Vor 1938 belief sich die Zahl der Roma und Sinti in Österreich auf etwa 12.000. Davon lebten etwa 9.000 im Burgenland – dem östlichsten Bundesland – in mehr als 140 gesonderten Roma-Siedlungen. Während der Sommermonate verdingten sie sich als Landarbeiter_innen, im Herbst und Winter verdienten sie ihr Geld als fahrende Kunsthandwerker_innen oder Musiker_innen. Weitere 3.000 Roma und Sinti lebten in der Hauptstadt Wien und in den acht anderen Bundesländern Österreichs. Die meisten von ihnen waren Sinti-Familien, die ihren Lebensunterhalt im Sommer als ambulante Handeltreibende verdienten. Die Winter verbrachten sie für gewöhnlich an einem festen Ort.
Österreich
Auswirkungen der Wirtschaftskrise
Der Großteil der österreichischen Sinti und Roma wurde von der Wirtschaftskrise der späten 1920er und frühen 1930er Jahre hart getroffen. Reisende Gruppen der Sinti und Lovara hatten mit Ausschlüssen von Dorf- und Landmärkten zu kämpfen. Ortsfeste Roma im Burgenland wurden in ihren Heimatstädten und -dörfern von entlassenen Arbeiter_innen, die nun in großer Zahl aus den Zentren zurückkehrten, vom lokalen Arbeitsmarkt gedrängt. Da kein nationales Sozialhilfesystem existierte, waren verarmte Roma ausschließlich von der örtlichen Wohlfahrt abhängig. Bereits 1933 organisierten die Bürgermeister des Burgenlands eine Konferenz, um die sogenannte »Roma-Frage« zu diskutieren – und wie man die Roma loswerden könne.
Die Rassengesetze von 1938
Wie in vielen anderen europäischen Ländern hatte die österreichische Polizei damit begonnen, Roma und Sinti gesondert zu registrieren. Nach 1938 dienten die entsprechenden Akten als Grundlage für die Deportation in die Konzentrationslager. Besonders im Burgenland machte die illegale nationalsozialistische Partei mit dem Schlachtruf »Burgenland zigeunerfrei!« schon weit vor 1938 entsprechend Stimmung.
Bald nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich im Jahr 1938 traten Rassengesetze in Kraft. Roma und Sinti waren unter den ersten Volksgruppen, denen die Bürgerrechte entzogen wurden. Ihnen war es von nun an verboten, die Stadtzentren aufzusuchen, und sie durften weder die Schule besuchen noch an Wahlen teilnehmen. Überall im Land wurden zudem mehrere Hundert Sinti und Roma umgehend in lokale Arbeitslager deportiert.
Das größte »Zigeunerlager« im Reich
Die ersten Deportationen erfolgten 1939. Etwa 2.000 österreichische Roma wurden nach Dachau, Buchenwald, Ravensbrück und bald auch in das neue österreichische Konzentrationslager Mauthausen deportiert. Die Deportationen hatten jedoch nicht den gewünschten Effekt, da Tausende ältere Roma ebenso wie Frauen und Kinder zurückgelassen wurden. Deren Verbleib fiel nun in die Zuständigkeit der lokalen Behörden. Infolgedessen waren es die regionalen Wohlfahrtsbehörden, die 1940 die Einrichtung großer Internierungslager anregten. Im Herbst 1940 ordnete das Innenministerium an, die österreichischen Roma in mehreren bewachten Lagern zu konzentrieren. Das Lager Lackenbach im Burgenland war bald das größte »Zigeunerlager« des Reichs. Insgesamt waren dort mehr als 4.000 Gefangene untergebracht.
Massenmord in Kulmhof und Auschwitz
Im Winter 1941 waren es erneut die regionalen Wohlfahrtsbehörden, die auf weitere Massendeportationen österreichischer Roma drängten und diese auch organisierten und finanzierten. Die Deportationen begannen Anfang November, als 5.007 Roma gemeinsam mit 5.000 Juden ins Ghetto Litzmannstadt (Lodz) im besetzten Polen verschleppt wurden. Sechzig Prozent der Deportierten waren Kinder unter zwölf Jahren. Innerhalb weniger Tage brach im »Zigeunerlager« des Ghettos Litzmannstadt Typhus aus. Während der ersten sechs Wochen starben 630 Personen. Die übrigen Roma wurden im Dezember 1941 und Anfang Januar 1942 in das nahegelegene Vernichtungslager Kulmhof gebracht und dort in Gaswagen ermordet. Niemand aus dieser Gruppe überlebte.
Die zweite Welle der Deportationen begann nach dem sogenannten »Auschwitz-Erlass« vom Dezember 1942. Zu Beginn des Jahres 1943 wurden etwa 5.000 österreichische Roma und Sinti nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo die meisten von ihnen starben. Insgesamt überlebten nur zwischen 1.000 und 1.200 österreichische Roma und Sinti – einige in den Konzentrationslagern, einige als Flüchtlinge in benachbarten Staaten wie Ungarn, einige im Versteck.
Missachtung der Aussagen von Roma
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden österreichische Sinti und Roma zunächst nicht als Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung anerkannt. Über Jahrzehnte wurde die Zeit der Gefangenschaft und der Zwangsarbeit im Lager Lackenbach ignoriert. Nur einige wenige nationalsozialistische Kommandanten sowie Kapos (Gefangene, die gezwungen wurden, die anderen Lagerinsass_innen zu überwachen) aus Lackenbach und anderen Roma-Lagern wurden überhaupt gerichtlich belangt – und am Ende mit wenigen Ausnahmen ungeachtet der Zeugenaussagen von Überlebenden freigesprochen. Erst 1984 wurde dem Leid der österreichischen Roma und Sinti die gleiche rechtliche Behandlung wie bei anderen Opfergruppen zuteil.
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