Gemeint ist damit nicht nur die kurze und folkloristische Teilnahme der Sinti und Roma am europäischen Theater, sondern auch die Schaffung von besonderer, heterogener Ästhetik, Poesie und Dramaturgie als Teil eines Korpus von Gesten, Formen und Absichten, die nicht starr kodiert werden können. Ebenso haben die heterogenen Formen der Repräsentationen der Sinti und Roma – die von »echten« Roma und Sinti oft weit entfernt sind – Einfluss auf die breite und reiche europäische Theatertradition genommen. Die künstlerischen Beiträge in unterschiedlichsten Bereichen, so wie Mythen, Stereotype und dominierende Klischees, die im kollektiven Imaginären über Sinti und Roma existieren, waren und sind eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration für Theaterschaffende – sowohl in der Bildung von Archetypen als auch in der Musik, in der Ästhetik oder auch in der ultimativen und existenziellen Bedeutung einzelner Werke.
Eine Aufgabe wie jene, die das RomArchive auf sich genommen hat, kann somit auch zu gefährlichen Vereinfachungen führen, falls sie die entsprechenden Risiken nicht berücksichtigt. Diese Risiken sind eine Folge der außerordentlichen Komplexität, die sich daraus ergibt, unabhängig von einer bestimmten Disziplin Kunst im Rahmen einer Identitätserzählung zu betrachten.
Ist es möglich, unabhängig von Identitätserzählungen über die Künste – in diesem Fall über das Theater – nachzudenken, wenn dieses Nachdenken selbst aus dem Schoß dieser Erzählungen geboren und vorangebracht wurde? Wir zweifeln nicht an der universellen Projektion des Theaters, falls dies die Absicht ist, die das Werk definiert. Aber ist es nicht zugleich wahr, dass diejenigen, die nach dem Universalen streben, erkennen müssen, dass sie vom Besonderen ausgehen, fühlen, schaffen und denken? Um ästhetische, poetische und vermeintlich universelle politische Quellen zu erreichen, geht die Kunst des Theaters von Ideen aus, die sich in einer konkreten Materialität, einer Geschichte, einer Gemeinschaft oder in einer Nation manifestieren.
In vorsichtiger Art und Weise wollen wir deshalb – auf Grundlage gemeinsamer Intuitionen, die sich in bestimmten Werken, bei Autoren_innen und in Theaterkompanien herauskristallisieren – eine didaktische und nicht streng akademische Zusammenstellung des theatralischen Pluriversums der Sinti und Roma wagen. Ein solcher Ansatz kann nie mehr sein als eine bescheidene Öffnung gegenüber anderen Ansichten, Stimmen und Studien, die sich zukünftig dieser Frage annehmen werden. Wir respektieren die Forschungsarbeit von Expert_innen auf diesem Gebiet, und es ist weder unser Ziel, diese zu besetzen, noch ist es unser Ziel, eine übergeordnete Position einzunehmen.
Wir möchten Wege beschreiten, die zu besonderen Interpretationsweisen und Visionen des Theaters der Sinti und Roma führen und die mit deren weiteren Belangen in Europa in Beziehung stehen.
Vielmehr möchten wir Wege beschreiten, die zu besonderen Interpretationsweisen und Visionen des Theaters der Sinti und Roma führen und die mit deren weiteren Belangen in Europa in Beziehung stehen. Eine solche Ambition ist unermesslich – und damit auch im Wortsinne weder messbar noch mit einer prägnanten und enzyklopädisch-mechanischen Darstellung über die Komponenten des Theaters der Sinti und Roma zu befriedigen.
Wir schlagen daher eine Hermeneutik der historischen Beziehungen zwischen unserer Gemeinschaft und dieser Kunstform vor. Herauszustellen wäre, in welcher Art und Weise diese Beziehungen zu expliziten, oder nicht expliziten, Vorstellungen über Sinti und Roma beigetragen haben. Das Vorhaben zielt auf die Entdeckung ungeahnter Räume, eines Nexus, der zwischen Identität und ästhetischer Gestaltung sowie zwischen Identität, Macht, Gesellschaft und Dramaturgie verortet ist. Dies ist der rote Faden, der durch unsere Vorhaben läuft. Es ist jenes Minimum, das wir als wesentlich erachten, wenn wir die Absicht artikulieren, Ehrlichkeit und Seele in dieses aufregende und bisher kaum erforschte Feld der Reflexion einzubringen.
Ein Angebot zur Inspiration
Der Theaterbereich des RomArchive bietet prägnante Essays von pointiert poetischen Stimmen, begleitet von Biografien und technischen Aufzeichnungen von historischen wie auch zeitgenössischen Theaterkompanien sowie Interviews mit spezifischen Persönlichkeiten. Damit verbunden ist sowohl eine Einführung für Interessierte als auch ein ernsthafter Anstoß für diejenigen, die die Möglichkeit wahrnehmen möchten, ein komplexes Universum wie jenes des Theaters der Sinti und Roma weiter zu erforschen.
Wenn es also gilt, den gröberen Rahmen der Inspiration festzulegen, in dem die poetischen und politischen Ansätze der Zusammenstellung dieses Archivbereichs erklärt werden, möchten wir uns auf die drei wichtigsten Erfahrungen des internationalen Theaters der Sinti und Roma in der Geschichte beziehen: das Teatr Romen in Moskau (Russland), das Roma-Theater Pralipe in Skopje (im ehemaligen Jugoslawien und heutigen Mazedonien) und das Romathan-Theater im slowakischen Košice.
Es wäre dabei unsinnig, diese drei Realitäten zu homogenisieren und zur einzigen Möglichkeit zu erheben, mit der eine repräsentative Landkarte der theatralischen Vielfalt der Sinti und Roma erstellt werden kann. Dies wäre auch nicht unser Ziel. Dennoch geht die unerbittliche Anforderung an eine schematische Erschließung – selbst im virtuellen Bereich – mit einer komplexen Archivaufgabe einher. Vielmehr soll daher ein Netzwerk von Ansätzen eröffnet werden, das sowohl anderen einen Zugang bietet als auch unser Objekt der Abschweifung literarisch konsolidiert.
Das Nachdenken über das Roma-Theater kann den peripheren Einfluss der bestehenden Machtverhältnisse zwischen der kulturellen und künstlerischen Förderung der Sinti und Roma und den europäischen Institutionen nicht ausblenden. Die Geschichte der endlosen Höhen und Tiefen der früheren »Indo-Roma« sind dafür beispielhaft: die jüdischen Aktivisten Semen Bugachevsky und Moishe Goldblat, unterstützt von Konstantin Sergejewitsch Stanislawski, die Schauspieler_innen des berühmten MHAT (Moskovski hudožestveni akademski teatar) sowie der erste Kulturminister der Sowjetunion Anatoli Lunatscharski, die Gründung des Teatr Romen in Moskau im Jahr 1931 unter Georgij Lebedew und seit 2008 unter der Leitung von Nikolai Slitschenko. Das Teatr Romen entstand unter dem Einfluss der Werke berühmter Autor_innen wie Alexander Germano und ist beispielhaft für die Ambivalenzen in der Unterstützung der Roma-Kultur in der damaligen Sowjetunion.
Doch auch die Förderer des Romen-Theaters hatten einen schwierigen Balanceakt zu meistern: Gemäß ihrer Position standen sie im Dienste der ästhetischen und ideologischen Kriterien der sozialistischen Moderne und Tradition, sie förderten zudem die Dramatisierung klassischer Werke, jedoch dies ausschließlich in Romanes, während ihre weiteren Tätigkeiten vorwiegend in russischer Sprache stattfanden.
Dieser Druck, der sich häufig im Endprodukt solcher Unternehmungen abzeichnet, zeigt sich auch in der Geschichte und Arbeit des Roma-Theaters Pralipe, das vor mehr als 30 Jahren geschaffen wurde. Der Gründer und Regisseur von Pralipe, Rahim Burhan, konnte letztlich die Unterstützung des Theaters an der Ruhr in Mülheim an der Ruhr (Deutschland) gewinnen – insbesondere dank des enthusiastischen Zuspruchs von Roberto Ciulli und Helmut Schäfer. Bis dahin jedoch stieß zu den bestehenden ökonomischen Schwierigkeiten auch die Arbeit des Teams auf zahllose Hindernisse und institutionelle Widerstände. Das Projekt erlitt dabei erhebliche Schäden, wenngleich seinem Vermächtnis ein Platz in der Geschichte gesichert ist.
Der Wunsch, sich in Romanes auszudrücken, stellt – neben vielen anderen Belangen – nicht nur einen großen Teil der Bedeutung dieser Initiativen dar, sondern konstituiert auch einen interessanten bidirektionalen Willen. Auf der einen Seite stehen wir vor der Aufgabe, den heutigen Sinti und Roma in ihrer eigenen Sprache klassische Werke der europäischen Theater- und Literaturgeschichte zu vermitteln, welche zudem oft von der Kultur der Sinti und Roma und ihrer Weltanschauung inspiriert sind. Auf der anderen Seite lässt sich beobachten, wie wichtig es ist, die Mehrheitskulturen zu »romanisieren« und somit Wahrnehmungen und Gegebenheiten als kreative Erfahrung der Sinti und Roma an ein größeres Publikum weiterzugeben.
Um dieserart Vorurteile und Stereotype in Fragen zu verwandeln, haben sich Musik und Dramaturgie als unschätzbare Instrumente erwiesen. Im Kontext einer eminenten Anti-Roma-Gesellschaft haben diese Fragen gar eine Brückenfunktion. Mit diesem Ziel wurde auch das Romathan-Theater im Jahr 1992 in der Slowakei gegründet. Es hat von Anfang an seine Werke sowohl vor dem konventionellen Publikum der europäischen Theater als auch vor den Roma-Gemeinschaften prekärer Randsiedlungen präsentiert. Die Musik der Rom_nja auf dem Balkan und die Dramatisierung der historischen Ereignisse, die die Geschichte der Rom_nja verheerten, werden in der Hand von Romathan und den zuvor genannten Theatern in Werkzeuge des Gemeinschaftsstolzes und in Strategien gegen Rassismus verwandelt. Vom künstlerischen Schaffen in den Theatern der Sinti und Roma in Europa profitieren jedoch nicht die Roma und Sinti allein, sondern die westlichen Gesellschaften selbst.
Diesen drei Erfahrungen der Künste der Sinti und Roma im Theaterbereich und im komplexen institutionellen Feld fügen wir eine Reihe sehr verschiedener unabhängiger Projekte hinzu. Insgesamt betrifft das zehn Theatergruppen und mehr als zwanzig referenzierte Theaterstücke, die individuelle und kollektive Schlaglichter auf die Entwicklungen in verschiedenen europäischen Ländern werfen.
Musik und Farbe, Tanz und Gesang, politische Botschaft und Drama: In ihrem Zusammentreffen wurde das Roma-Theater der geboren, irreduzibel – und so wollen wir es in das RomArchive übertragen. Wie wir wiederholt betont haben, kennen wir die Grenzen unserer Aufgabe, und aus diesem aufrichtigen Bewusstsein gegenüber den Gefahren stellen wir den Leser_innen diese historischen, einleitenden Worte, notwendigerweise unvollständig, zur Verfügung. Große Namen wie Rahim Burhan oder José Heredia Maya; Projekte wie der Cirque Romanès, Giuvlipen, das Rroma Aether Klub Theater oder das Theater Romance; Werke wie »Džiiben pre roty« (›Leben auf Rädern‹) von Alexander Germano, »I Declare at My Own Risk« (›Ich sage auf eigene Gefahr aus‹) von Alina Şerban und viele andere. Sie alle füllen nicht nur leere Seiten, sie öffnen auch die Tür für alles, was mit dem Theater der Sinti und Roma zu tun hat. Hoffentlich zur Freude und zum Vergnügen derer, die den Mut haben, eine Welt zu betreten, die zweifellos immer nur in Verkleidung erscheint.
Miguel Ángel Vargas und Dragan Ristić
Übersetzung: Michael Baute