das Ende für den ländlichen Handelsnomadismus, von dem westeuropäische Roma-Gemeinschaften gelebt hatten, sondern entzog auch der auf Sklaverei und Knechtschaft fußenden Wirtschaft Rumäniens17 – ähnlich wie jener der US-Südstaaten18 – die Grundlage.

Dieser ökonomische Wandel führte zu einer massiven Migration westwärts – vom östlichen ins westliche Europa und von Westeuropa nach Amerika und in die Kolonialgebiete Europas.

Wenngleich nur die britischen, spanischen, portugiesischen, deutschen, französischen, italienischen und niederländischen Gemeinschaften Kolonialstaaten gründeten, konnten noch Dutzende weitere europäische Nationalitäten etwa in den USA Gemeinschaften etablieren, die sich als »Weiße« den Ureinwohner_innen Amerikas überlegen wähnten und versklavte oder völlig abhängige Arbeiter_innen aus Afrika und Asien ins Land brachten.

So wie in Europa waren auch in Amerika die jüdischen und die Roma-Gemeinschaften uneindeutige, nur zweifelhaft rationalisierte Ausnahmen von den binär-rassistischen Unterscheidungen des imperialistischen Zeitalters. Sie standen zwischen »schwarz« und »weiß« – einer Dichotomie, die konzeptuell unangefochten blieb, bis Richard Henry Pratt 1902 den Begriff »Rassismus« prägte.19

In Europa brachte die Überlagerung der Siedlungsmuster aus dem 16. Jahrhundert mit den Migrationsbewegungen des 19. Jahrhunderts ein »Mosaik« der verschiedenen Roma-Gemeinschaften hervor.20 Diese wissen voneinander und sind an ihren Gemeinsamkeiten interessiert, fühlen sich aber nicht zwangsläufig solidarisch verbunden – außer als Reaktion auf den in Europa verbreiteten rassistischen Nationalismus.

Allerdings wächst unter den Sinti und Roma ein Bewusstsein dafür, dass ihre Geschichte mehr sein muss als das, was die Gadje dafür halten.

Dieses Mosaik wurde in Nord- und Südamerika reproduziert, denn Sinti und Roma aus allen Gemeinschaften suchten dort ein neues Leben. Zwischen 1870 und 1914 vollzog sich eine massive Auswanderungsbewegung britischer Romanichal nach Nordamerika, wie Silvanus Lovell bereits 1880 beobachtete.21 Übertroffen wurde ihre Zahl jedoch von den Vlach-Rom_nja, und auch Manouche, Kalé, Chorachane und noch weitere Gemeinschaften etablierten ihre Pendants in Amerika.22

Der Erste Weltkrieg (1914–18) setzte diesem halben Jahrhundert der vergleichsweise einfachen Auswanderung ein Ende. Gleichzeitig jedoch führten die Umbrüche des Krieges zu einigen spezifischen Migrationsbewegungen. Die Russische Revolution (1917) trieb einige Roma-Kapitalist_innen zur Flucht nach China, Schweden, Frankreich und Amerika.

Im Zweiten Weltkrieg (1939–45) siedelten dann manche englischen Rom_nja nach Irland um, und es kam zu einer zweiten Welle der Auswanderung nach Australien und Ozeanien.23

Der Dienst in der US-Armee führte für manche amerikanischen Sinti und Roma zu einer Wiederbegegnung mit ihren europäischen Verwandten, und ebenso wie Sinti und Roma, die in der Roten Armee und in den Streitkräften der europäischen Alliierten dienten, waren diese Soldaten an der Befreiung der Vernichtungs- und Konzentrationslager in den zuvor von den Nationalsozialist_innenbesetzten Gebieten beteiligt.

In der Zeit nach 1945, einhergehend mit einer allgemein wachsenden Ablehnung des rassistischen Denkens, das bis in die 1930er Jahre gängige Meinung gewesen war, entwickelte international eine Anzahl von Sinti und Roma ein Bewusstsein sowohl dafür, dass es Sinti und Roma in aller Welt gab, als auch für das katastrophale Scheitern der Überlebensstrategien von Sinti und Roma vor dem Krieg.

Es ist kein Zufall, dass – neben dem einheimischen Aktivismus, der aus der Erfahrung des Holocaust und der staatlichen Repressionen gegen die nomadische Lebensweise in der Nachkriegszeit hervorging – vor allem Migrant_innen wie die irischen Traveller in England, rumänische Rom_nja in Paris und polnische Lovari in Deutschland Vorreiterrollen in der früher Roma-Bürgerbewegung einnahmen.

Die Aktivitäten des Comité International Tsigane im Vorfeld des Ersten Roma-Weltkongresses 1971 markierten das erste Mal seit 400 Jahren, dass Sinti und Roma zu von ihnen selbst bestimmten politischen Zwecken Staatsgrenzen überschritten.

Auch wenn die Comecon-Staaten – mit Ausnahme Chinas – Emigration aktiv zu verhindern suchten, bestand ein konstanter Abzug von Rom_nja aus dem Ostblock in die westlichen Staaten. Dort profitierten sie damals vom Status als »Flüchtlinge des Kommunismus«, hielten aber weiterhin Kontakt zu anderen Rom_nja in der alten Heimat.

Indessen konnten Mitglieder der Roma-Nomenklatura in der Sowjetunion, die für Fortbildungsmaßnahmen oft nach Moskau reisten, dort ihre Kontakte zu westeuropäischen Roma-Organisationen als eine Möglichkeit für Allianzen mit progressiven Kräften im Westen geltend machen.24

Ioana Constantinescu | Interview with Valdemar Kalinin | 2017 | rom_30049 Rights held by: Ionana Constantinescu / Thomas Acton | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: RomArchive

Die Phase, als osteuropäische Rom_nja im Westen warm empfangen wurden, endete nicht nur rasch nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, sondern selbst die Erinnerung daran wurde aus dem kollektiven historischen Narrativ Europas gestrichen.25

Hunderttausende Rom_nja nutzten die europäischen und amerikanischen Asylgesetze, um dem wiedererstarkten Rassismus und den sehr realen Repressionen in den postkommunistischen Gesellschaften zu entfliehen.

Maßnahmen, ihren Zuzug zu stoppen, und auch die westliche Strategie, nach der Osterweiterung der EU eine Massenmigration zu verhindern, scheiterten kläglich, denn sie basierten auf der phantastischen Fehleinschätzung, die Roma-Migration sei eine Art Verschwörung, organisiert von Schlepper_innen und Schwerkriminellen.26

Roma Support Group | Roma Support Group Membership Card | Mitgliedsausweis | Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland | 12. Juli 2005 | rom_30031 Rights held by: Thomas Acton | Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International | Provided by: Thomas Acton - Private Archive

Am 1. Januar 2002 wurde Rumänien mit dem Schengen-Raum assoziiert, was die Migration zahlreicher Menschen in die EU auslöste, unter ihnen viele ethnische Rom_nja. Oft werden diese Migrant_innen von kriminellen Netzwerken ausgebeutet, die organisierte Bettelei betreiben. Behinderte sind häufig die Hauptakteur_innen und Opfer bei dieser Form des Menschenhandels. Die Verkehrsfreiheit im Schengen-Raum macht es unmöglich, die Zahl der Beteiligten akkurat zu schätzen.27

Internationale Organisation für Migration

Der Glaube, dass die ethnische Demografie der Sinti und Roma besonders unzuverlässig sei, beruht auf der Annahme, dass normalerweise die Zahlen zu ethnischen Zugehörigkeiten präzise seien. Diese Annahme jedoch zählt zu den Überresten eines wissenschaftlichen Rassismus, die die ethnische Demografie allgemein verfälschen und speziell die Demografie der Sinti und Roma völlig untauglich machen.28

Die Analyse der vorliegenden Literatur legt nahe, dass sich zumindest für Großbritannien stimmige kontextualisierte Schätzungen der Zahl von Roma-Migrant_innen anstellen lassen – wenn Ethnizität, so wie Wahlabsichten bei politischen Umfragen, als nicht-parametrische Variable behandelt wird.

Untersuchen wir die Kontexte, in denen die Befragten sich oder andere als Roma/Sinti identifizieren sollen, so können wir verschiedene Umstände ausarbeiten, unter denen sich Zahlen zwischen 110.000 und 500.000 Roma-Migrant_innen in Großbritannien ergeben.

Das ist nicht unpräzise! Die 500.000 Individuen existieren alle und könnten, wenn es ethisch gestattet wäre (etwa unter einem totalitären, rassistischen Regime) auch alle als Sinti und Roma identifiziert werden. Was variiert, sind die Art zu fragen und die Umstände, unter denen gefragt wird. Diese Unterschiede aber lassen sich quantifizieren.

Auf internationaler Ebene ist eine solche kontextualisierte Analyse bisher nicht vorgenommen worden. Daher können wir nur spekulieren, dass je nach Methode die Zahl der seit 1989 aus Mittel- und Osteuropa emigrierten Rom_nja auf eine bis drei Millionen geschätzt würde.

Der jüngste World Migration Report der IOM (2018) erwähnt die Sinti und Roma kaum und zeigt nach wie vor keine Ansätze eines differenzierten Bildes. In einem aktuellen Überblick zu Europa und Zentralasien jedoch schreibt die IOM:

Im Bereich der gesellschaftlichen Inklusion und Integration sollte die Mobilität von Minderheiten besonders berücksichtigt werden. Der Schutzbedarf von Rom_nja, die dem Menschenhandel zum Opfer fallen, wird ebenfalls zunehmend erkannt.

Die Migrationsinitiativen der IOM in Europa werden darauf hinarbeiten, dass die EU die Inklusion und Integration von Rom_nja in ihren Mitgliedsstaaten und in den Beitrittsländern auf angemessene und gezielte Weise fördert, gemäß den Prioritäten, die im Rahmen des Jahrzehnts der Roma-Inklusion 2005–2015 für Gesundheit, Wohnsituation, Beschäftigung und Bildung vereinbart wurden.29

International Organisation for Migration

Es besteht ein seltsames Missverhältnis zwischen den philanthropischen Projekten der IOM für die meisten Migrantengruppen und jenen für Sinti und Roma. Generell hilft die IOM Gruppen, die »migrantisch« in dem Sinn sind, dass sie bereits von einem Land in ein anderes migriert sind.

Die dürftige Unterstützung, die Rom_nja bisher von der IOM erhalten haben (zum Beispiel 120 Notfall-Hygienekits für Rom_nja in Bosnien, deren Häuser überflutet wurden,30 zwölf Wohnungen in Indien und einige Gründungszuschüsse von je 1.500 Euro für Start-ups im serbischen Niš31) ging jedoch zur Gänze an Rom_nja, die im eigenen Land geblieben waren.

Diese zählen als Migrant_innen, indem sie als »internally displaced persons« klassifiziert werden – als hätte die IOM das rassistische Stereotyp übernommen, dass die Rom_nja von ihrem Wesen her migratorisch seien, sich aber leicht dazu bestechen ließen, doch an Ort und Stelle zu bleiben.

Glücklicherweise haben die stereotypisierenden Illusionen bei der IOM und bei den europäischen Sicherheitsvorkehrungen dazu geführt, dass ihre Bemühungen, die Migration von Sinti und Roma zu beschränken, sich selbst sabotieren.

Während ein paar hundert Schlepper_innen verhaftet wurden, sind Hunderttausende Roma-Familien erfolgreich ausgewandert, haben die Köpfe eingezogen, ihre ethnische Identität oft verschleiert und hart gearbeitet, um sich eine Wohnung leisten zu können. Sie schicken ihre Kinder zur Schule und schaffen für sich selbst ein besseres Leben.

Eine Untersuchung in Großbritannien ergab, dass 81 Prozent der zugewanderten tschechischen und slowakischen Roma-Kinder in ihrer alten Heimat auf Sonderschulen abgeschoben wurden, nun aber an britischen Regelschulen im Allgemeinen gut mitkommen: Ihre Leistungen liegen nur knapp unter dem Durchschnitt aller Schulkinder.32

Es kann wohl kaum augenfälligere Belege für den anhaltenden heimtückischen Rassismus in diesen Emigrationsländern geben und kaum eine bessere Illustration dafür, warum der Mut und die Entschlossenheit der Migrant_innen stärker sind als die Anti-Einwanderungspolitik.

Doch so erfolglos die Strategien der EU und der IOM sind – üble Folgen haben sie trotzdem. Die Verbrechen der Zuhälterei und der Zwangsarbeit sind hinterhältig umdefiniert worden zu einer Art Einwanderungsstraftat namens trafficking (Schleuserei).

Damit können die Täter_innen (deren Kreis nun potenziell alle umfasst, die irgendwie mit unerlaubter Migration zu tun haben) öffentlichkeitswirksam verurteilt und zugleich die Opfer kurzerhand wieder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden – aus den Augen, aus dem Sinn.

In Großbritannien wurden Dutzende Kinder aus Roma-Familien von Polizei und Einwanderungsbehörden entführt – und beschämt ihren Eltern und Erziehungsberechtigten zurückgegeben, nachdem sich professionelle Sozialarbeiter_innen eingeschaltet und die Fälle angemessen ausgewertet hatten.33

Die Folge ist die schon erwähnte Situation, dass Sinti_ze, Rom_nja und Traveller oftmals Angst davor haben, ihre Ethnizität preiszugeben.34

Dennoch sind die Energie dieser Roma-Migrant_innen und der Kampf für ihre Menschenrechte von entscheidender Bedeutung sowohl für die Ausformung einer Roma-Bürgerrechtsbewegung auf lokalen Ebenen als auch für die Stärkung eines Pan-Roma-Bewusstseins.

Ein solches übergreifendes Identitätsgefühl hat sich, von Roma-Intellektuellen befördert, seit den 1960er Jahren ausgeprägt und internationalisierte die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma nach und nach – der problematischen Haltung internationaler Organisationen wie der IOM zur Roma-Migration und den unverstellten Roma-Dämonisierungen seitens verantwortungsloser europäischer Politiker_innen wie Tony Blair und Philippe Hollande zum Trotz.

Migration selbst ist ein Ausdruck des Menschenrechts auf das Streben nach Freiheit und Glück, ein Ergebnis der kreativen Kraft des menschlichen Sehnens und eine Konfrontation mit den Dilemmata von Kolonialismus und Postkolonialismus.

Die Geldüberweisungen ausgewanderter Rom_nja an ihre Verwandten in der alten Heimat haben vermutlich mehr Nutzen gebracht als EU-Gelder, die an potenziell korrupte lokale Behördenvertreter_innen gehen.

Und es sind nicht die Pro-Roma-Schriften von Gadjé-Intellektuellen und wohlmeinenden Bürokrat_innen, sondern es ist der Kampf der Roma-Migrant_innen um das der EU zugrunde liegende Ideal der Freizügigkeit von Bewegung und Arbeitssuche, der die verkrusteten Strukturen der Unterordnung – Erbteil von vier Jahrhunderten der Gängelung von Sinti und Roma in Europa – heute aufbricht.

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