Zwischen 1989 und 1991 formierten sich erste Roma-Eigenorganisationen. Aber erst die schrecklichen Ereignisse vom 4. Februar 1995 in Oberwart – die Ermordung von vier Roma durch eine Rohrbombe – machten plötzlich landesweit auf diese Bevölkerungsgruppe aufmerksam. Zuvor waren Rom_nja in Österreich, und zwar Burgenland-Roma, Sinti, Lovara und Kalderash, eine »unsichtbare« Minderheit. Sie lebten im Verborgenen und tauchten in größeren Städten in der Anonymität unter. In kleineren (burgenländischen) Städten und Orten gaben sie sich mit benachteiligten, oft prekären Lebensverhältnissen zufrieden. Die Holocaust-Generation resignierte schon in den ersten Nachkriegsjahren, denn deren Versuche, Unterstützung oder sogar Rechte einzufordern (Wohnrecht in den früheren Heimatgemeinden, Entschädigungen für KZ-Haft, Opferrenten) blieben erfolglos. Stattdessen sahen sich NS-Überlebende mit Ignoranz, Ausgrenzung oder sogar Verfolgungsandrohungen konfrontiert.
Roma-Bewegung in Österreich – Die langen Schatten der Vergangenheit
Siehe Glossar: Rom_nja in Österreich und zwar Burgenland-Roma, Sinti, Lovara und Kalderash
Während in anderen (europäischen) Ländern schon viel früher Vereine von Roma und Sinti auf sich aufmerksam machten – zum Beispiel in Deutschland seit den 1950er Jahren –, gab es in Österreich nur wenige Roma und Sinti, die sich offen zu ihrer Identität bekannten. Einige sprachen bei Politiker_innen und Behörden für sich oder Familienmitglieder vor, andere wagten sogar, in Zeitungs- oder Fernsehinterviews Missstände und Versäumnisse des österreichischen Staates anzuprangern. Sie stießen selten auf Verständnis und wurden zumeist mit Ausreden abgefertigt. Die Beharrlichkeit einiger dieser Einzelkämpfer_innen bewirkte aber, dass sich nach und nach eine kleine Sympathisanten- und Unterstützungsbewegung in der Mehrheitsgesellschaft formierte. So gab es weit zurückreichende Forderungen von anderen NS-Überlebenden, den KZ-Lagerverbänden, die ein »Zigeuner«-Mahnmal forderten, das im Oktober 1984 in Lackenbach realisiert wurde.1
Gemeinsam und parallel bemühten sich gesellschaftskritische Menschen – Wissenschaftler_innen und Sozialarbeiter_innen, Angehörige neu entstandener Bewegungen und Parteien –, den NS-Holocaust öffentlich zu machen und Entschädigungen, in Österreich »Opferfürsorgeleistungen« genannt, zu fordern.2
Ab Mitte der 1980er Jahre kam es vermehrt zu Diskussionsveranstaltungen. Da nahmen Rudolf Sarközi, Eduard Karoly und Ludwig Papai zunächst als Gäste an sozial- und politikwissenschaftlichen Symposien teil, um einige Jahre später als Veranstalter und wichtige Leitfiguren für die Roma-Community aktiv zu werden.3 Ceija Stojka war eine der Ersten, vor allem die erste Frau, die sich als Romni »outete« und 1988 mit ihrem Buch »Wir leben im Verborgenen« eine Serie öffentlicher Auftritte startete. Zwei Jahre später folgte ihr Bruder, Karl Stojka, mit einem Bilderzyklus.4
Aufbrüche, erste Vereinsgründungen
Dass damals mehr und mehr Roma und Sinti Aufbruchsbereitschaft signalisierten, hatte auch mit dem 1988 ausgerufenen zeithistorischen Gedenkjahr zu tun. Die Reden des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky, in denen erstmalig sowohl die Mitschuld Österreichs an den NS-Verbrechen einbekannt als auch die Gruppe der Roma und Sinti explizit als NS-Opfer genannt wurden, machten Mut.
All dies bedeutete Empowerment für jüngere Rom_nja aus dem Südburgenland, die Ausgrenzung und Benachteiligung in Schulen sowie in der Arbeitswelt und Freizeit nicht mehr länger hinnehmen wollten. Diskotheken- und Lokalverbote hatten sie veranlasst, Protestbriefe an den damaligen Bundespräsidenten Dr. Kurt Waldheim zu verfassen. Im März 1987 erschien eine Dreier-Delegation zum persönlichen Gespräch in der Präsidentschaftskanzlei. Die drei Rom_nja erhielten Unterstützungszusagen, und ein Beamter, Ministerialrat Dr. Klaus Sypal, wurde mit den Anliegen betraut. Zunächst geschah gar nichts, aber immerhin konnte Susanne Baranyai, die Sprecherin der Gruppe, zwei Jahre später im März 1989 in einer TV-Diskussion diskriminierende Vorfälle und Schwierigkeiten der Roma-Jugendlichen einem größeren Publikum präsentieren.5
Bereits im Januar davor war es zu einem entscheidenden Vernetzungstreffen gekommen, und am 15. Juli 1989 erfolgte die Gründung der ersten österreichischen Selbstorganisation »Roma und Sinti – Verein zur Förderung von Zigeunern« im burgenländischen Oberwart. Zum Obmann wurde Ludwig Papai gewählt. Der im niederösterreichischen Felixdorf lebende Burgenland-Rom wurde von einer Nicht-Romni, Miriam Wiegele, unterstützt. Die Sozialwissenschaftlerin und Burgenland-Kroatin setzte sich seit den 1970er Jahren aufklärend und fürsprechend für die »vergessene Minderheit« ein – in Wien, im Burgenland, in österreichischen Medien und in Publikationen. Vergleichbar vielen traditionalen Gesellschaften präsentierte sich die Roma-Community patriarchalisch. Die in der Mehrheitsgesellschaft etwas weiter entwickelte Geschlechterdemokratie war kein angestrebtes Ziel. Doch als Ludwig Papai bereits nach einem Jahr, 1990, verstarb, trat mit Susanne Baranyai eine junge, selbstbewusste Frau an die Spitze, leitete über viele Jahre als Obfrau den »Verein Roma Oberwart« und war über zwei Jahrzehnte Ansprechpartnerin und wichtigste Repräsentantin.
Mitarbeit und Unterstützung von Nicht-Rom_nja, den Gadje, wurden durchaus geschätzt, gab es doch in den eigenen Reihen wenige mit höherer Schulbildung. Begleitende Aktivitäten und Ideen von Nicht-Rom_nja gaben Rückenstärkung (unter anderem Lotte Hirl, Renate Holpfer und Rainer Klien), zudem halfen sie beim Kontaktieren von Behörden oder längerfristig beim Netzwerken mit anderen Institutionen oder bei Teamprojekten.6 Aber auch viele Rom_nja aus der Oberwarter Umgebung arbeiteten von Beginn an mit, zum Teil ehrenamtlich und hoch engagiert; sie wuchsen über learning by doing in die Vereins- und politische Arbeit hinein. Bald konnten nahezu alle Aufgaben und Funktionen von Rom_nja bewältigt werden.
Rudolf Sarközi war damals der einzige Rom, der auf politisches Know-how zurückgreifen konnte, durch langjährige Gewerkschafts- und Parteiarbeit in der Wiener Sozialdemokratie. Als Obmann bei der Vereinsgründung vorgeschlagen, lehnte er ab. Zum einen war er beruflich und familiär in Wien gebunden, zum anderen wollte er seine guten Kontakte zu hohen Politiker_innen für das wichtigste Vorhaben nutzen: die Anerkennung der Rom_nja als österreichische Volksgruppe. Tatkräftiger Einsatz für das Pilotprojekt in Oberwart galt Sarközi aber als selbstverständlich, auch dann noch, als er in Wien seinen eigenen Kulturverein Österreichischer Roma leitete. Ein weiterer wichtiger Impulsgeber in der Frühzeit war Eduard Karoly. Dem in Wien lebenden burgenländischen Rom gelang es, mit einer ad personam geschaffenen »Beratungsstelle« im Landesinvalidenamt für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Hilfestellung nicht nur für Ost- und Süd-Ost-Österreich anzubieten, sondern auch Sinti und Roma in anderen Bundesländern mit zu betreuen.7
Einige Mitbegründer_innen des »Verein Roma Oberwart« entwickelten für Wien weitere Organisationsideen, und im Juni 1991 wurde der Verein »Romano Centro« aus der Taufe gehoben; treibende Kräfte waren hierbei die Musikethnologin Ursula Hemetek, der serbisch-österreichische Schriftsteller Ilija Jovanović, der serbische Rom aus der Gruppe der Kalderash Dragan Jevremović, die Journalistin Renata Erich und andere mehr. Das Besondere an diesem »Forum für Roma und Nicht-Roma« bestand darin, dass ein Schwerpunkt auf Rom_ nja aus der Zuwanderungsgesellschaft lag, vor allem aus Ex-Jugoslawien, sowohl was Zielpublikum und Mitglieder anbelangt als auch in Bezug auf die Vereinsführung. Die soziale Lage sowie Arbeitsmarkt- und Schulprobleme im Bevölkerungssegment von Roma-Gastarbeiterfamilien gaben den Handlungsrahmen vor.
Dass zudem Romanes mit seinen Sprachvarianten sowie kulturelle Traditionen der diversen Roma-Gruppen im Verein »Romano Centro« einen wesentlichen Stellenwert einnehmen sollten, dokumentiert das Gründungsprotokoll. Mozes F. Heinschink, der profilierteste Fachmann für Roma-Sprachen, arbeitete führend im Verein mit und sicherte von Anbeginn Zweisprachigkeit in Wort und Schrift.8
1991 war auch Gründungsjahr für einen weiteren Wiener Verein, den »Kulturverein österreichischer Roma«. Nach einer konstituierenden Sitzung im Juni folgte im September 1991 die feierliche Eröffnung. Rudolf Sarközi, Gründer und Langzeit-Obmann, konnte zahlreiche Weggefährten, Familienmitglieder und Verwandte für seinen Verein gewinnen. Die Einbindung von Ehrenmitgliedern aus Kultur und Politik steigerte das Medieninteresse und erhöhte die Chancen, wichtige Vorhaben zügig anzugehen.9
Alle drei Vereine haben ein breites Betätigungsfeld. Engagement in sozialen Belangen prägte die Frühzeit, erfolgte aber immer in Parallelität mit kulturellen und soziohistorischen Aktivitäten. Die Auseinandersetzung mit Geschichte und Vergangenheit, mit Kulturgut und Sprache dienten sowohl der Identitätsfestigung nach innen als auch der Hebung des Selbstwertgefühls nach außen. Veranstaltungen und Projekte förderten Gemeinschaftssinn und Re-Ethnisierung und ließen den Wunsch und die Bereitschaft zu Revitalisierung sowie Kodifizierung von Kultur- und Sprachgut wachsen. Vielschichtige Förderprogramme waren – neben der Aufklärung über den NS-Völkermord an der Roma-Minderheit – zunächst Anliegen aller. Mit dem NS-Holocaust, diesem dunkelsten Kapitel der jüngeren Vergangenheit, sollten sich sowohl (jüngere) Roma und Sinti, vor allem aber die Mehrheitsbevölkerung, auseinandersetzen – mit dem Ziel, dass an die Stelle von Vorurteilen und Klischees positivere Haltungen treten. Eigene Zeitschriften, ab 1993/94 ein- oder zweisprachig publiziert, informier(t)en die eigene Community und Interessierte in der Mehrheitsgesellschaft.10
1993: Rom_nja – eine österreichische Volksgruppe
Vorzeigbare Tätigkeiten sowie die Existenz von Eigenorganisationen, die auf dem österreichischen Vereinsgesetz fußten, bildeten unverzichtbare Voraussetzungen für das wichtigste Ziel der jungen Roma-Bewegung: die Anerkennung als ethnisch-sprachliche Minderheit, als sechste österreichische Volksgruppe.11 Sofort nach Gründung seines »Kulturvereins« setzte Rudolf Sarközi alle Hebel in Bewegung und nutzte seine Kontakte zu Partei- und Regierungsstellen, um Beschlüsse zu fassen und entscheidenden Gremien und Akteur_innen Petitionen vorzulegen. Begleitet und unterstützt wurde er vom Oberwarter Verein, aber auch von »Romano Centro« sowie anderen Institutionen und Sympathisant_innen.12
Die volksgruppenrechtliche Anerkennung erfolgte am 16. Dezember 1993. Dieser »Kraftakt« wurde zunächst als schwer umsetzbar eingestuft, gab es doch im Frühjahr 1991 eine klar definierte Ablehnung aus dem Bundeskanzleramt. Dass es dann doch so rasch zu einem erfolgreichen Abschluss kam, hat sogar Beteiligte und Eingeweihte überrascht. Genug Beweise lagen auf dem Tisch, dass Rom_nja eine »in Teilen des Bundesgebietes wohnhafte Minderheit sind, die die österreichische Staatsbürgerschaft, aber eine eigene Muttersprache und eigenkulturelles Volkstum besitzen«.13
Allerdings wurde der im Volksgruppengesetz verbriefte Minderheitenschutz sowie der rechtliche Status – Schutz, Förderung und Erhalt von Kultur und Sprachen – nur den autochthonen, seit Generationen in Österreich lebenden Rom_nja zuerkannt. Entsprechend groß war die Enttäuschung bei »Romano Centro«, zumal eine Mehrheit von Vereinsmitgliedern und Anhänger_innen als Nicht-Österreicher_innen herausfielen. Subventionen aus den Volksgruppen-Fördermitteln konnte der Verein dennoch in Anspruch nehmen.
Getrübte Freude auch beim Anführer und Delegationsleiter Rudolf Sarközi, nahmen doch die (österreichischen) Medien und damit die Öffentlichkeit dieses Ereignis kaum zur Kenntnis. Die neue Positionierung von Rom_nja in der Gesellschaft bedeutete – wenn auch nicht sofort wahrnehmbar – eine entscheidende Weichenstellung. Mit Beitritt zur Europäischen Union 1995 war Österreich das einzige Mitgliedsland, das seinen Rom_nja weitreichenden Minderheitenschutz garantierte. Durch die Zugehörigkeit zur EU kamen der Minderheiten- und Roma-Politik höhere Bedeutung zu. Vor allem seit der Osterweiterung konnte das Faktum, dass Rom_nja sowohl die größte Minderheit als auch die diskriminierteste Gruppe innerhalb der Europäischen Union sind, nicht mehr ignoriert werden.14
Gemischte Gefühle löste die Meldung der Anerkennung bei der Sinti-Community aus. Eine Mehrheit hegte von Anfang an Skepsis gegenüber den Aktivitäten der Roma-Bewegung. Sie wollten sich weder outen noch ihre Sprach- und Kulturtraditionen der Öffentlichkeit preisgeben. Das hatte nicht nur mit der NS-Vergangenheit und mit erlebten Diskriminierungen zu tun. Angst, Stolz, aber auch die in Sinti-Gruppen noch existierenden Binnenstrukturen und Hierarchien ließen in den Aufbruchstagen jene zögern, die sich der entstehenden Bewegung anschließen wollten. Einer dieser Aktivist_innen, Hugo Taubmann, gründete 1993 in Villach den »Verband Öterreichischer Sinti«, nahm bei den Sitzungen im Bundeskanzleramt teil, doch als Vertreter lehnten ihn andere (Wiener) Sinti_ze ab. So gab es vonseiten der österreichischen Sinti_ze kein Pro-Anerkennungsvotum. Um kurz vor dem Ziel kein Scheitern beziehungsweise keinen Verhandlungsstopp zu riskieren, wurde das Problem diplomatisch umschifft und nur die Bezeichnung »Roma« gewählt – als Sammelbegriff und offen für alle infrage kommenden Gruppen.15
Das Attentat vom Februar 1995 schien den Skeptiker_innen Recht zu geben. Mit einem Schlag wurde Begonnenes erschüttert und infrage gestellt. Sollten sie alle Tätigkeiten ad acta legen, um die Roma-Minderheit vor weiteren Anschlägen zu schützen? Doch erstmalig in ihrer Geschichte wurden Rom_nja mit dem an ihnen vergangenen Verbrechen und mit ihrem Schmerz nicht allein gelassen. Nach einer ersten Schockstarre stellte sich das offizielle Österreich hinter die Rom_nja. Die komplette Bundesregierung versammelte sich beim Begräbnis der vier ermordeten Männer in Oberwart. Aus Kommunal-, Landes- und Bundespolitik kamen Versprechungen. Den Betroffenen wurde damit und durch eine anwachsende Solidaritätsbewegung der Rücken gestärkt, wenn auch nicht alle Versprechungen sofort und gänzlich eingelöst wurden. Aus tiefer Verzweiflung entwickelte sich Mut zum Weitermachen.16
In den Folgejahren sollte es nicht mehr möglich sein, prekäre Existenzbedingungen und Benachteiligungen von Rom_nja zu ignorieren. Dafür sorgten auch die über den Volksgruppenstatus erworbenen Möglichkeiten. Etwas verzögert durch das Attentat im Februar, konnte erst im Herbst 1995 der Volksgruppenbeirat der Rom_nja im Bundeskanzleramt konstituiert werden. Rudolf Sarközi wurde die Obmann-Funktion anvertraut, die er alle Funktionsperioden hindurch bis zu seinem Ableben im Jahr 2016 ausfüllte. Emmerich Gärtner-Horvath, seit langem Stellvertreter im Beirat, erhielt im März 2017 ein einstimmiges Votum für diese Führungsfunktion.
Weitere Vereine, aktuelle Lage
Nach und nach zeigten auch Sinti_ze Interesse an Volksgruppenpolitik und Vereinsarbeit. Eine der ersten Aktivist_innen war Rosa Gitta Martl. Ihr gelang 1998 in Linz die Gründung des Vereins »Ketani«. Rosa Martls Engagement reicht aber viel weiter zurück. Seit den 1970er Jahren setzte sie sich für ihre Mutter, Rosa Winter, ein und kämpfte für verweigerte Rechte: ihrer Staatsbürgerschaft und KZ-Entschädigung. Ab Ende der 1980er Jahre arbeitete Rosa Martl mit in der entstehenden Roma-Bewegung. Ihr Vorhaben, als Sintiza, auch eine Organisation zu gründen, löste Proteste in den eigenen Reihen aus. Es erforderte Zeit und Argumentationskraft, um Männer aus Familie und Bekanntschaft zu bewegen, mitzumachen. Einige übernahmen nach und nach Obmann- und Vorstandsfunktionen.
Zeit und Beharrungsvermögen erforderte auch die Überzeugung von Kommunal- und Landespolitiker_innen.17 Sahen sie doch aufgrund der geringeren Anzahl von Sinti und Roma in Oberösterreich zunächst keine Notwendigkeit zum politischen Handeln. Erst 1998 konnte die Arbeit aufgenommen werden, zu einem Zeitpunkt, an dem die Anzahl von »sichtbaren« Rom_nja aus den ehemaligen staatssozialistischen Nachbarländern in Linz und Umgebung deutlich anstieg. Die Betreuung ausländischer Armutsmigrant_innen war nicht das beabsichtigte Vereinsziel, doch war es selbstverständlich, dass gezielte Maßnahmen gegen eine ansteigende Fremden- und Roma-Feindlichkeit gesetzt werden mussten. Zudem erweiterte die Unterstützung notleidender, von Abschiebung bedrohter Menschen die ohnehin umfassende Aufgabenstellung. Rosa Martl führte den Verein zunächst allein, später gemeinsam mit ihrer Tochter Nicole Sevik-Martl, die ab 2005 als Generalsekretärin die Leitung übernahm.18
Anfangs ging es auch bei »Ketani« darum, Überlebende und Nachkommen bei der Antragstellung um KZ-Gelder und Opferrenten zu unterstützen – und dies nicht nur auf Linz und Umgebung beschränkt, sondern auch für Sinti und Roma im westlichen Österreich. Zudem engagierten sich Mutter und Tochter als Zeitzeuginnen im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen sowie bei Gedenk- und Kulturveranstaltungen im In- und Ausland. Als Alleinstellungsmerkmal kann »Ketani« auf die Errichtung und Mitbetreuung von Durchreise-Plätzen in Linz und Braunau, Oberösterreich, verweisen.19 Die Zusammenarbeit mit kommunalen und Landesstellen funktionierte gut, doch die zu geringe materielle Basis machte die Schließung des Vereins mit Jahresende 2015 notwendig. Ehrenamtlich beteiligen sich beide Frauen weiter.20
Hohes Engagement, eindrucksvolle Projekte und vorzeigbare Ergebnisse brachten den Vereinen öffentliche Wertschätzung. Leitpersonen der Bewegung wurden mit Auszeichnungen und Ehrentitel bedacht, erhielten Zutritt zum politischen Parkett, an (Internationalen) Roma-Gedenktagen stand ihnen das österreichische Parlament samt Abgeordneten als Auditorium zur Verfügung.21
Doch der finanzielle Rahmen für die Vereinstätigkeiten war eng gesteckt. Im Burgenland und vor allem in Wien konnte und kann durch eingespielte Kooperationspartnerschaften die zu knappe personelle Ausstattung etwas entschärft werden – beispielsweise durch Zusammenarbeit mit Ministerialabteilungen, NGOs, Universitätsinstituten oder in den letzten Jahren durch die besonders erfolgreiche Zusammenarbeit mit großen Museen.22
Die ständige Auslastung durch das »Tagesgeschäft« ließ wenig Zeit für die inhaltliche Arbeit, so die Bilanz von Geschäftsführer und Langzeit-Mitarbeiter im »Verein Roma Oberwart«, Emmerich Gärtner-Horvath. Zudem wollte er die Arbeit über Oberwart hinaus ausweiten und entschloss sich 2004, einen eigenen Verein, den Verein »Roma-Service«, zu gründen. Dadurch ermöglichte er sich, gemeinsam mit einem Mitarbeiter, wichtige Sprach- und Geschichtsprojekte zentral zu platzieren.23 Viele der Vorhaben wurden inzwischen realisiert, auch der »Rom-Bus«, eine fahrende Bibliothek, die Bücher, Materialien und Lernhilfen in entlegene Regionen bringt.
»Dem Verlust des Romanes, dem Sprachentod entgegenwirken«, ist Leitmotiv und Animo. Fast genauso wichtig: die außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder und -Jugendliche. Dieses im »Verein Roma Oberwart« von Beginn an praktizierte, nachhaltige Projekt geriet 2016 ins Wanken und stand vor dem Aus. Der über ein Vierteljahrhundert erfolgreich arbeitende »Verein Roma Oberwart«, der den Beginn der österreichischen Roma-Bewegung symbolisiert, musste aus wirtschaftlichen Gründen schließen, den Konkurs anmelden. Der Verein »Roma-Service« ist eingesprungen und hat dafür gesorgt, dass die außerschulische Lernbetreuung in Oberwart weiterlaufen kann. Auch andere Institutionen versuchen, das Vakuum zu füllen beziehungsweise zu verkleinern, zum Beispiel die Roma-Volkshochschule, das Roma-Pastoral, der Verein »Karika« und andere.
»Das ursprüngliche Ziel der Bewegung, die Volksgruppe der Roma im Bewusstsein der österreichischen Gesellschaft als integralen Bestandteil zu etablieren, ist weitgehend erreicht.« (Erich Schneller)24
Die österreichische Roma-Bewegung hat in den fast 30 Jahren ihres Bestandes viel bewirkt. Erwartungen werden in die junge Generation gesetzt, die – aufgrund besserer Bildungsausstattung – identitäts- und selbstbewusst der Volksgruppe Bestand und Zukunft ermöglichen soll.
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