Dass es keine einheitliche Linie gab, hieß, dass Maßnahmen gegen Roma auf verschiedenen behördlichen Ebenen beschlossen und umgesetzt werden konnten. Dabei schienen die östlichen Verbündeten der Nationalsozialisten besonders eifrig auf »Liquidierung« und »Vernichtung« bedacht und konnten ihre Werkzeuge frei wählen.
Die Art und Intensität der Verbrechen waren das Resultat des Zusammenwirkens von lokalen Beziehungen, Ideologien, Netzwerken, Interessen. Dass es keine Synchronität oder festen Regeln gab, bedeutete nicht nur verschiedene Formen der Verfolgung, sondern auch eine sich ständig ändernde Anti-Roma-Politik, die sich im Lauf der Zeit gegen unterschiedliche Gruppen richtete.
Eine weitere Schwierigkeit bei der Identifizierung von Roma, die den Verbrechen des Nationalsozialismus zum Opfer fielen, liegt in der euphemistischen Sprache, mit der die Täter_innen Gewalt verschleierten.
Im Frühjahr 1936 wurde die »Rassenhygienische und bevölkerungsbiologische Forschungsstelle des Reichsgesundheitsamts« unter der Leitung von Robert Ritter eröffnet, um
»mit exakter Methodik die Ursachen gesellschaftlicher Entwicklungen in der Biologie, d.h. letztlich in der Vererbungslehre offenzulegen, um die Auslöschung der Nicht-Integrierten und Unproduktiven zu legitimieren«.
Auch wenn das rassistische Motiv bei den Verfolgungen klar war, dienten Worte wie »arbeitsscheu«, »Zigeunerbedrohnung«, »Zigeunerfrage« oder »asozial« dazu, das eigentliche Programm zu bemänteln.
Die Verbrechen gegen Roma in Ungarn fügen sich in die oben beschriebene Dualität ein. Die Umwandlung der cigánykérdés (Zigeunerfrage) zu einem cigányprobléma (Zigeunerproblem) vollzog sich als Weg von der Marginalisierung und Ausbeutung hin zur institutionellen Verfolgung und aufgezwungenen Kategorisierung parallel zur Entwicklung in Deutschland.
Am 2. Oktober 1912 kündigte Gábor Tóth, Stadtrat im ostungarischen Tiszaföldvár, folgenden Antrag an:
»Die ehrenwerte Generalversammlung wird an die Regierung des Königreichs Ungarn appellieren, die ›Zigeunerfrage‹ landesweit zu lösen. Ein Gesetzentwurf wird eingebracht werden, um zu verhindern, dass die Flut der Zigeunerwagen unser Land ausplündert.«
Kategorien, die zuvor bereits abgeschafft worden waren, gelangten durch legislative Maßnahmen und Gerichtsurteile zunehmend zurück in die politische Sphäre. In Ungarn legte Artikel Nr. XXI/1913 über »Landstreicher als öffentliche Bedrohung« fest, dass »reisende Roma und andere Individuen«, die sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht haben, zu gemeinnütziger Arbeit verpflichtet werden konnten.
Zwar hatten die Roma seit jeher ein administratives Problem für den Staat bedeutet. Doch dieser Artikel schuf den ersten rechtlichen Rahmen, um reisende Roma und andere Individuen in Arbeitshäusern zu internieren, wenn sie nicht sesshaft wurden und sich den Regeln der Mehrheit in Sachen Hygiene und Reinheit unterwarfen.
Das nordungarische Komitat (Verwaltungsbezirk) Esztergom zählte zu den ersten, die den Roma Restriktionen auferlegten – und seinen Maßnahmen und Vorschlägen, publiziert am 30. August 1912, folgten die anderen Teile des Landes.
1913 setzte sich die Komitatsverwaltung Jász-Nagykun-Szolnok in einer Verlautbarung für den Aufruf aus Esztergom ein, die »Zigeunerfrage« landesweit zu regeln. In der Verlautbarung hieß es, diese »Frage«, die sich zu einer »Seeschlange« auswachse, sei gemäß der folgenden Anweisungen anzugehen: 1. Die Population von Roma solle binnen drei Jahren vollständig registriert werden, einschließlich Fingerabdrücken. 2. Jene »Zigeuner«, die sich überhaupt nicht ausweisen können, die als Bedrohung für jemandes Eigentum oder für die öffentliche Sicherheit gelten oder außerstande scheinen, eine Familie zu ernähren, sollten außer Landes verwiesen werden. Keine vagabundierenden »Zigeuner« sollten das Land betreten dürfen. Der Verlautbarung folgten ähnliche Aufrufe, zum Beispiel aus den Komitaten Szabolcs und Lipót.
1916 kam es zu ersten ungarnweiten Polizeirazzien gegen Roma. 1922 tat die Komitatsverwaltung von Heves ihre Unterstützung für den Aufruf zu einer einheitlichen Regelung der »Zigeunerfrage« kund und nannte sieben Schritte, die sie dabei für nötig hielt:
- Auflistung von »Zigeuner« in sämtlichen Polizeidistrikten, Verbot ihrer Bewegungsfreiheit und Rückführung an ihre registrierten Wohnorte.
- Registrierung ihrer Pferde und anderen Transportmittel.
- Ausgabe von »Zigeuner«-Personalausweisen, die neben den persönlichen Daten auch die Fingerabdrücke enthalten; gültig sind diese Ausweise nur innerhalb des Komitats Heves.
- »Zigeuner«-Fuhrwerke werden von den örtlichen Behörden verwahrt.
- Eine Genehmigung der örtlichen Behörden ist erforderlich, wenn »Zigeuner« ihren registrierten Wohnort verlassen wollen.
- In einem solchen Fall können Ausnahmen gemacht werden, wenn jemand als vertrauenswürdig gilt, eine feste Arbeit hat oder regelmäßig zur Arbeit geht. Die Leitung der örtlichen Behörde wird zur Verantwortung gezogen, wenn die betreffenden Personen auf ihrer Wanderschaft Straftaten verüben.
- Wer sich nicht ausweisen kann, wird den Behörden übergeben.
Am Ende der Verlautbarung wird die Wirksamkeit dieser Maßnahmen betont: Seit die Bewegungen vagabundierender »Zigeuner« eingeschränkt und überwacht seien, hätten sich Volksgesundheit und öffentliche Sicherheit deutlich verbessert.
Um in der »Zigeunerfrage« einen vollständigen Erfolg zu erzielen, sollten derartige Regelungen daher im ganzen Land eingeführt werden. Wenige Jahre später, 1928, wurden parallel zur deutschen Gesetzgebung Polizeirazzien gegen Roma rechtlich verankert. Fortan konnten lokale Behörden mit dem Segen des Gesetzgebers den Roma das Leben schwer machen.
Die Razzien wurden als notwendige Präventivmaßnahme gegen eine angeblich und unterschiedslos für die Gesellschaft bedrohliche Gruppe dargestellt. Dies kam einer erweiterten Definition der »reisenden Roma« gleich: Nun waren sie nicht mehr bloß die, die keine offizielle Bescheinigung über ihren Wohnort vorweisen konnten, sondern auch die, die als Landstreicher_innen und arbeitsscheu galten – Beschäftigungslose und Saisonarbeiter_innen ebenso wie solche, die berufsmäßig auf Reisen waren (zum Beispiel fahrende Kunsthandwerker_innen). Die Razzien – ab Anfang 1929 zweimal jährlich durchgeführt – hatten zum Ziel, jeden einzelnen reisenden Roma aufzugreifen, die Grenzen für neuankommende Roma zu schließen und Hygiene- sowie Strafmaßnahmen umzusetzen. Darüber hinaus führte jedes Komitat, der vorherrschenden feindseligen Haltung gegenüber den Roma entsprechend, noch eigene lokale Zwangsregelungen gegen sie ein.
Im Jahr 1942 schlug ein Gesetzentwurf mit dem Titel »Zur Regulierung des Zigeunerlebens, ansässig in Esztergom« vor, die Roma zu disziplinieren und sie zu bescheidenen, anständigen, zivilisierten, arbeitsamen Bürger_innen zu machen. Mit Roma war dabei jede Person von Roma-Abkunft gemeint (also ohne Unterscheidung zwischen reisenden und sesshaften Roma) sowie alle, die mit ihnen zusammenlebten. Die Folge der neuen Regelungen waren nicht nur regelmäßige Razzien, sondern auch erzwungene medizinische Untersuchungen und Zwangsarbeit. 1944 trat der Gesetzentwurf in Kraft. Es wurden Internierungslager für Roma eingerichtet, und ab Frühjahr 1944 wurden die ungarischen Roma deportiert.
Ehe im Oktober 1944 das Szálasi-Regime die Macht übernahm, galten die Roma von den Standpunkten der öffentlichen Sicherheit, Hygiene und Moral als für die Gesellschaft gefährliche Elemente. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die Razzien, die organisiert wurden, um sie zur Sesshaftigkeit zu zwingen oder sie zu eliminieren.
Ende 1934 zeichnete der Bürgermeister von Szolnok einen Beschluss, dem zufolge Jánosné Kulcsár (Witwe), István Nagyhajú und József Nagyhajú der Stadt verwiesen wurden und zuvor selbst ihre Häuser niederreißen mussten. Laut der Anordnung waren die Häuser ohne behördliche Genehmigung gebaut worden und ungeeignet, von Menschen bewohnt zu werden.
István und József Nagyhajú legten am 6. Dezember 1934 Widerspruch gegen den Beschluss ein. Sie verwiesen auf die Notwendigkeit, bis zum Frühling in ihren Häusern zu bleiben, und ersuchten die Behörden, die Evakuierung aufzuschieben: