Der Völkermord an dem europäischen Judentum ist durch Hunderte von Selbstzeugnissen aus der Zeit der Verfolgung in Form von Briefen oder Tagebüchern dokumentiert. Besonders populär sind bis heute die millionenfach verbreiteten Tagebücher von Anne Frank (1929–1945), die im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde. Erst durch solche persönlichen Schilderungen ist dieses Menschheitsverbrechen in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gedrungen. Einen vergleichbaren Quellenkorpus gibt es für den Völkermord an den Sinti und Roma in Europa nicht, weder von der Art noch vom Umfang her. Doch es gibt Zeugnisse von Angehörigen der Minderheit, in denen mit eigener Stimme über die erlittene Verfolgung berichtet wird.
Mit eigener Stimme
Gegenerzählung
Diese Zeugnisse sind umso bedeutender, als sie eine Gegenerzählung zu dem von den Täter_innen konstruierten Bild darstellen. In der historischen Darstellung der NS-Verfolgung haben über viele Jahrzehnte die einseitigen und diffamierenden Täterquellen dominiert. Sie sind in Archiven oder Bibliotheken zahlreich vorhanden und für Forschende leicht zugänglich. Auf ihnen basieren Publikationen, die wiederum die Grundlage für weitere Veröffentlichungen darstellen – und die Stigmatisierung von Sinti und Roma weiter fortschreiben. Täterquellen geben darüber hinaus in der Regel keine Auskunft über die tatsächlichen Motive oder die Praxis der Verfolgung. Selbstzeugnisse von Betroffenen sind nicht nur ein Korrektiv der Täterperspektive, sondern sie erlauben auch neue Erkenntnisse über den Prozess der Verfolgung.
Frühe Zeugnisse
»Voices of the Victims« zeigt, dass es weitaus mehr frühe Selbstzeugnisse von Sinti und Roma gibt, als bislang bekannt ist. Mit intensiven Recherchen in Archiven oder bei Privatpersonen können solche Quellen aufgespürt und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Quellen aus der Zeit der Verfolgung finden sich zum Teil in Behördenschriftgut, etwa wenn Betroffene Eingaben machen und dabei ihre Lebensumstände schildern. Briefzeugnisse aus Lagern sind eher in Privatbesitz aufzufinden, manchmal aber auch in Täterquellen, wenn die Briefe beschlagnahmt worden sind. Relativ zahlreich sind Quellen, die in dem ersten Nachkriegsjahrzehnt entstanden sind. Dabei handelt es sich um Schilderungen für Opferverbände, Anträge auf Entschädigung, um Aussagen vor Kommissionen, deren Absicht es ist, die Verbrechen während der Besatzungszeit zu dokumentieren, um Strafanzeigen, die gegen Täter_innen gestellt worden sind, sowie um Zeugenaussagen im Rahmen von staatsanwaltlichen Ermittlungen oder vor Gericht.
Biografische Quellen
Seit den 1960er Jahren traten biografische Erzählungen, die eine individuelle Lebensgeschichte in den Mittelpunkt rücken, stärker in den Vordergrund. Es entstanden Autobiografien, in denen auch die Zeit der NS-Verfolgung eine Rolle spielt. Oft war diese Verfolgungserfahrung der Anlass, um sich zu Wort zu melden. Mit dem Erstarken der Bürgerrechtsbewegungen wurde ein größeres Interesse an solchen Lebensgeschichten geweckt, und in den 1980er Jahren stieg die Anzahl von Biografien an, die oft auf Interviews mit Überlebenden basierten. Erste Tondokumente entstanden in den 1960er Jahren; zu nennen ist vor allem die einzigartige Sammlung Heinschink in Wien. Seit den späten 1980er Jahren begann eine »Ära der Zeitzeug_innen« und das Interesse an audiovisuellen Dokumentationen auch mit Zeugnissen von Sinti und Roma wuchs an. Besonders umfangreich ist die Sammlung der von dem Regisseur Steven Spielberg ins Leben gerufenen Stiftung Survivors of the Shoah Visual History Foundation. Sie enthält 407 Videointerviews mit Roma-Überlebenden aus 18 Ländern, die zwischen 1995 und 1999 entstanden sind.
Die Überlieferung sichern
Daneben befinden sich in Archiven von Gedenkstätten oder Museen Zeugnisse von Überlebenden. Zu nennen ist zum Beispiel das Museum für Roma-Kultur (Brno, Tschechische Republik), das seit den 1990er Jahren Interviews gesammelt hat. Auch Roma-Selbstorganisationen haben weltweit Berichte von und Interviews mit Überlebenden gesammelt. Diese in die Hunderte gehenden Berichte und Interviews sind jedoch kaum sichtbar. Ein Portal, in dem derartige Zeugnisse zugänglich gemacht werden, existiert nicht. Es fehlt eine Institution, die sich – vergleichbar mit dem United States Holocaust Memorial Museum (Washington, USA) oder mit Yad Vashem (Jerusalem, Israel) − die dauerhafte Sicherung der Überlieferung von Überlebenden der Sinti und Roma in Europa zur Aufgabe macht.
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