Trostlosigkeit und erbärmliche Armut. Ein Lagerfeuer mitten in einem unwirtlichen russischen Wald. Ein alter Wagen. Die Rom_nja, die in diesem Lager wohnen, sind nicht weniger verwahrlost als das Gefährt. Es ist das Zentrum ihres »fahrenden Lebens«. Die Kleider sind zerlumpt, ebenso die zusammengeflickten Zelte. Alte Frauen singen traurige Lieder und verfallen immer wieder in Zuckungen »wilder« Tänze. Ein junges Waisenmädchen namens Grina weint so bitterlich, dass sie nicht mehr genug Kraft besitzt, ebenfalls um das Lagerfeuer tanzen, ja, nicht einmal, um ein trauriges Lied zu singen, denn das bemitleidenswerte Waisenmädchen soll an einen wohlhabenden Rom aus einem Nachbarlager verkauft werden, und zwar für den erstaunlichen Preis von fünftausend Rubel.
»Das fahrende Leben« (1931) am Staatlichen Roma-Theater Romen in Moskau
Beherrscht wird diese Szene des Elends, der Armut und der Verzweiflung von Vangar – einem gewalttätigen und unersättlich gierigen Kulak (Ausbeuter). Als typischer Konterrevolutionär beharrt er auf dem »nomadischen Zigeunerleben«, die neue Sowjetkultur und das sozialistische Wirtschaftssystem sind ihm suspekt. Die jungen Leute des Lagers aber träumen von einem Leben in den umtriebigen sowjetischen Städten, wo stolze und glückliche sowjetrussische Fabrikarbeiter_innen gerade ein neue sozialistische Gesellschaft aufbauen. Vangar führt das Lager mit eiserner Faust und beutet dabei erbarmungslos die armen Lagerbewohner_innen aus. Er ist es auch, der den Plan ausgeheckt hat, Grina an den höchsten Bieter zu verkaufen. Vangar verfügt über eine ganze Entourage von ihm assistierenden Lakaien, die sich nicht davor scheuen, ihre Peitschen zu gebrauchen und alle Rom_nja zu schlagen, die sich den Befehlen ihres Chefs widersetzt. Vangar ist wohlgenährt und trägt warme, begehrenswerte Stiefel. Die von ihm ausgebeuteten, mittellosen Rom_nja dagegen hungern und frieren. Sie singen leise Lieder über Vangars Verschlagenheit und verfluchen ihn als einen Tyrannen, der nicht viel besser sei als der »verfluchte Zar« aus der jüngsten russischen Vergangenheit.
Das ist die Kulisse für das Drama »Džiiben pre roty« [›Das fahrende Leben‹] (1931), ein Theaterstück in Romanes, das 1931 in Moskaus Staatlichem Roma-Theater Romen uraufgeführt wurde. Autor des Schauspiels ist A. V. Germano, der berühmteste Roma-Autor der jungen Sowjetunion. Er verfasste unter dem roten Stern des Bolschewismus Dichtung und Prosa über die Emanzipation der Rom_nja. Germano stellte ein fiktives Roma-Lager in den Mittelpunkt von »Das fahrende Leben«, um im Sinne der Bolschewiki dem sowjetischen Publikum die Misere der Rom_nja vor Augen zu führen. Vor allem aber sollte Germanos Schauspielstück, geschrieben im Stil des sozialistischen Realismus, den Rom_nja unter den Zuschauer_innen den Weg zeigen, wie sie sich als »zurückgebliebene Zigeuner« mit der großzügigen Hilfe des sowjetischen Staates in die sich rasch entwickelnde sozialistische Gesellschaft integrieren können. »Das fahrende Leben« war eindeutiges, sowjetisches Moraltheater: Geknechtete Rom_nja sollten beherzt ihre dunkle Vergangenheit überwinden, sich von ihren Kulak-Ausbeutern befreien und sich im Licht der sowjetischen Aufklärung zu gebildeten, produktiven Bürger_innen entwickeln, die sich dem Aufbau des Sozialismus unter Josef Stalins weiser Führung widmen.
In »Das fahrende Leben« erreicht der Geist des Bolschewismus das armselige Vagantenlager in Form des tapferen jungen Roma-Helden namens Kalysh. Unter Zar Nikolaus II. zu Unrecht verurteilt, hat Kalysh seine Brüder aus Vangars rückständigem Lager seit Jahren nicht gesehen. In den glorreichen Tagen der Oktoberrevolution war Kalysh von den Bolschewiki befreit und in den Rängen der Roten Armee willkommen geheißen worden. Als Rotarmist kämpfte er nicht nur tapfer für die neue bolschewistische Lebensweise, sondern lernte auch lesen und schreiben. Nach dem russischen Bürgerkrieg machte Kalysh bei den Bolschewiki Karriere und unterstützte deren Bemühungen, die nomadischen Rom_nja als Fabrik- oder Landarbeiter_innen in die sowjetische Lebensweise einzugliedern. Nachdem er erfahren hat, wo sich Vangars Lager befindet, fährt er in die nächstgelegene Stadt, um seine Verwandtschaft aus Vangars ausbeuterischem Griff zu befreien.
Das Gerücht von Kalyshs Rückkehr schürt Vangars gewalttätigen Zorn und nährt die Hoffnung der armen Rom_nja im Lager. Im Chor singen sie von einer glorreichen sowjetischen Zukunft, die kurz bevorstehe:
»Die ›Zigeuner‹ führen ein fahrendes Leben
Und das seit vielen vielen Jahren
Doch das Land der Sowjets
Verspricht uns nun ein neues Leben.«
Kalysh aber bringt mehr als nur das Versprechen eines neuen Lebens mit sich ins Lager. Er erzählt von konkreten sowjetischen Errungenschaften. In Moskau, so berichtet er den armen Rom_nja, gebe es ein »Zigeunertheater« und eine gesamtrussische »Zigeuner-Union«. Die sowjetische Macht biete den nomadischen Rom_nja Land, damit sie sich niederlassen und Kolchosen bilden könnten. In den sowjetischen Fabriken gebe es ehrliche Arbeit für die Rom_nja, und ihre Kinder könnten Schulen besuchen.
Im Land der Sowjets würden die Rom_nja Seite an Seite mit ihren Mitbürger_innen den Sozialismus aufbauen. In dieser neuen Welt gebe es für Ausbeuter wie Vangar keinen Platz mehr. Mit der ungestraften Unterdrückung der Armen und Schwachen sei es vorbei. »Unproduktive« und »rückschrittliche« Lebensweisen wie Nomadentum, Wahrsagerei, Bettelei oder Tanzen für Almosen gehörten der Vergangenheit an. In der Sowjetunion seien die Rom_nja gleichberechtigte Bürger_innen und müssten als solche zur Schule gehen und für die sozialistische Wirtschaft harte Arbeit verrichten. Sie sollten sich vollständig in die moderne, sesshafte sowjetische Lebensweise eingliedern und sich von ihrem fahrenden Leben verabschieden. Im Gegenzug erhielten sie die Fürsorge und finanzielle Unterstützung, die die Sowjetmacht all ihren Bürger_innen gewähre.
Mithilfe der Aussicht auf die sowjetische Emanzipation und gesellschaftliche Umgestaltung überredet Kalysh die armen Leute des Lagers, Vangar zu stürzen. Sie verzichten auf ihr Nomadentum und beginnen ein neues Leben der bürgerlichen Integration in die Sowjetunion. Die bitteren Tränen der Ausbeutung verwandeln sich in die der Freude darüber, dass sie die Macht der Sowjets selbst in Händen halten – sie lernen, »wie Menschen zu leben, nicht wie Wölfe«. Von Vangar fordern sie ihre Pferde zurück, bevor sie ihn vertreiben. Er flieht, seiner Macht beraubt. Bevor der Vorhang am Ende des Stücks fällt, sieht man die junge Grina in der Mitte der Bühne voller Freude tanzen – immer noch eine Waise, aber jetzt Herrin ihres eigenen glücklichen Schicksals im Land der Sowjets.
Der Gründung des Teatr Romen ging eine lange und komplexe Geschichte künstlerischer Darbietungen von Roma-Künstler_innen sowohl im zaristischen als auch im revolutionären Russland voraus.
Germano, der Autor des Stücks, wird später eingestehen, mit dieser ersten Premiere eines abendfüllenden Stücks im Staatlichen Roma-Theater Romen ein recht mechanistisches Porträt einer revolutionären Umgestaltung geschaffen zu haben. Doch dass »Das fahrende Leben« vom Sowjetstaat überhaupt in Auftrag gegeben worden war und 1931 im neugegründeten Teatr Romen aufgeführt werden konnte, war ein Sieg der Roma-Aktivist_innen und -Künstler_innen, die sich seit Jahren beim Staat für die Entwicklung einer Roma-Kunst im sowjetischen Stil eingesetzt hatten. Der Gründung des Teatr Romen ging eine lange und komplexe Geschichte künstlerischer Darbietungen von Roma-Künstler_innen sowohl im zaristischen als auch im revolutionären Russland voraus. Die Gründung des Teatr Romen ist somit den unermüdlichen Bemühungen der Roma-Künstler_innen und -Darsteller_innen um die Anerkennung der Roma-Kunst in der stalinistischen Sowjetunion zu verdanken.
Lange bevor die Bolschewiki in der Oktoberrevolution von 1917 die Macht ergriffen, spielten Musik und Tanz der Rom_nja bereits eine besondere Rolle in der zaristischen russischen Kultur. Während des ausgehenden 19. Jahrhunderts herrschte in der elitären russischen Gesellschaft eine wahre »Zigeunermode«. Die russische Elite liebte es, teure Restaurants zu besuchen, in denen Roma-Musiker_innen die Gäste mit Tanz und Gesang unterhielten. Für die Roma-Künstler_innen war dies ein lukratives Geschäft, das ihnen Reichtum brachte, wodurch sie ihre Kinder sogar auf angesehene Schulen schicken konnten. Im ausgehenden Zarenreich erlangten die »Zigeunerchöre« einen Höhepunkt der Beliebtheit, und viele Roma-Familien, die in diesem Metier tätig waren, gehörten der Elite der russischen Gesellschaft an.
Nach den russischen Revolutionen von 1917 und dem traumatischen Bürgerkrieg, in den sie mündeten, hatten es die Rom_nja in der jungen bolschewistischen Gesellschaft schwer, die in der Zarenzeit so beliebten Tanz- und Musiktraditionen aufrechtzuerhalten. Die Bolschewiki verbanden die »Zigeunermusik« mit bürgerlicher Dekadenz und verurteilten die Aufführungen der Roma-Chöre als ethnografisch unauthentisch, pornografisch und kleinbürgerlich konterrevolutionär.
Im Allgemeinen begegneten die Bolschewiki der Roma-Bevölkerung der Sowjetunion mit großen Vorbehalten. Von Stereotypen und Vorurteilen verzerrt, sahen sie in den Rom_nja die Antithese zum noch zu erschaffenden »neuen Sowjetmenschen«. Mit der erklärten Absicht »des Neuwerdens von Mensch und Welt« stellten sich die Bolschewiki eine moderne Gesellschaft engagierter Bürger_innen vor, die schwer und erfolgreich für die sozialistische Wirtschaft arbeiten sollten und Bildung, Hygiene und Kultur schätzten. In der Annahme, dass alle »Zigeuner« (tsygane war in der Sowjetunion eine offizielle Nationalität) extrem »rückschrittlich« seien, verstanden die Bolschewiki die Rom_nja als Menschen, die dem marxistischen Verständnis nach in der Menschheitsentwicklung auf einer primitiven Stufen stehengeblieben seien. Die Rom_nja waren in ihren Augen ziellos umherziehende Nomad_innen, schmutzige Analphabet_innen und böswillige Parasiten, die meilenweit von der sozialistischen Wirtschaft und Kultur entfernt waren, die es zu erschaffen galt.
Die Rom_nja aber waren nur eine der vielen ethnischen Minderheiten in der Sowjetunion, die von den Bolschewiki für »rückschrittlich« gehalten wurden und für die sie ihre Nationalitätenpolitik schufen. Der Historiker Terry Martin bezeichnet diese Nationalitätenpolitik als das »affirmative action«-Programm der Sowjets. Die Bolschewiki versprachen den ethnischen Minderheiten der Sowjetunion »Besserung« und »Fortschritt«, und zwar durch eine Reihe von staatlichen Projekten, die die einzelnen Nationalitäten fördern und sie von ihrer »Rückschrittlichkeit« befreien sollten, zu der sie die zaristische Regierung verdammt hatte. Den Rom_nja und den anderen »rückschrittlichen« ethnischen Minderheiten in der frühen Sowjetunion wurde nicht nur ein erleichterter Zugang zu Arbeit und Bildung versprochen, sondern auch die Förderung der einzelnen Nationalsprachen, Schriftsysteme, Literaturen, Theater, muttersprachlichen Schulen und Territorien (innerhalb der UdSSR). Dem berühmten Slogan der Bolschewiki nach sollte alles »national in der Form, proletarisch im Inhalt« sein. Mit anderen Worten sollte die Nationalitätenpolitik dazu dienen, die ethnischen Minderheiten der Sowjetunion mithilfe eines institutionalisierten ethnischen Partikularismus in die moderne, sozialistische Wirtschaft und neue Sowjetkultur einzugliedern.
Die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki schuf damit die Bedingungen dafür, dass die Rom_nja und andere Minderheiten der Sowjetunion ethnisch begründete Forderungen für sich und für ihre Nationalität stellen konnten (was sie auch weidlich taten). Dadurch entsprachen sie der »national in der Form, proletarisch im Inhalt«-Logik, die vom sowjetischen Staat vorgegeben worden war. Durch Einhaltung der Bedingungen der ethnisch begründeten »affirmative action« der Sowjets integrierten sie sich und wurden Teil der sowjetischen Wirtschaft und Kultur. Rom_nja waren keine Ausnahmen mehr. Tatsächlich wären das Teatr Romen und Germanos Stück »Das fahrende Leben« ohne die Nationalitätenpolitik in Stalins Sowjetunion undenkbar gewesen.
In der Sowjetunion der 1920er Jahre setzten sich Roma-Aktivist_innen und -Künstler_innen engagiert für die Gründung eines Nationaltheaters ein. Gemäß der Logik der Bolschewiki argumentierten sie, dass die Schaffung eines Sowjetischen Roma-Theaters für die Kunst der Rom_nja sie endgültig vor den Demütigungen der kapitalistischen Vergangenheit »retten« und den Rom_nja einen Übergang in die sowjetische Lebensweise erleichtern werde. Auf der Bühne dieses neuen Theaters würden Roma-Künstler_innen einem Roma-Publikum in der eigenen Sprache neue Lieder des sowjetischen Sozialismus vortragen. Das Theater erfülle damit eine zentrale erzieherische Funktion und bringe einem Publikum aus »zurückgebliebenen Zigeunern« die Werte des sowjetischen Sozialismus nahe. Im Oktober 1930 befürwortete das Volkskommissariat für Bildungswesen die Gründung des Teatr Romen, dem ersten Theater dieser Art auf der ganzen Welt.
»Das fahrende Leben« konnte Ende 1931 Premiere feiern. Bunte Teppiche und ein abgewrackter Wagen bildeten die Kulisse. Die weiblichen Akteure trugen buntgemusterte Kleider, die männlichen wilde Bärte. Die Augen hatten sie mit Kohlestift umrandet, in den Händen hielten sie Pferdepeitschen. Ein Theaterkritiker spottete über die plumpe Exotik der Kulisse, aber sowjetische Funktionär_innen und Theaterkritiker_innen lobten das Stück als einen Erfolg für das junge Theater.
Mit »Das fahrende Leben« begann für das Teatr Romen und sein Ensemble ein anstrengendes Jahrzehnt, da man alle Register ziehen musste, um den stets rigider werdenden Auflagen der sowjetischen Regierung bezüglich Kunst, nationaler Politik und »sozialistischer Inhalte« genügen zu können. In den 1930er Jahren drohten die sowjetischen Behörden immer wieder damit, das Teatr Romen zu schließen. Hinter der Kulissen waren Roma-Aktivist_innen und -Künstler_innen des Teatr Romen ständig darum bemüht, das eigene Kunstverständnis gegenüber den Vorstellungen der Sowjetregierung, wie Roma-Kunst auszusehen habe, zu verteidigen und gleichzeitig den sich ständig wechselnden Anforderungen der stalinistischen Politik und Kultur nachzukommen.
In den frühen Jahren des Teatr Romen wurden vorwiegend von Roma-Autoren verfasste Stücke auf Romanes gespielt. Wie »Das fahrende Leben« vermochten es auch diese Stücke, den sozialistischen Realismus mit der Logik der sowjetischen Nationalitätenpolitik zu verbinden. Fast immer handelte es sich um schlichte Geschichten über »rückschrittliche Zigeuner«, die zu »Neu-Sowjet-Zigeunern« wurden. Das Schauspielerensemble des Teatr Romen spielte diese Stücke sowohl in Moskau als auch – in den Sommermonaten – in den Roma-Kolchosen der ganzen Sowjetunion.
Schon 1933 aber meldeten sich nicht nur in der Theaterleitung, sondern auch außerhalb davon Stimmen, die forderten, vom eingeschlagenen Kurs abzuweichen und ein »klassischeres Repertoire« zu spielen. 1934 kam es im Teatr Romen zur Premiere von Prosper Mérimées »Carmen« (1845), die von der sowjetische Presse mit enttäuschenden Rezensionen bedacht wurde. Von Anfang an waren – sowohl innerhalb aber auch außerhalb des Theaters – Zweifel am Grundsatz aufgekommen, im Theater ausschließlich Stücke von Roma-Autor_innen und auf Romanes zur Aufführung zu bringen und keine russischen Stücke. Der Großteil des Publikums im Moskauer Teatr Romen verstand jedoch kein einziges Wort Romanes. Und auch viele Schauspieler_innen des Ensembles beherrschten die Sprache der Rom_nja nur ungenügend und wollten lieber auf Russisch spielen. Zu dieser Zeit störten sich die Roma-Mitglieder des Ensembles zunehmend am Verhalten einiger Nicht-Roma-Vertreter der Theaterleitung und warfen ihnen Respektlosigkeit vor. Außerdem wurden die Sowjetbehörden mit Subventionen immer zurückhaltender. Mitte der 1930er Jahre befand sich das Teatr Romen unübersehbar in einer Krise.
1937 kam es zu einer Anzahl von Entscheidungen, die das Teatr Romen umfassend verändern sollten. M. M. Ianshin, ein Star des angesehenen Moskauer Künstlertheaters, wurde neuer künstlerischer Leiter des Teatr Romen. Als Russe war Ianshin vom Volkskommissariat für Bildungswesen ausgewählt worden, um nicht nur das Repertoire, sondern auch das künstlerische Niveau des Teatr Romen zu verbessern. Ianshins Strategie war einfach: Das Teatr Romen sollte statt auf Romanes nur noch auf Russisch spielen. Zwar standen meistens noch Stücke von Roma-Autor_innen auf dem Programm, allen voran von I. Rom-Lebedev, doch sollten vermehrt klassische Stücke der Weltliteratur oder der hohen Literatur Sowjetrusslands ins Repertoire aufgenommen werden.
Unter Ianshins Leitung führte das Teatr Romen 1938 eine neue Theateradaption von Alexander Sergejewitsch Puschkins Gedicht »Die Zigeuner« auf. Das Stück wurde auf Russisch gespielt – die Sprache Puschkins und die Sprache der »Ersten unter den Gleichen«: die Sprache der russischen Nation. Mit diesem Stück wurde dem sowjetischen Publikum genau jenes Bild der »Zigeuner« vorgesetzt, das die Bolschewiki einst für immer von der Bühne verbannen wollten. Puschkins »Zigeuner« sind heißblütig und anarchisch, faszinierende Anhänger_innen der Freiheit, sie verweigern sich geordneten Gesellschaftsverhältnissen und führen ein Vagantenleben. Puschkins Charakter der Zemfira, einer feurigen »Zigeuner«-Schönheit, verführt ihren russischen Liebhaber Aleko und überredet ihn dazu, der modernen Gesellschaft zu entsagen und ihr in die wilde Steppe zu folgen. Sowjetische Theaterkritiker erhoben diese Produktion zum Triumph, endlich spiele man am Teatr Romen authentische« Roma-Kunst!
Die Theatervorstellungen sollten »der Form nach nationalistisch, dem Inhalt nach sozialistisch« sein.
Zweifellos birgt der Weg, den das Teatr Romen von Germanos »Das fahrende Leben« von 1931 bis zur triumphvollen Aufführung von Puschkins »Die Zigeuner« unter Ianshin im Jahr 1938 zurücklegte, viel Ironie der Geschichte. Doch darüber hinaus offenbart sich darin in entlarvender Weise, welche Entwicklungen die stalinistische Kultur und die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion während der 1930er Jahre durchliefen. Beide Produktionen folgten, jede für sich und auf ihre spezifische Zeit und auf die jeweiligen Bedingungen bezogen, der bolschewistischen Logik, die 1931 zur Gründung des Teatr Romen geführt hatte: Die Theatervorstellungen sollten »der Form nach nationalistisch, dem Inhalt nach sozialistisch« sein. Ende der 1930er Jahre waren Leitung, Ensemble und Publikum des Teatr Romen ganz im Sinne des stalinistischen Konzepts der kul’turnost’ zu einem Teil sowohl der sowjetischen Kultur als auch der Weltkultur geworden. Ohne »Das fahrende Leben« von 1931 wäre es nie zur triumphalen Einspielung von »Die Zigeuner« gekommen. Außerdem sicherten beide Stücke die Fortexistenz des Teatr Romen als ein Element nicht nur der sowjetischen und russischen Geschichte, sondern auch der allgemeinen Geschichte der Sinti und Roma.
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