Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma

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Angéla Kóczé

Die Roma-Bürgerrechtsbewegung in Ungarn

Einführung

Die Geschichte der Roma-Bürgerrechtsbewegung und ihres politischen Aktivismus nach 1945 verlief in allen ost- und mitteleuropäischen Ländern ähnlich. Das sowjetische Modell wurde zur beherrschenden politischen Struktur, gestützt von einer marxistisch-leninistischen Ideologie, die überall die gleiche Art von Restriktionen mit sich brachte und die Möglichkeiten für Rom_nja, ihre politischen Interessen zu artikulieren, stark einschränkte.

Zwar erklärte der neue ungarische Staatssozialismus alle Bürger_innen für gleichberechtigt und versprach Wohlstand für alle, doch er schuf für die Rom_nja keine ökonomischen Möglichkeiten. János Bársony fasst prägnant zusammen, wie die Landzuweisungspolitik, einer am 15. März 1945 in Kraft gesetzten gesetzlichen Regelung folgend, die Rom_nja benachteiligte.1

In Dokumenten der amerikanischen Food and Agriculture Organization of the United Nations heißt es:

»Alle Anwesen von mehr als 575 Hektar Größe wurden enteignet, und andere Höfe wurden mittels Beschlagnahmung auf maximal 57 Hektar verkleinert. Neben dem Land wurden auch Vieh und Produktionsmittel konfisziert. Insgesamt wurden nahezu drei Millionen Hektar Land an 725.000 landlose Arbeiter_innen und Kleinbauern/-bäuerinnen umverteilt. An Eigentum durften sie höchstens 8,5 Hektar besitzen.« 2

Bársony weist darauf hin, dass von dem Gesetz auch die Rom_nja hätten profitieren sollen, schließlich waren sie zumeist landlose Feldarbeiter_innen. Allerdings betrachteten die »ungarischen Bäuerinnen und Bauern« die Rom_nja nicht als eine Gruppe, deren Situation mit ihrer eigenen vergleichbar wäre.

Und selbst den wenigen Rom_nja, die Land beantragten, wurde keines zugesprochen. An der wirtschaftlichen und politischen Enteignung der Rom_nja in der ungarischen Gesellschaft änderte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nichts.

Der Pharrajimos (»Vertilgung«, »Zerstörung)3: Anerkennung des Holocausts an den Rom_nja und Entschädigung

Bis heute dauert die akademische Debatte an, ob die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus als Teil des Holocausts zu betrachten sei. Auch die Frage, wie viele Sinti und Roma während des Zweiten Weltkriegs von den Nationalsozialist_innen und ihren Verbündeten ermordet wurden, ist nicht geklärt. Die Schätzungen bewegen sich zwischen 250.000 und 1,5 Millionen Opfern.4

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der ungarische Dichter György Faludy zunächst der einzige, der die ungarische Gesellschaft öffentlich mit ihren Verbrechen gegen die Rom_nja konfrontierte:

»Wie viele verloren sind, wissen wir immer noch nicht. Ich konnte keine ungarische Zeitung finden, welche die Dezimierung von Menschen, die unter uns lebten, erwähnenswert fand – und das heißt, dass wir nach den Jahrhunderten des Hasses im Donautal nicht einmal ein Minimum an menschlicher Solidarität erreicht haben.«5

Nach den Deportationen und undokumentierten Massenhinrichtungen während des Holocaust erhielten die ungarischen Rom_nja keinerlei Wiedergutmachung und auch keine offizielle Entschuldigung, weder von der neuen politischen Elite des Landes noch von der internationalen Gemeinschaft.

János Bársony und Ágnes Daróczi betrachten – wie auch andere Roma- und Nicht-Roma-Intellektuelle – den Holocaust als gemeinsame Erfahrung der europäischen Rom_nja, als Tiefpunkt einer jahrhundertelangen Geschichte von Diskriminierung und Leid, verübt von den Mehrheitskulturen.6

Lajos Nadorfi | A Photograph of Agnes Daroczi in 1972 | Fotografie | Ungarn | 1972 | rom_20013 Rights held by: Lajos Nadorfi | Licensed by Lajos Nadorfi I Licensed under: CC-BY-NC-ND 4.0 International I Provided by: Àgnes Daròczi /Janos Barsony - Private Archive

Das Gedenken an den Holocaust ist demnach grundlegend für die Entwicklung einer kollektiven Identität verschiedener Roma-Gruppen und für die Selbstwahrnehmung der Sinti und Roma in Europa als Volk mit einer Geschichte und einem gemeinsamen Gedächtnis.

Bársony und Daróczi weisen die Thesen des Historikers László Karsai zurück, der einen systematischen Genozid an Sinti und Roma unter den faschistischen Regimen infrage stellt.7

In Ungarn setzten Roma-Intellektuelle in den 1980er Jahren die künstlerische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Verfolgungen in Gang, vor allem in Film und Malerei. József Lojkó Lakatos’ Dokumentarfilm »Elfelejtett holtak« (›Vergessene Tote‹) von 1981 ist der erste ungarische Film über den nationalsozialistischen Genozid an den Rom_nja.

Tamás Péli 42-Quadratmeter-Bild »Geburt« (1983) an der Mauer einer Waisenhaus-Bibliothek in Tiszadob stellt die Geschichte der Rom_nja von ihren Ursprüngen bis zum Holocaust dar.

Das »Zigeunerproblem« im sowjetischen Modell

1946 schrieb András Kálmán für die von der »Kommunistischen Partei« (KP) Ungarns herausgegebene Zeitschrift Társadalomtudományi Szemle (»Rundschau der Sozialwissenschaft«) einen Artikel mit dem Titel »Probleme der ungarischen Zigeuner«. Es war der erste nach dem Krieg veröffentlichte Text zur Situation der Rom_nja in Ungarn.

Kálmán sprach sich dafür aus, den »unassimilierten Zigeunern« – jenen Rom_nja, die keiner geregelten Arbeit nachgingen und sozial, ökonomisch und sprachlich von der Mehrheit abwichen – den Status einer nationalen Minderheit zuzubilligen. Sein Hauptanliegen jedoch war, die ungarischen Rom_nja als Arbeitskräfte in der Schwerindustrie einzusetzen.

Nur das Arbeitsleben könne eine vollständige Einpassung der Rom_nja in die ungarische Gesellschaft gewährleisten, glaubte Kálmán. Sein dualer Ansatz, der für die Mehrheit der Rom_nja die Assimilation und für eine kleine Minderheit einen Sonderstatus vorsah, wurde zum Paradigma im Umgang mit den Rom_nja in der Zeit des Staatssozialismus.

Der »Kulturverband der ungarischen Zigeuner«

Im Sommer 1957 richtete das ungarische Kulturministerium die »Abteilung Nationale Minderheiten« ein, um eine Anzahl von Verbänden der slowakischen, rumänischen, deutschen und südslawischen Gemeinschaften im Land zu beaufsichtigen.

Einige Monate später, am 26. Oktober 1957, erkannte das Ministerium auch die »Zigeuner« als nationale Minderheit an und gründete den »Kulturverband der ungarischen Zigeuner« (Magyar Cigányok Kulturális Szövetsége, MCKS).8

Erste Generalsekretärin des MCKS war Mária László (1909–1989), die zuvor als Journalistin und Aktivistin bekannt geworden war. 1937 hatte sie im Dorf Pánd Proteste organisiert und war wegen Unruhestiftung inhaftiert worden.9 1945 trat sie der Sozialdemokratischen Partei Ungarns bei.

Archivmaterialien aus den 1950er Jahren belegen, dass Mária László Briefe an mehrere Ministerien schrieb und um die Erlaubnis bat, eine unabhängige Roma-Organisation zu gründen.

Ihre Bemühungen koinzidierten mit dem Plan des Arbeitsministeriums, eine »Abteilung für nationale Minderheiten« zu schaffen und auf diesem Weg eine politische Linie der KP im Umgang mit den Rom_nja zu entwickeln – auch wenn die Führungsebene der Partei die Rom_nja nicht als nationale Minderheit anerkennen wollte.

László war die erste Roma-Bürgerrechtlerin, die für eine Emanzipation der Rom_nja durch Literatur, Musik und die Romani-Sprache arbeitete. Unter ihrer Leitung fungierte der MCKS als Interessenvertretung, die Rechtsbeistand bot und individuellen Beschwerden nachging. Da Lászlós emanzipatorische Bestrebungen jedoch den Behörden missfielen, wurde sie 1959 ihres Postens enthoben.

In einem Brief vom 16. Juni 1958, zur Zeit der offiziellen Vergeltungsmaßnahmen für den Aufstand von 1956, hatte sie formuliert: »Wir sind der Meinung, dass bei den derzeitigen Internierungen Fehler unterlaufen.« Haft in Internierungslagern war eine damals gängige Methode, um Oppositionelle – auch Rom_nja –, die das Vorgehen von Innenministerium und Staatsanwaltschaft kritisierten, mundtot zu machen.10

Der Brief wurde als Akt des Widerstands aufgefasst. Er machte die Rechte von Roma-Oppositionellen an ebendem Tag geltend, an dem Imre Nagy und die anderen Märtyer_innen des Aufstands hingerichtet wurden.11

Auf László folgten als Leiter des MCKS von November 1958 bis März 1959 György Gere, ein linientreuer Bürokrat, und danach Sándor Ferkovics, ein Armeeoffizier. 1961 wurde der Verband offiziell aufgelöst.

Die Assimilierungspolitik

Seit den späten 60er Jahren erweiterte die Wirtschaftspolitik Ungarns das sozialistische Modell schrittweise um marktorientierte Ansätze im kleinen Maßstab. Der sogenannte »Neue ökonomische Mechanismus« führte eine liberalere Ordnung ein, allerdings weiterhin geprägt durch strikte staatliche Überwachung.

Die Rom_nja waren, so wie auch andere Ungar_innen in den ländlichen Regionen, angehalten, im Industrieproletariat aufzugehen: Sie sollten Bergleute, Bau- und Bahnarbeiter_innen werden. Es gab staatliche Programme, die sich speziell an Rom_nja richteten.

1961 verabschiedete das Politbüro des Zentralkomitees der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei eine Resolution mit dem Titel »Das Problem der Zigeuner-Integration«. Darin wurde die »Zigeunerfrage« als ein »gesellschaftliches Problem« ohne ethnische Komponente gefasst.

Die Resolution markierte eine entscheidende Wende. Es hieß darin: »Der Ausgangspunkt für politische Maßnahmen, die auf die Zigeunerbevölkerung ausgerichtet sind, muss das Prinzip sein, dass sie trotz gewisser ethnologischer Eigenheiten keine nationale Minderheit darstellt.«12

Angesichts der Assimilierungspolitik des Staatssozialismus zeigten sich manche Roma-Gemeinschaften überaus resilient, was die Aufrechterhaltung ihrer Unabhängigkeit gegen die zentralisierte Staatsmacht betraf.13

Die politischen Maßnahmen zielten darauf ab, den Rom_nja ohne Anerkennung ihres ethnischen Hintergrunds Arbeitsplätze, Wohnraum und Bildung zu verschaffen.14 Dabei berücksichtige der sozialistische Staat zu wenig die Hindernisse, die zur sozialen Ausgrenzung der Rom_nja führten und ihre Integration nachhaltig erschwerten.

Zum Beispiel herrschte im ungarischen Bildungssystem de facto Apartheid, begründet in der sogenannten »traditionellen räumlichen Trennung«, was bedeutete, dass jede größere Ortschaft ihre Roma-Straße, ihr Roma-Viertel oder ihre Roma-Siedlung hatte. Viele Gemeindeschulen für Roma-Kinder wurden gemäß dem Grundsatz »gleich, aber getrennt« errichtet.

Auf diese Weise landeten Roma-Kinder zum großen Teil in schlecht ausgestatteten Anstalten, wo die Lehrer_innen wenig erwarteten und wenig vermittelten. Oft handelte es sich um Sonderschulen.

Von der Armut zur kulturellen Anerkennung

Die erste repräsentative demografische Studie über die Rom_nja in Ungarn wurde 1971, fast 80 Jahre nach dem ersten »Zigeuner-Zensus«15, unter István Kemény Leitung erstellt. Sie begann als Forschungsbericht. Kemény arbeitete mit Sozialwissenschaftler_innen (viele von ihnen Dissident_innen), die sich dem Thema »Armut und Rom_nja« widmeten – unter ihnen Zsolt Csalog, Gabor Havas und Ottilia Solt.

Ihre Forschung prägte die politische Agenda der Roma-Bürgerrechtsbewegung nachhaltig. Roma-Intellektuelle kritisierten die Studie von 1971, weil sie den Focus allein auf die Armut richtete und die Rom_nja nicht als ethnische Gruppe mit eigenständiger Kultur betrachtete. Die Themen Ethnizität (»Zigeunerkultur«) und »Kultur der Armut« wurden separat behandelt, anstatt ihrer Überschneidung nachzugehen.

Rückblickend sagte Zsolt Csalog im Gespräch mit Ágnes Daróczi über die Forschungsarbeit:

»Als wir 1971 die Kemény-Studie erstellten, war uns bewusst, dass wir subversiv arbeiteten. Wir setzten ein Zeichen gegen das System [...], wir enthüllten einen der großen Skandale des Systems. [...] Das Hauptanliegen war natürlich, den Gestrauchelten, Hungrigen, Verarmten zu helfen, doch es bedeutete uns ebenfalls viel, dem System ein Dorn im Auge zu sein. «16

In dem Interview erinnert Daróczi auch daran, das Csalog 1978 bei einer Konferenz in Békéscsaba im Publikum aufstand und die Forderung nach Roma-Institutionen – einem Roma-Museum, einem Theater, Kulturzentren etc. – erhob.

Keménys Arbeit hatte großen Einfluss auf die Repräsentation von Rom_nja in Film, Fotografie und Literatur. Sie wurden als Gruppe dargestellt, die ein »Scheitern des Sozialismus« verkörperte – materiell benachteiligt und über Generationen in Armut befangen; eine Unterschicht von Parias, die abseits der Gesellschaft in unbekannten, als fremd kodierten Kollektiven lebte.

Pál Schiffer war der produktivste und prominenteste unter den ungarischen Filmemacher_innen, die, anknüpfend an Keménys Forschung, marginalisierte Rom_nja zeigten. In seinem Klassiker »Fekete vonat« (›Schwarzer Zug‹) von 1970 porträtierte er Rom_nja als schlecht ausgebildete Industrie-Hilfsarbeiter_innen, die aus den verarmten Dörfern des Landkreises Szabolcs-Szatmár-Bereg nach Budapest oder in andere westungarische Städte reisten.

Neben weiteren Dokumentarfilmen wie »Faluszéli házak« (›Häuser am Stadtrand‹) und »Mit csinálnak a cigánygyerekek?« (›Was tun die Zigeunerkinder?‹) drehte Schiffer auch den Doku-Fiction-Film »Cséplő Gyuri« (1978), dessen Protagonist Gyuri versucht, sein Leben in einer traditionellen Roma-Siedlung hinter sich zu lassen und Arbeit in Budapest zu finden.

Andrea Pócsik vertritt in ihrer eloquenten Interpretation die Ansicht, dieser Film gehe über die vorherrschende Darstellungsweise hinaus, indem er seine Roma-Hauptfigur in die Lage versetze, anhand ihrer persönlichen Erfahrungen die Armut zu beobachten und zu analysieren. Somit sei »Cséplő Gyuri« der erste ungarische Film, der den Roma-Intellektuellen eine eigene Stimme und Rolle verlieh.

Im Jahr 1974, während der Ära Kádár (1957–89), veröffentlichte das Zentralbüro der Sozialistischen Partei eine Erklärung, in der es versprach, dass Rom_nja und Nicht-Rom_nja künftig gemeinsam unterrichtet werden sollten. Auch Unterstützung für kulturelle Aktivitäten der Rom_nja, wie Musikgruppen und Vereine, wurde in Aussicht gestellt.17

Diese Initiative, die auch die sogenannten »Zigeunerclubs« umfasste, schuf einen Raum für die aufkeimende Roma-Bewegung. In einer der prägnantesten Szenen aus »Cséplő Gyuri« trifft der Protagonist mit den jungen Roma-Intellektuellen Ágnes Daróczi, János Bársony, József Choli Daróczi, József Lojkó Lakatos und Tamás Péli zusammen.

Jenseits ihrer gesellschaftlichen Statusunterschiede hatten diese Menschen im »Zigeunerclub« Gelegenheit, gemeinsam die Roma-Kultur lebendig zu halten, zu re-kreieren und zu re-artikulieren, auch wenn deren Eigenständigkeit von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei nach wie vor nicht offiziell anerkannt wurde.

Ágnes Daróczi und János Bársony begehrten als revolutionäres Paar in den 1970er und 80er Jahren nicht nur gegen das Politbüro auf, sondern ebenso gegen einen akademischen Rassismus, wie ihn zum Beispiel die Sprachwissenschaftler József Vekerdi und Elemér Várnagy vertraten.

Vekerdi, der großen Einfluss auf die ethnologische Forschung über die Rom_nja hatte, behauptete laut Péter Szuhay, eine eigene Roma-Kultur habe sich aus einem Mangel an Tradition kaum ausgeprägt.18

Várnagy versuchte mit seiner Forschung den rassistischen Irrglauben zu untermauern, dass die Rom_nja eine vererbte Neigung zum Stehlen und Betteln in sich trügen. In einem Interview von 2017 erinnert sich János Bársony, wie Ágnes Daróczi und er bei einer Konferenz an der Universität Pécs 1979 mit Unterstützung ausländischer Teilnehmer_innen Várnagys Thesen auseinandernahm.19

Die Bürgerrechtsbewegung nach 1989

Die progressiven Roma-Aktivist_innen der »Zigeunerclubs« standen der demokratischen Opposition in Ungarn (demokratikus ellenzék) nahe, die in den 80er Jahren sichtbarer hervortrat, in Gestalt alternativer Institutionen wie der Bewegung Szabad Demokraták Szövetsége (»Freie Demokratische Föderation«). Auch gründete sie die Zeitschrift Beszélő sowie die Stiftung SZETA, die Menschen in Armut half.

Im Februar 1989 initiierte Aladár Horváth – unterstützt von den Roma-Aktivist_innen Ágnes Daróczi, Béla Osztolykán und Attila Balogh sowie der von János Ladányi und Gábor Havas vertretenen Wallenberg-Stiftung – in der nordostungarischen Stadt Miskolc einen bemerkenswerten politischen Protest.20

Die Stadtverwaltung von Miskolc plante Hunderte von Rom_nja umzusiedeln. Ungarische Dissident_innen und Roma-Aktivist_innen bildeten ein »Anti-Ghetto-Komitee«, um gegen dieses Vorhaben zu protestieren.

Diese Aktion galt später als Gründungsakt der politischen Bürgerrechtsbewegung der Rom_nja in Ungarn. Und dass das Komitee Roma-Aktivist_innen und nicht-oppositionelle Nicht-Rom_nja vereinte, ist von besonderer Bedeutung.21

1989 riefen Roma-Aktivist_innen mit der Unterstützung liberaler ungarischer Intellektueller die Organisation Phralipe ins Leben. Phralipe war im postsozialistischen Ungarn die erste Roma-Bürgerrechtsorganisation, die unabhängig von staatlichen Stellen agierte – anders als etwa die von Gyula Náday und István Mezei geleitete Magyarországi Cigányok Demokratikus Szövetsége (»Demokratische Union der Ungarischen Zigeuner«).

Im November 1989 verabschiedete Phralipe die Cigány politikai Tézisek (»Zigeunerpolitische Thesen«) und verschickte sie an alle politischen Parteien Ungarns mit der Aufforderung, sie bis Frühjahr 1990 in ihre Programme aufzunehmen. Jedoch boten nur die Freien Demokraten (SZDSZ) Phralipe eine Kooperation an.

Die SZDSZ war auch die einzige Partei Ungarns, die nach den ersten demokratischen Parlamentswahlen 1990 zwei Rom_nja als Abgeordnete entsandte – Aladár Horváth und Antónia Hága. 1992 bot die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) Tamás Péli einen Parlamentssitz an, nachdem einer ihrer Abgeordneten verstorben war.22

In den frühen 1990er Jahren organisierten Roma-Aktivist_innen immer wieder Kundgebungen in Reaktion auf neofaschistische Angriffe und konnten dabei auch Politiker_innen mobilisieren. Die wichtigste dieser Demonstrationen wurde von Phralipe und dem von Aladár Horváth, Ágnes Daróczi und Béla Osztojkán angeführten Roma-Parlament am 11. Juli 1993 in Eger ausgerichtet.

Berichten zufolge gingen an dem Tag mehrere Tausend Rom_nja sowie Sympathisant_innen gegen Gewalt und Diskriminierung auf die Straße – und gegen die stillschweigende öffentliche Duldung, die die fortwährenden Attacken erst möglich machte, gegen den Mangel an Polizeischutz und Bürgerrechten für die Rom_nja.

1996 berichtete Human Rights Watch Helsinki über Verbindungen zwischen der neonazistischen Skinhead-Bewegung und politischen Parteien in Ungarn. Dem Report zufolge bestand ein »konsistentes Muster von Kontakten und Kooperationen zwischen der Unabhängigen Kleinbauernpartei und mehreren Skinhead-Organisationen«.23

Das »Gesetz über nationale und ethnische Minderheiten« von 1993 war ein Meilenstein für die Anerkennung der kollektiven politischen Rechte von Minderheiten in Ungarn. Erstmals wurden die Rom_nja überhaupt als ethnische Minderheit anerkannt und für berechtigt erklärt, ihre eigenen lokalen und nationalen Gremien zu bilden.

In Ergänzung der schon bestehenden Gesetze zu Verbänden und Parteien bahnte die neue Regelung den Weg für ein gewisses Maß an lokaler und nationaler Selbstverwaltung. Dennoch kritisierten Roma-Bürgerrechtsaktivist_innen das »Minderheitengesetz« von Anbeginn scharf. Jenő Zsigó, Roma-Sprecher am Runden Tisch der Minderheiten, der die Entwicklung des Gesetzes konstruktiv begleitete, fasste zusammen:

»Die erklärten Ziele des eingebrachten Minderheitengesetzes sind wohlbekannt; jedoch lassen sich diese Ziele unter der Parole ›Minderheitenschutz‹ nicht erreichen. Dieser dient tatsächlich nur dazu, Spannungen zwischen den lokalen Behörden und dem lokalen Minderheitenrat zu erzeugen.«24

Die Aussichten für die Emanzipation

In der Zeit nach 1989 etablierte sich das Gandhi-Gymnasium in Pécs als eines der bedeutendsten kulturellen Institutionen der ungarischen Rom_nja. 1992 als erstes Roma-Gymnasium von Roma- und Nicht-Roma-Aktivist_innen und -Akademiker_innen wie Tibor Derdák und Anna Orsós eröffnet, wird es seit 1994 von dem Roma-Intellektuellen János Bogdán geleitet.

Anliegen des Gandhi-Gymnasiums ist es, die Zukunftschancen für Roma-Kinder zu verbessern und den Stolz auf die Roma-Kultur zu fördern.

Nach 1989 wurden neben kulturellen Einrichtungen auch mehrere Rechtshilfeorganisationen gegründet – darunter die Stiftung für die Bürgerrechte der Rom_nja, das Nationale Rechtsschutzbüro für ethnische und andere Minderheiten und die Stiftung Chance für Kinder. Sie gingen in einer Reihe von Gerichtsverfahren gegen die Roma-diskriminierende Gesetzgebung und Rechtspraxis vor und rückten diese Missstände somit verstärkt in den Blickpunkt der Politik und Justiz.

1998 zum Beispiel brachte die Stiftung für die Bürgerrechte der Rom_nja den Leiter der Ferenc-Pethe-Grundschule im nordostungarischen Tiszavasvári vor Gericht. Bei der Schulabschlussfeier im Jahr zuvor hatte die Schulleitung für die siebzehn Roma-Kinder einen separaten Termin angesetzt, sodass sie nicht mit den anderen Kindern zusammen feierten.

Heute bleibt – trotz der vertanen Chance, im Zuge des EU-Beitritts politischen Druck für echte Verbesserungen auszuüben, trotz der Last der Finanzkrise, der Demontage des Sozialstaats, diverser gescheiterter Projekte und wirkungsloser Strategien zur »Roma-Integration« – die Hoffnung auf kulturelle und politische Emanzipation lebendig.

Dafür stehen Initiativen wie die Roma Pride-Bewegung (angestoßen von Jenő Setét), das Programm Romaversitas, das Rom_nja an Hochschulen unterstützt, oder das Netzwerk Tanoda, für das Judit Berkis Arbeit im Landkreis Nógrád ein gutes Beispiel bietet.