Von der Armut zur kulturellen Anerkennung
Die erste repräsentative demografische Studie über die Rom_nja in Ungarn wurde 1971, fast 80 Jahre nach dem ersten »Zigeuner-Zensus«, unter István Kemény Leitung erstellt. Sie begann als Forschungsbericht. Kemény arbeitete mit Sozialwissenschaftler_innen (viele von ihnen Dissident_innen), die sich dem Thema »Armut und Rom_nja« widmeten – unter ihnen Zsolt Csalog, Gabor Havas und Ottilia Solt.
Ihre Forschung prägte die politische Agenda der Roma-Bürgerrechtsbewegung nachhaltig. Roma-Intellektuelle kritisierten die Studie von 1971, weil sie den Focus allein auf die Armut richtete und die Rom_nja nicht als ethnische Gruppe mit eigenständiger Kultur betrachtete. Die Themen Ethnizität (»Zigeunerkultur«) und »Kultur der Armut« wurden separat behandelt, anstatt ihrer Überschneidung nachzugehen.
Rückblickend sagte Zsolt Csalog im Gespräch mit Ágnes Daróczi über die Forschungsarbeit:
»Als wir 1971 die Kemény-Studie erstellten, war uns bewusst, dass wir subversiv arbeiteten. Wir setzten ein Zeichen gegen das System [...], wir enthüllten einen der großen Skandale des Systems. [...] Das Hauptanliegen war natürlich, den Gestrauchelten, Hungrigen, Verarmten zu helfen, doch es bedeutete uns ebenfalls viel, dem System ein Dorn im Auge zu sein. «
In dem Interview erinnert Daróczi auch daran, das Csalog 1978 bei einer Konferenz in Békéscsaba im Publikum aufstand und die Forderung nach Roma-Institutionen – einem Roma-Museum, einem Theater, Kulturzentren etc. – erhob.
Keménys Arbeit hatte großen Einfluss auf die Repräsentation von Rom_nja in Film, Fotografie und Literatur. Sie wurden als Gruppe dargestellt, die ein »Scheitern des Sozialismus« verkörperte – materiell benachteiligt und über Generationen in Armut befangen; eine Unterschicht von Parias, die abseits der Gesellschaft in unbekannten, als fremd kodierten Kollektiven lebte.
Pál Schiffer war der produktivste und prominenteste unter den ungarischen Filmemacher_innen, die, anknüpfend an Keménys Forschung, marginalisierte Rom_nja zeigten. In seinem Klassiker »Fekete vonat« (›Schwarzer Zug‹) von 1970 porträtierte er Rom_nja als schlecht ausgebildete Industrie-Hilfsarbeiter_innen, die aus den verarmten Dörfern des Landkreises Szabolcs-Szatmár-Bereg nach Budapest oder in andere westungarische Städte reisten.
Neben weiteren Dokumentarfilmen wie »Faluszéli házak« (›Häuser am Stadtrand‹) und »Mit csinálnak a cigánygyerekek?« (›Was tun die Zigeunerkinder?‹) drehte Schiffer auch den Doku-Fiction-Film »Cséplő Gyuri« (1978), dessen Protagonist Gyuri versucht, sein Leben in einer traditionellen Roma-Siedlung hinter sich zu lassen und Arbeit in Budapest zu finden.
Andrea Pócsik vertritt in ihrer eloquenten Interpretation die Ansicht, dieser Film gehe über die vorherrschende Darstellungsweise hinaus, indem er seine Roma-Hauptfigur in die Lage versetze, anhand ihrer persönlichen Erfahrungen die Armut zu beobachten und zu analysieren. Somit sei »Cséplő Gyuri« der erste ungarische Film, der den Roma-Intellektuellen eine eigene Stimme und Rolle verlieh.
Im Jahr 1974, während der Ära Kádár (1957–89), veröffentlichte das Zentralbüro der Sozialistischen Partei eine Erklärung, in der es versprach, dass Rom_nja und Nicht-Rom_nja künftig gemeinsam unterrichtet werden sollten. Auch Unterstützung für kulturelle Aktivitäten der Rom_nja, wie Musikgruppen und Vereine, wurde in Aussicht gestellt.
Diese Initiative, die auch die sogenannten »Zigeunerclubs« umfasste, schuf einen Raum für die aufkeimende Roma-Bewegung. In einer der prägnantesten Szenen aus »Cséplő Gyuri« trifft der Protagonist mit den jungen Roma-Intellektuellen Ágnes Daróczi, János Bársony, József Choli Daróczi, József Lojkó Lakatos und Tamás Péli zusammen.
Jenseits ihrer gesellschaftlichen Statusunterschiede hatten diese Menschen im »Zigeunerclub« Gelegenheit, gemeinsam die Roma-Kultur lebendig zu halten, zu re-kreieren und zu re-artikulieren, auch wenn deren Eigenständigkeit von der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei nach wie vor nicht offiziell anerkannt wurde.
Ágnes Daróczi und János Bársony begehrten als revolutionäres Paar in den 1970er und 80er Jahren nicht nur gegen das Politbüro auf, sondern ebenso gegen einen akademischen Rassismus, wie ihn zum Beispiel die Sprachwissenschaftler József Vekerdi und Elemér Várnagy vertraten.
Vekerdi, der großen Einfluss auf die ethnologische Forschung über die Rom_nja hatte, behauptete laut Péter Szuhay, eine eigene Roma-Kultur habe sich aus einem Mangel an Tradition kaum ausgeprägt.
Várnagy versuchte mit seiner Forschung den rassistischen Irrglauben zu untermauern, dass die Rom_nja eine vererbte Neigung zum Stehlen und Betteln in sich trügen. In einem Interview von 2017 erinnert sich János Bársony, wie Ágnes Daróczi und er bei einer Konferenz an der Universität Pécs 1979 mit Unterstützung ausländischer Teilnehmer_innen Várnagys Thesen auseinandernahm.