Das Roma-Theater »Pralipe« (Romanes für »Bruderschaft«) wurde von Rahim Burhan (* 1949) in einem Umfeld voller Optimismus und Aufbruch der Roma-Bewegung in der Roma-Siedlung Shutka in Skopje, Mazedonien, der größten zusammenhängenden Roma-Siedlung Europas, gegründet.
Das Roma-Theater »Pralipe«
Zu dieser Zeit gab es eine sprunghafte Entwicklung: Gerade war mit dem Film »Skuplači Perja« (deutscher Titel »Ich traf sogar glückliche Zigeuner«, 1967) von Aleksandar Petrovic erstmalig ein Film, in dem Romanes gesprochen wurde, international ausgezeichnet worden (»Oscar« für den besten ausländischen Film in Los Angeles/USA, »Goldene Palme« in Cannes/Frankreich).
1971 fand der erste Welt-Roma-Kongress in London statt. Dort wurde die International Roma Union (IRU) mit Yul Brynner als Ehrenpräsident gegründet, der Begriff »Roma« als Eigenbezeichnung für die Minderheit im Gegensatz zu der Fremdbezeichnung »Zigeuner« festgelegt und das Lied »Gelem, Gelem« aus dem Soundtrack des Filmes zur Roma-Hymne erklärt. An diesem Prozess hatten Aktivist_innen aus dem ehemaligen Jugoslawien einen besonderen Anteil.
In diesem intellektuellen Klima entstand mit dem Theater Pralipe die über Jahrzehnte hinweg wichtigste kulturelle Institution der Minderheit des Landes. Die erste Performance der Gruppe im Jahr 1970 war ein Protest gegen den Vietnamkrieg, »No, No« (›Nein, Nein‹). Das Theater wurde schnell in ganz Jugoslawien bekannt. Zentrale Inszenierungen der ersten Phase des Theaters waren die Aufführungen »Mautije« (»Die Göttin der Violinen«, 1973) und die Performance »Soske?« (›Warum?‹, 1975).
Das Theater Pralipe war mit diesen Inszenierungen auf den wichtigsten Theaterfestivals Jugoslawiens zu sehen. Es wurde aber auch 1977 zu dem legendären französischen Theaterfestival von Nancy unter der Leitung von Jack Lang eingeladen, der im Jahr 1985 auch die erste internationale Ausstellung internationaler zeitgenössischer Kunst der Sinti und Roma in der Conciergerie von Paris veranstaltete.
Das Theater beschäftigte sich neben den selbst entwickelten Texten auch mit europäischen Theaterklassikern, wie zum Beispiel »König Ödipus« nach Sophokles, mit dem das Theater in Delphi in Griechenland beim ersten dortigen Theaterfestival gastierte. Die Aufführungen des Theaters fanden ausschließlich in Romanes statt. Bis auf wenige Ausnahmen wurden die Theaterszenen nie übertitelt, sodass das Theater auf der einen Seite eine wichtige Rolle bei der Sprachvermittlung und beim Spracherhalt der Sprache Romanes übernahm, aber auf der anderen Seite eine ganz eigene, fesselnde Theatersprache von großer Körperlichkeit und einer imaginativen Bildsprache entwickelte, um auch sein internationales Publikum zu erreichen.
Das Theater bildete sich aus einem relativ konstanten Ensemble um seinen Regisseur Rahim Burhan, das in dieser Kontinuität in der Lage war, diese eigene künstlerische Handschrift zu formen. Inspiriert war das Theater von den Schriften des französischen Theatertheoretikers Antonin Artaud und vom polnischen Theatermacher Jerzy Grotowski, aber auch durch die Orientierung an indischen Darstellungsformen wie dem Kathakali. Im Laufe der 34-jährigen Geschichte des Theaters wurden zahlreiche zentrale Theatertexte auf Romanes übersetzt. Rahim Burhan ist aber auch in der zeitgenössischen Schriftstellerszene des ehemaligen Jugoslawiens vernetzt, sodass wichtige in Romanes verfasste oder ins Romanes übersetzte zeitgenössische Theatertexte gespielte wurden.
1990 begann die Kooperation mit dem Theater an der Ruhr in der deutschen Stadt Mühlheim. Der dortige Theaterleiter Roberto Ciulli, der in dieser Zeit ganz besonders mit der jugoslawischen Kulturszene und speziell mit dem internationalen Belgrader Theaterfestival BITEF verbunden war, hatte das Theater Pralipe nach Mülheim zum ersten Festival unter dem Titel »Theaterlandschaft Jugoslawien« eingeladen. Im Zuge des Verfalls des Vielvölkerstaates und aufgrund der daraus resultierenden prekären krisenhaften Situation Mazedoniens gelang es Ciulli 1991 schließlich mit Mitteln des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) und des Bundes, das Theater Pralipe als festes und eigenständiges Theaterensemble in Mülheim zu etablieren.
Das neue Theater mit seiner ungekannten Theatersprache wurde zu einem gesamtdeutschen Erereignis der Bühnenkunst. Die Produktion »Bluthochzeit« nach dem Text von Federico García Lorca, die im Januar 1991 in Mülheim Premiere hatte, wurde zu einem sensationellen Erfolg und im Laufe der Jahre fast 400 Mal in ganz Europa gespielt. 1992 erhält das Theater Pralipe den deutschen Kritikerpreis für das beste Theater in Deutschland.
Im Zuge der rassistischen Übergriffe in den 1990er Jahren unternahm das Roma-Theater eine aufsehenerregende Tournee durch die neuen Bundesländer in Deutschland und gab 1995 in Österreich ein Gastspiel im Wiener Burgtheater mit »Romeo und Julia« von William Shakespeare, in Protest gegen die (im gleichen Jahr begangenen) Morde an 4 Roma im österreichischen Oberwart.
Im selben Jahr verließ der Schauspieler Nedjo Osman das Theater Pralipe, der seit der Gründung des Theaters im Ensemble eine zentrale Rolle hatte, und gründete 1996 in Köln mit der Regisseurin Nada Kokotovic das Theater TKO in Köln.
Wichtige Inszenierungen der Mülheimer Zeit des Theaters Pralipe waren »Othello« von William Shakespeare, »Yerma« von Federico García Lorca, einem Autor, dem das Theater besonders verbunden war (Auszeichnung mit dem Lorca-Preis des ITI, Fuente Vaqueros/Spanien), »O Baro Phani« (›Das Große Wasser‹) nach Zivko Čingo (Preis für die beste Inszenierung des 12. NRW-Theatertreffens 1993), »Mutter Courage« von Bertolt Brecht, »Klassenfeind« von Nigel Williams, »Tetovirime Vogja« (›Tätowierte Seelen‹) von Goran Stefanovski sowie »Z2001 – Die Tinte unter meiner Haut« (unter anderem mit erfolgreichen Aufführungen in Berlin) und »Kosovo man amour« (›Übersetzung‹) von Jovan Nikolić und Ruzdija Sejodvić (Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen).
Im Jahr 2001 kam es zur Trennung vom Theater an der Ruhr. Das Theater musste fortan als eigenständiger Betrieb gefördert vom Land NRW und der Bundesrepublik Deutschland unter dem neuen Namen »European Rom Theatre Pralipe« bestehen. Nach einer provisorischen Phase in Düsseldorf und nachdem es nicht gelang, das Theater dort fest anzusiedeln, zog das Theater nach Köln. Eine alte Industriehalle im Stadtteil Ehrenfeld wurde schließlich zum »Theaterhaus Europa« umgebaut. Mit diesem Projekt verfolgte das Theater das Ziel, ein Haus der Kooperation und Zusammenarbeit für Theaterkünstler_innen aus ganz Europa zu schaffen, die das Theater auf seinen ausgiebigen Gastspielreisen kennengelernt hatte.
In der Zwischenzeit war das Theater Pralipe mit den Produktionen »Kalea« von Dragica Potočnjak (Premiere in Wien) und mit seinem eigenem Zirkuszelt mit »Carmen« nach Prosper Mérimée (mit der Livemusik einer Sinti-Band unter der Leitung von Pesso Krause, inspiriert von der Oper von Georges Bizet) sowie mit den Produktionen »Sheherezade« (Premiere in Sevilla) und »Khamoro« auf Tournee. Ein spektakuläres Gastspiel mit »Carmen« im Jahr 2003 im englischen Newcastle upon Tyne sollte jedoch der letzte große internationale Erfolg des Theaters bleiben. 2004 musste Pralipe Insolvenz anmelden.
Das internationale Theater verlor eine einzigartige Stimme und die Minderheit ihre wichtigste Institution, die es verstanden hatte, für die Kultur der Sinti und Roma eine zeitgenössische Theatersprache zu finden.
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